
Die Tibeterin Chemi Lhamo wuchs in Indien und Kanada auf und wurde bekannt durch ihre Proteste bei der Fackelzeremonie für die Olympischen Spiele 2022 in China. Die Folgen ihres Engagements waren dramatisch.
VON ANJA OECK
Brennpunkt Tibet: Erzählen Sie uns zunächst kurz etwas über Ihr Leben und wie es zu dem kam, was Sie jetzt tun.
Chemi Lhamo: Als staatenloser Flüchtling, in Mysore geboren und in Tamil Nadu, Südindien, zur Schule gegangen, wusste ich von klein auf, dass ich nirgendwo hingehörte. Im Alter von elf Jahren zog ich nach Parkdale, Kanada, um eine bessere Zukunft zu haben, und ließ meine große Familie zurück. Erfahrungen mit Vertreibung und transnationalen Familien sind Tibetern definitiv nicht fremd. Um über die Runden zu kommen, während ich zur Schule ging, musste ich mehrere Teilzeitjobs annehmen, vom Tische abwischen, im Einzelhandel arbeiten, Kaffee servieren bis hin zu einem lizenzierten Sicherheitsdienst – das war einfach Teil meines Lebens. Gegenwärtig bin ich der Community Health Lead bei Parkdale People‘s Economy. Ich habe mein Grundstudium an der Universität von Toronto mit einem Doppelabschluss in Neurowissenschaften und Psychologie beendet.
Wie haben Sie die Olympischen Winterspiele 2022 in China erlebt, und welche Auswirkungen hatten diese Spiele auf die Tibeter in ihrer Heimat während und nach den Spielen?
Im Rahmen unserer #NoBeijing und #iwillnotwatch-Kampagne habe ich mir die Spiele nicht angesehen, wie viele Zuschauer auf der ganzen Welt, was zu einer rekordverdächtig niedrigen Einschaltquote für die Sender geführt hat.
Die Spiele 2008 hatten schreckliche Auswirkungen auf Tibet. Deshalb haben wir so hart daran gearbeitet, diese Kampagne für die Olympischen Spiele 2022 zu entwickeln, weil wir uns der Auswirkungen auf die betroffenen Gemeinschaften bewusst waren. Seit den Sommerspielen 2008 ist Tibet in den Medien von der Bildfläche verschwunden und ist jetzt ein schwarzes Loch. Im Dokumentarfilm „Leaving fear behind“ von Dhondup Wangchen können wir sehen, wie Einheimische während der Spiele neben all der systemischen Probleme über die diskriminierenden Erfahrungen sprechen, denen sie vor Ort ausgesetzt sind. China hat Tibet absichtlich dermaßen abgeschottet, dass Tibet in der angesehensten Rangliste zur Freiheit an letzter Stelle in der Welt steht, gleichauf mit Syrien und sogar weniger frei als Nordkorea.
Die große Mehrheit der Tibeter kann nicht ausreisen. Die internationale Gemeinschaft – einschließlich Journalisten, Regierungsbeamte, Hilfsorganisationen und unabhängige Beobachter – kann nicht einreisen. Und die Übermittlung von Informationen per Telefon oder WeChat kann sogar noch gefährlicher sein – und eine härtere Gefängnisstrafe nach sich ziehen – als die Teilnahme an Protesten.
Tatsache ist: Bis 2008 sind jedes Jahr Tausende Tibeter geflohen [durchschnittlich 2.200 pro Jahr – Bericht von Human Rights Watch]. Im Jahr 2019 haben es nur 18 geschafft.

Sie sind durch den olympischen Protest bei der Fackelzeremonie weltweit bekannt geworden. Wie kam es zu dieser Aktion, warum haben Sie sich für diese Art des Protestes entschieden, und welche Auswirkungen hat er heute noch?
Nach monatelangen Bemühungen und Versuchen, das IOC an die gebrochenen Versprechen von 2008 und die brutale Menschenrechtsbilanz der KPCh zu erinnern, sollten die Spiele dennoch abgehalten werden. Also gingen Jason Fern und ich, wohl wissend um die rechtlichen Konsequenzen, mit den „Students for a Free Tibet“ und „Free Tibet“ hin, hielten ein Banner mit der Aufschrift ‚Keine Völkermordspiele‘ hoch, um der ganzen Welt, die die Fackelzeremonie verfolgte, eine Botschaft zu senden. Heute müssen wir uns vor Gericht verantworten, weil wir versucht hätten, ein historisches Denkmal zu beschmutzen, zu beschädigen und zu verunstalten, ein Vorwurf, der nach griechischem Recht mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Das alles nur, weil wir ein Transparent hochgehalten und eine Frage gestellt haben. Die wirkliche Zerstörung historischer Denkmäler findet jeden Tag überall in Tibet und Ostturkestan statt. Erst vor wenigen Wochen wurden in Drago, Tibet, eine 30 Meter hohe Buddha-Statue, 45 Gebetsmühlen und sogar eine Klosterschule von der chinesischen Regierung gewaltsam zerstört. Schüler wurden von der Schule verwiesen, Gemeindemitglieder wurden verhaftet und gefoltert, nur weil sie Informationen weitergegeben hatten. Dies ist das eigentliche Verbrechen, und dennoch schweigt die Welt. Was also sind meine Hoffnungen? Ich hoffe, dass die Welt auf die Ungerechtigkeiten, die geschehen, aufmerksam wird und sich aktiv dafür entscheidet, sie zu bekämpfen. Denn wenn wir nicht Teil der Lösung sind, sind wir Teil des Problems.
In der weltweit koordinierten Kampagne „No Beijing 2022“ kämpften Tibeter, Uiguren und Hongkonger gemeinsam gegen die chinesische Propaganda. Wie bewerten Sie diesen Zusammenschluss von Gruppen?
„Wie kann es Peking erlaubt sein, Spiele auszurichten, wenn es einen Völkermord an den Uiguren begeht?“ Als Tibeterin hatte ich nicht beabsichtigt, das zu sagen, aber genau das kam schließlich heraus. Ich hatte aber das Privileg, nicaraguanische, tamilische, nepalesische und indigene Organisatoren zu treffen. Wirklich, diese Stimme kam von einem Ort, an dem sich die Meinungen aller unterdrückten Menschen der Welt gegenseitig verstärkt hatten. Da die chinesische Regierung ihre brutale Politik mit ihrer expansionistischen Agenda fortsetzt, glaube ich, dass es weiterhin mehr Möglichkeiten für Koalitionen mit betroffenen Gemeinschaften geben wird. Diese Olympia-Kampagne ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Uiguren, Hongkonger und Tibeter zusammenarbeiten.

In den letzten Wochen wurden drei Fälle von Selbstverbrennung in Tibet gemeldet, darunter auch Tsewang Norbu, ein Musiker in Ihrem Alter. Wie stehen Sie zu dieser Form des Protests gegen die anscheinend unerträglichen Zustände in Tibet?
Es bricht mir, wie auch dem Rest unserer Gemeinschaft, jedes Mal das Herz, wenn eine Selbstverbrennung geschieht. Tsewang Norbu ist jemand, der es in der westlichen Vorstellung von Erfolg „geschafft“ hat, er hatte wirklich alles, was man sich an Namen, Ruhm, Geld und Familie vorstellen kann, und dennoch griff er zu dieser Form des Protestes, um die internationale Welt an die schreckliche Situation in Tibet zu erinnern. Für mich war es ein Weckruf, die Freiheit und die Möglichkeiten, die ich habe, zu nutzen, um mein eigenes Wissen über meine Sprache, Kultur, Tradition und Geschichte zu erweitern und mich wirklich dafür einzusetzen, den Stimmen in Tibet Gehör zu verschaffen.
Seit 2009 haben sich 160 Tibeterinnen und Tibeter selbst verbrannt. Was erwarten Sie von der Weltgemeinschaft, wie sollte sie reagieren, und wie kann man den Tibetern in Tibet am besten helfen?
Zuallererst muss die Welt erkennen, dass dies nicht nur ein tibetisches Problem ist, sondern ein Problem der Menschenrechte, ein Problem der Klimagerechtigkeit und ein Problem, das auch Sie und Ihre Umwelt betrifft. Nehmen Sie die Bedeutung Tibets in der Welt zur Kenntnis, angefangen mit unserer geografischen Lage bis hin zu den wissenschaftlichen Beiträgen in der Welt der Achtsamkeit – das Gedeihen der Tibeter ist für die ganze Welt wichtig. Das Hochland von Tibet liefert Wasser für fast 1,5 Milliarden Menschen. Die chinesische Regierung hat dort mehr Dämme gebaut, als man sich vorstellen kann, um das Wasser umzuleiten, was zu Dürren und Überschwemmungen in den flussabwärts gelegenen Ländern führt. Es liegt im Interesse aller globalen Partner, die Agenda der chinesischen Regierung zu begreifen.
Wie beurteilen Sie den gewaltlosen Widerstand in einer Zeit wie dieser, in der wir in der Ukraine jeden Tag Krieg und Gewalt sehen?
Gewaltloser Widerstand ist unsere Antwort, weil wir als Volk die Entscheidung getroffen haben, den langen, harten Kampf der Wahrheit und der Gewaltlosigkeit zu führen. Wenn die Option, Krieg und Gewalt zu folgen, möglich wäre und wir die gleiche Unterstützung bekämen, wie sie die Ukraine derzeit erhält, sowohl in Bezug auf die Aufmerksamkeit der Medien als auch auf die Unterstützung durch internationale Regierungen, dann wäre das etwas anderes. Aber wir haben vorher nicht so gehandelt und werden das auch jetzt nicht tun. Daher ist es im Interesse der Tibeter, an unserer derzeitigen Bewegung festzuhalten und andere Wege zu finden, um unser Ziel zu erreichen, nämlich das Recht auf Selbstbestimmung für unser Volk.
Wie kann die westliche Welt Ihrer Meinung nach umgehen mit der globalen Dominanz der chinesischen Regierung – manchmal mit milden, aber öfters nicht so sanften Methoden – über Länder, Gemeinschaften, Parteien und sogar einflussreiche Einzelpersonen?
Sanktionen wirken. Die Personen, die hinter den Konzentrationslagern, den kolonialen staatlichen Internaten und den Behörden stehen, die unsere heiligen Länder terrorisiert haben, sollten alle namentlich genannt und auf eine Liste gesetzt werden, um für die Verletzung internationaler Gesetze bestraft zu werden.
Boykotte. Wir haben gesehen, wie die diplomatischen Boykotte während der Olympischen Spiele gewirkt haben. In ähnlicher Weise wollen wir den Boykott von Waren aus Sklavenarbeit sehen.
Sanktionen wirken. Die Personen, die hinter den Konzentrationslagern und den kolonialen staatlichen Internaten stecken, sollten auf eine Liste gesetzt werden, um für die Verletzung internationaler Gesetze bestraft zu werden.
Eine Rechtsordnung wie der gegenseitige Zugang zu Tibet: Wenn Tibeter amerikanischer oder anderer Nationalitäten nicht nach Tibet einreisen können, sollten die Beamten, die uns ohne besondere Gründe ein Visum verweigern, genauso behandelt werden. Das ist Diplomatie und sollte, wie allgemein üblich, auf Gegenseitigkeit beruhen. Die Welt darf nicht in die Fallen des Chinas von 2008 tappen, das versprochen hatte, die Dinge besser zu machen, sie aber nur brutal verschlimmert hat.
Zuhören. Betroffene Gemeinschaften zu vertreten, ist der Schlüssel.
Als Vorsitzende der Studentenvereinigung Scarborough Campus Students‘ Union der Universität Toronto haben Sie die Macht chinesischer Hassattacken persönlich erlebt. Können Sie kurz erklären, was im Jahr 2019 passiert ist? Wie sind Sie damit umgegangen, und wie haben Sie Ihre Arbeit als Interessenvertretung für 14.000 Studenten fortgesetzt?
Als ich an der University of Toronto für die Scarborough Campus Students‘ Union kandidierte, war ich 2019 Ziel des Zorns, der wahrscheinlich von der Kommunistischen Partei Chinas ausging. Noch bevor die Ergebnisse vorlagen, wurde mein Telefon mit Nachrichten überschwemmt, ich erhielt über 10.000 Kommentare zu meinen Beiträgen in den sozialen Medien. Schließlich eine Online-Petition gegen mich: Ich hätte nur aufgrund meiner tibetischen Identität kandidiert, nicht wegen meiner Arbeitsmoral oder meiner Fähigkeiten, nur weil ich eine Tibeterin bin, die sich nach ihrer Heimat sehnte und sich für den Aufbau ihrer Gemeinschaft einsetzte.
Die Kommentare waren harsch. Sie enthielten Vergewaltigungs- und Todesdrohungen, die nicht nur gegen mich, sondern auch gegen meine Familie gerichtet waren. Kommentare wie „Die Kugel, die dich durchbohren wird, wird in China hergestellt“ oder „Wenn ich dich sehe, werde ich dich schlagen“. Ich erinnere mich, dass ich meine Mutter anrufen musste, um nach ihr zu sehen, ohne sie zu erschrecken.

Ich bin auf jeden Fall als Präsidentin im Amt geblieben, um wie versprochen die 14.000 Studenten zu vertreten und für eine erreichbare und bezahlbare Bildung zu kämpfen. Ich glaube wirklich, dass ich all diese Turbulenzen nur dank meiner Gemeinschaft überstanden habe. Bewusste Menschen der gesamten Welt haben sich bei mir gemeldet, sogar aus Tibet! Trotz der Risiken, die mit solch ermutigenden Worten verbunden sind. Dadurch wurde mir sehr früh klar, dass dieser Krieg nicht gegen mich als Chemi, sondern gegen meine tibetische Identität geführt wird. Das hat mich nur noch mehr angespornt, mich für unsere Bewegung einzusetzen.
Wie sehen Sie als junge Tibeterin im Exil die tibetische Widerstandsbewegung? Worauf sollte die jüngere Generation ganz besonders achten?
Wir müssen unsere Narrative und Geschichten kennen, denn wenn wir uns nicht erinnern und unsere Geschichten zurückfordern, wer dann? Unsere Widerstandsbewegung ist lebendig und gut, dank unseres furchtlosen Führers, S. H. des 14. Dalai Lama, und der harten Arbeit früherer Generationen, die Institutionen für uns aufgebaut haben, damit wir überleben können. Die jüngeren Generationen sollten sich nun darauf konzentrieren, wie wir als menschliche Wesen gedeihen können. Wie können wir als Weltbürger zu einer besseren Welt beitragen? Vor allem zu verstehen, welche Rolle wir als Exil-Tibeter in der Welt spielen, ist wirklich hilfreich und hilft uns letztlich, uns selbst zu verstehen.
Auf welche Weise können Tibeter die Welt und die Denkweise der Menschen in ihren Exilgemeinden beeinflussen? Warum ist Tibet für die Welt wichtig?
Die Tibeter haben bereits die ganze Welt beeinflusst. Der Dalai Lama ist ein Leuchtturm des Friedens und ein weltbekannter Preisträger. Wir sind ein Beispiel für eine erfolgreiche Flüchtlingsgemeinschaft, unser demokratisches Verfahren zur Wahl des Sikyong (Ministerpräsidenten) ist einzigartig in der Welt. Ich könnte noch viele weitere Beispiele an Beiträgen von Tibetern für die Welt aufzählen. Tibet ist wichtig für die Welt, und es liegt in aller Interesse, sich darum zu kümmern. Wenn sie nicht handeln, werden sie bald selbst das Tibet von heute sein. Die Welt ist so vernetzt, wir sind alle nur kleine Teile eines großen Puzzles. Lasst uns in Harmonie miteinander leben und lernen, füreinander zu sorgen.
Gibt es etwas, das Sie noch nie gefragt wurden, das Sie aber schon immer öffentlich mitteilen wollten?
Ich möchte allen für ihre Fürsorge danken und jedem einzelnen, der dies heute liest, Liebe senden. Die Welt ist harsch, aber ich bin dankbar, dass es Menschen wie Sie auf dieser Welt gibt, die versuchen, zu lernen und die Welt zu einem besseren Ort für alle zu machen.
Last modified: 16. August 2022