China nimmt den Familien ihre Kinder im schulpflichtigen Alter weg, um sie nach der politisch gewünschten Weltanschauung zu indoktrinieren. Eine neue Studie zum Thema zeigt die besorgniserregenden Details der Zwangsinternate für tibetische Schüler.
VON KLEMENS LUDWIG
„Schläge waren völlig normal; der Schmerz war also konstant. Mit einem Bambusstock auf die eiskalten Hände geschlagen werden, ist wirklich das Schlimmste. Wie die Tibeter sagen: ‚Der Schmerz mag alt werden, aber man vergisst ihn nie.‘“
„Wenn ihr nicht das rückständige Leben eurer Eltern führen wollt, müsst ihr fleißig lernen. Wenn ihr nicht fleißig lernt, werdet ihr nichts als ein dummer Nomade sein.“
„Unsere Lehrer brachten uns dazu, unser Erbe, unsere Ältesten und sogar unsere Eltern zu hassen. Als Verkörperungen des Staates waren sie dazu da, uns das Gefühl zu vermitteln, dass ein gutes Leben außerhalb und nicht in unseren Gemeinschaften stattfand. Sie wollten uns dafür bestrafen, dass wir die Kinder tibetischer Nomaden waren. Wir schämten uns für unseren kulturellen Hintergrund und entwickelten selbst eine Antipathie gegen unsere soziokulturelle Welt.“
Diese Erfahrungen von Schülern und ehemaligen Schülern der Internatsschulen, die von der chinesischen Führung in den letzten 15 Jahren in Tibet großflächig errichtet wurden, beleuchten ein Thema, das viele nur in der kolonialen Vergangenheit ansiedeln. Was auf dem nordamerikanischen Kontinent vor über 100 Jahren begann, greift die VR China heute auf. Der Staat nimmt den Eltern die Kinder im schulpflichtigen Alter weg, um sie nach der eigenen Weltanschauung zu indoktrinieren. „Töte den Indianer, erhalte den Menschen“ hieß es damals.
Die Geschichte der Assimilierungspolitik
Die Bemühungen der chinesischen Führung, die Menschen in Tibet kulturell zu assimilieren und politisch im Sinne der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) zu indoktrinieren, sind so alt wie die Besetzung Tibets. Das 17-Punkte-Abkommen, mit dem eine nicht-autorisierte tibetische Delegation im Mai 1951 auf die staatliche Souveränität verzichtete, enthielt immerhin weitreichende Autonomiebestimmungen, gerade im Bereich Erziehung und Religion. Mehr denn je verstößt die KPCh gegen das Abkommen, das sie gern zitiert, um ihren Anspruch auf Tibet zu legitimieren. Solange eine tibetische Guerillaarmee den Invasoren Widerstand leistete, waren die Voraussetzungen für eine breit angelegte Assimilierungspolitik nicht gegeben – auch dies Parallelen zur Entwicklung in Nordamerika. Zu Beginn der 1960er-Jahre wurde die tibetische Guerillaarmee nach Mustang im Norden von Nepal verdrängt, zu Beginn der 1970er-Jahre legte sie die Waffen nieder.
Nach dem Ende der Kulturrevolution und der Entmachtung von Maos radikalen Nachfolgern 1976 entspannte sich die Situation auch in Tibet ein wenig. Vor allem der KPCh-Generalsekretär Hu Yaobang äußerte sich immer wieder respektvoll gegenüber der tibetischen Kultur. Er wurde 1987 entmachtet, und sein Tod am 15. April 1989 führte zu den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. In den 1980er-Jahren gab es einen regen Austausch zwischen den Tibetern in Tibet und denen im Exil. Viele exilierte Tibeter konnten ihre alte Heimat zum ersten Mal wieder besuchen, und manche siedelten sogar wieder dorthin zurück; das Heimweh war größer als die Angst vor politischer Repression. Aus den Kontakten entstanden zahlreiche Initiativen für die Ausbildung in der tibetischen Tradition.
Exil-Tibeter gründeten Waisenhäuser und Schulen, in denen Jungen und Mädchen eine Perspektive in der eigenen Kultur vermittelt wurde. Seit Ende der 90er-Jahre gerieten diese Projekte immer mehr unter Druck. Die KPCh fürchtete um ihr Bildungsmonopol und zwang immer mehr dieser selbstverwalteten Schulen, sich dem staatlichen Bildungsplan zu unterwerfen, bis sie ganz aufgelöst wurden. Allein in abgelegenen Gebieten existiert noch das eine oder andere Projekt dieser Art, weil es die Initiatoren durch kluge Diplomatie geschafft haben, das Vertrauen der lokalen Behörden zu gewinnen. Auch die sehr populären Klosterschulen gerieten immer mehr unter staatlichen Druck. Insgesamt war das Bildungssystem in Tibet nach dem Ende der Kulturrevolution eher dezentral organisiert, und es zeigte eine gewisse Achtung vor der tibetischen Tradition. Vor allem durch die Initiative des 1989 verstorbenen 10. Panchen Lama wurde die tibetische Sprache von der Grundschule bis zur Universität angeboten.
Verschärfte Kontrolle
Nach der Jahrhundertwende verschärfte sich die Situation weiter. Etwa ab 2006, also noch zwei Jahre vor dem großen Volksaufstand, begann die chinesische Führung mit der Errichtung eines groß angelegten Internatssystems, das vor allem die Nomadengebiete erfassen sollte. Zu Beginn der chinesischen Besetzung stellten die Nomaden weit über die Hälfte der Bevölkerung, und sie waren so etwas wie das Rückgrat der Gesellschaft. Kein Zentralstaat der Welt mag die nomadische Lebensweise, denn sie entzieht sich staatlicher Kontrolle und respektiert zumeist auch keine Grenzen. Die Zerstörung der Nomadenkultur in Tibet zählt schon lange zu den wichtigen Zielen der KPCh. Dabei sind die großflächig angelegten Internatsstrukturen neben der Parzellierung der Weideflächen und der Zwangsansiedlung ein wichtiges Element.
Mit der Machtübernahme von Xi Jinping als Generalsekretär der KPCh 2012 sowie als Staatspräsident 2013 verschärfte sich der Druck auf alles Tibetische weiter. Dabei hatten die Tibeter zunächst einige Hoffnung auf ihn gesetzt. Sein Vater, ein Kommunist der ersten Stunde, gehörte in den 1950er-Jahren zur liberalen Fraktion und war mehrfach mit dem Dalai Lama bei dessen China-Besuch 1954/55 zusammengetroffen. Die ganze Familie wurde Opfer der Kulturrevolution. Xi Jinping zog aus seinen traumatischen Erfahrungen als Jugendlicher allerdings nicht die Konsequenz, mehr Liberalität zuzulassen, sondern im Gegenteil die totale Kontrolle auszuüben. So hat die Repression nicht nur in Tibet in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen. Das System der kolonialen Internate geht, wie erwähnt, nicht auf Xi Jinping zurück, aber es wurde unter seiner Herrschaft noch einmal erheblich ausgeweitet, und die dort herrschenden Bedingungen wurden verschärft. Das belegen zwei aktuelle Berichte. Im Dezember 2021 hat das Tibet Action Institute eine Dokumentation mit dem Titel „Separated from their Families, hidden from the World“ (Getrennt von ihren Familien, verborgen vor der Welt) veröffentlicht. Dieser Tage erschien vom Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD) der Report „Sucked our Marrow. Tibetan Language and Education Rights under Xi Jinping“ (Unser Mark ausgesaugt. Die tibetische Sprache und Erziehungsrechte unter Xi Jinping). Demnach werden etwa 800.000 tibetische Kinder im Alter von 6 bis 18 Jahren dazu gezwungen, in staatlichen Internaten zu leben. Das sind etwa 78 Prozent aller tibetischen Schülerinnen und Schüler. Dem Institut zufolge zielt die Assimilationskampagne darauf ab, „Bedrohungen für die Kontrolle der KPCh durch die Beseitigung ethnischer Unterschiede zu begegnen”.
Die Zwangsinternate bedeuten auch eine Abkehr vom Prinzip der regionalen Ausbildung. Diese Einrichtungen werden an zentralen Stellen Tibets angesiedelt, um einen möglichst großen Einzugsbereich zu haben. Somit finden sich dort teilweise tausende Kinder zusammen, was die Kontrolle durch die Behörden einfacher macht als bei kleinen dezentralen Schulen. Welche Auswirkungen das hat, beleuchtet der Bericht des Tibet Action Institute an einem konkreten Beispiel aus Amdo (chin.: Qinghai), der Heimat des Dalai Lama: Der Landkreis Triga (chin.: Guide) in der Autonomen Tibetischen Präfektur Tsolho war ein Pilotprojekt für die Umstrukturierung des Schulwesens. Von 2008 bis 2011 wurden 87 Grund- und Sekundarschulen in elf Internatsschulen zusammengelegt, die sich in den Städten und Landkreisen befanden. In den meisten Dörfern gab es zuvor entweder eine Grundschule oder eine Lehrerstelle.
Die Zahl der Grund- und Sekundarschulen in der Präfektur insgesamt sank von 372 auf 66 im Jahr 2010. Eine Schule mit 2.749 tibetischen Schülern wurde zur größten in Amdo (Qinghai), wobei zunächst 18 und dann noch weitere 44 Schulen zusammengelegt wurden. In der sog. Autonomen Region und in Kham (chin.: Sichuan) scheint diese Politik erst in den letzten zehn Jahren zu greifen. Im Jahr 2014 wurde am Stadtrand von Lhasa eine „Bildungsstadt“ mit 17 Schulen eröffnet. Human Rights Watch berichtet, dass über 50.000 Menschen dort leben sollen. Selbst Schüler aus Lhasa werden dort untergebracht – obwohl sie in derselben Stadt wohnen.
Ideologischer Überbau
Ergänzt wird das System der Internatsschulen offenbar durch verstärkten Druck auf die noch existierenden tibetischen Privatschulen. Auch dort wird nun verstärkt die politische Ideologie des sogenannten „Xi-Jinping-Denkens“ gelehrt. Alle Lehrbücher werden ins Chinesische übersetzt, Lehrer und Schüler müssen „ihre Gedanken umwandeln“, Mönche dürfen nicht mehr unterrichten und Schulen keinen Unterricht mehr über den tibetischen Buddhismus anbieten. Ziel ist es, „Schüler aller ethnischen Gruppen dazu anzuleiten, … eine korrekte Sicht auf das Land, die Nation, die Religion, die Geschichte und die Kultur zu entwickeln“. Selbstverständlich bestimmt die KPCh, was korrekt ist.
Da unter Xi Jinpings Kontrollwahn nichts dem Zufall überlassen bleibt, gründete die Partei im Juli 2017 den Nationalen Schulbuchausschuss (NTC), der dem Bildungsministerium unterstellt ist. Seine Aufgabe ist es, „die Entwicklung von Schulbüchern im ganzen Land zu leiten und zu koordinieren“. Die Entwicklung, Bewertung und Auswahl von Schulbüchern orientiert sich dabei an den politischen Vorgaben. Anfang Dezember 2020 kündigte der NTC-Direktor Tian Huisheng an, alle Schulbücher der verschiedenen Stufen zu „modernisieren“ und „modifizieren“, um den Xi-Jinping-Gedanken zum Sozialismus mit chinesischen Merkmalen in der neuen Ära“ zu integrieren. Tian fügte hinzu, dass die von der NTC zusammengestellten Lehrbücher über „Moral und Rechtsstaatlichkeit, chinesische Sprache und Geschichte“ an Schulen aller Klassenstufen verteilt worden seien, um sicherzustellen, dass alle Bildungseinrichtungen im ganzen Land bis 2025 NTC-Lehrbücher verwenden, berichtet der Bericht des TCHRD. Gleichzeitig werden Initiativen von Nicht-Regierungsorganisationen zur Förderung der tibetischen Sprache und Kultur unterdrückt, und Personen, die sich für die tibetische Sprache und kulturelle Bildung einsetzen, inhaftiert und gefoltert. Private Bildungseinrichtungen, auch solche, die zuvor von der Partei genehmigt worden waren, werden geschlossen.
Um den in der Verfassung garantierten Autonomie-Prinzipien zumindest scheinbar Genüge zu tun, haben die Schüler Zugang zu einer KPCh-genehmen Version der tibetischen Kultur, die sich zumeist auf Gesang, Tanz und sonstige Folklore reduziert. Das TCHRD beschäftigt sich mit dem Widerspruch zwischen den offiziellen Autonomie-Ansprüchen und der aktuellen Politik: „Die chinesischen Gesetze und die Politik sind nicht in der Lage, das Recht auf den Gebrauch von Minderheitensprachen zu schützen, da sie Teil einer umfassenderen Strategie zur Nationenbildung sind, die darauf abzielt, eine Zhonghua-Minzu-Identität (Anm.: Zhonghua Minzu =chinesische Nation, modernes Konzept von der Dominanz des ethnisch begründeten chinesischen Nationalismus) mit einer einzigen Sprache und einer Identifikation mit dem chinesischen Nationalstaat zu schaffen. Eine kritische Analyse der einschlägigen chinesischen Rechtsvorschriften zu Bildung und Sprache zeigt, dass die chinesische Verfassung und die damit verbundenen Gesetze nicht eindeutig sind und den tibetischen Bildungs- und Sprachrechten widersprechen. Die chinesische Verfassung und andere rechtliche Garantien sind nicht in der Lage, die Rechte der Tibeter und anderer nationaler Minderheiten zu schützen. Diese Situation wird durch die Kriminalisierung friedlicher Proteste und den Mangel an innerstaatlichen Rechtsmitteln gegen staatliche Übergriffe noch verschlimmert.“
Die psycho-sozialen Folgen
Die Eingangszitate dokumentieren zum einen die internen Strukturen der Internate und zum anderen die dort vermittelten Inhalte. Offensichtlich gehört es zu den Aufgaben der Lehrkräfte, die Jungen und Mädchen für die Indoktrinierung gefügig zu machen. Auch physische Gewalt ist an der Tagesordnung. Über Jahre dürfen die Jungen und Mädchen nicht einmal während der Ferien zurück zu ihren Familien. Einsamkeit und Heimweh sind somit allgegenwärtig. Die Studie zitiert einen ehemaligen Internatsschüler mit den Worten:
„Drei Jahre lang fühlte ich mich jeden Tag unglücklich, wenn wir aufgestanden sind und zum Unterricht gingen … Mein einziger Gedanke war: Wann kann ich wieder nach Hause gehen?‘“
Die Unterrichtssprache ist zumeist Chinesisch. Nur dort, wo kleine Kinder, häufig im Vorschulalter, nur Tibetisch sprechen, wird vorübergehend auch ihre Muttersprache eingesetzt, allerdings nur, um möglichst rasch ins Chinesische übergehen zu können. Ein tibetischer Lehrer in Osttibet, wo der Widerstand gegen die Besetzung besonders stark war und bis heute die meisten Proteste stattfinden, beklagt, dass Kinder ab vier Jahren in Vorschulen leben müssen, in denen „die Lehrer nur Mandarin sprechen und den gesamten Lehrplan ausschließlich in Mandarin abhalten, einschließlich Kinderreimen und Gutenachtgeschichten“. Wenn die Kinder dann schließlich im Alter von sechs oder sieben Jahren auf die Grundschule kämen, könne kaum eines von ihnen noch Tibetisch sprechen.
Mit der Sprache werden auch politische Inhalte vermittelt. Zeugen berichten, dass die Internate auf systematischer Diskriminierung basieren. Die Art und der ausdrückliche Zweck des Unterrichts in den Schulen seien eher „koloniale Entmachtung als erzieherische Befähigung“. Die tibetische Kultur, das Nomadentum und der Buddhismus werden als rückständig und reaktionär dargestellt. Um im Leben erfolgreich zu sein, müsse die Tradition überwunden werden. Orientierung bieten dabei allein die chinesische Kultur und ihre Vorstellung von Fortschritt. Den Kindern wird beigebracht, chinesische Werte anzunehmen und auf ihre eigene Sprache und kulturellen Wurzeln herabzusehen. Wer einen lokalen Dialekt spricht und sich zu seinem Glaubenssystem bekennt, muss sich schämen, und auf ihn wird herabgeschaut. Die psycho-sozialen Folgen sind gravierend. Zunächst erleben die kleinen Kinder ein emotionales Trauma durch die frühe und erzwungene Trennung von ihren Familien und die Entfremdung von ihrer Kultur. Sie fühlen sich minderwertig und sind hilflos in ihrem Schmerz. Um in einer solchen Situation zu überleben, bleibt nur die Anpassung an die dominante Kultur, also die chinesische. Das wiederum hat aber nicht weniger traumatische Folgen, nämlich die Entfremdung von der eigenen, geliebten Familie. So sehen sich die tibetischen Internatsschüler in einer geradezu ausweglosen emotionalen Situation. Bleiben sie innerlich ihrer Familie und Tradition treu, bleiben sie Außenseiter und gehören gesellschaftlich niemals dazu. Sie werden gemobbt, gehänselt und geschlagen. Passen sie sich den chinesischen Werten an, werden sie gesellschaftlich akzeptiert, haben einen leichteren Stand in der Schule, entfremden sich aber von ihren Eltern, ihrer sonstigen Familie und ihrer Kultur.
Den meisten Eltern ist diese Problematik nur allzu bewusst, wie Zeugenaussagen aus dem Bericht des Tibet Action Institute belegen: „Nicht nur meine Familie musste eine solch schwierige Erfahrung machen, sondern auch viele andere, die ähnliche Herausforderungen zu bewältigen hatten. Für die Eltern war es vor allem eine Herausforderung, ihr Kind nicht loslassen zu können, aber für die Kinder selbst gab es eine ganze Reihe von Herausforderungen, von der Unfähigkeit, für sich selbst zu sorgen, bis hin zu den Misshandlungen und dem Mobbing durch andere und dem Leid, in einem so jungen Alter von den Eltern getrennt zu sein.“ Die langfristigen Folgen dieser Zerrissenheit sind heute noch nicht absehbar. In der Vergangenheit gelang es den Tibetern, den massiven chinesischen Assimilierungsversuchen durch inneren Widerstand und das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu widerstehen. Unterstützt wurde dieser innere Widerstand dadurch, dass sich die soziale und ökonomische Situation der Menschen zunächst nicht grundlegend gewandelt hat. Vom Ende der Kulturrevolution 1976 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts blieben die nomadischen Gemeinschaften relativ unbehelligt. Politische Kampagnen, die vor allem darauf abzielten, den Dalai Lama zu diskreditieren, gab es auch schon nach den großen Protesten von 1987 und 1989. Sie perlten jedoch an den Nomaden, wie auch am Großteil der sonstigen tibetischen Gesellschaft, vollkommen ab.
Die Assimilierungspolitik wird als Fortschritt verkauft und als Chance für die Menschen in Tibet, an der globalen Entwicklung teilzunehmen. Die wirtschaftliche Öffnung Chinas nach der Kulturrevolution hat inzwischen gravierende Auswirkungen auch auf Tibet. Die Urbanisierung, die im alten Tibet weniger als 10 % ausgemacht hat – falls man überhaupt von Städten sprechen konnte – hat heute Zentren mit hunderttausenden Einwohnern hervorgebracht. Die Subsistenzwirtschaft spielt kaum noch eine Rolle; wer etwas erwerben will, muss den Gesetzen der Geldwirtschaft folgen. Es ist sicher nicht zu leugnen, dass auch Tibeter gegen die Verlockungen des Konsums nicht völlig immun sind. So erscheinen die Zwangsinternate wie ein Sprungbrett zu einer erfolgreichen Karriere, bei der das Tibetische nur ein Hindernis ist. Das Chinesische steht für die Zukunft. Wer auf dem Arbeitsmarkt, vor allem im Dienstleistungssektor, nicht fließend Chinesisch spricht, hat keine Chance.
Die Rolle der Familie
Vor diesem gesellschaftlichen Wandel sehen tibetische Eltern Bildung als eine Notwendigkeit an, um ihre Kinder für das Überleben in einer sich rasch verändernden Welt zu rüsten, und so werden sie genötigt, ihre Mädchen und Jungen auf die Internate zu schicken. Allerdings bedarf es gar keiner Überzeugungsarbeit, denn die Eltern haben nicht die Möglichkeit, sich dagegen zu entscheiden. Das verdeutlicht die Dokumentation des Tibet Action Institute, in der nicht nur ehemalige Schüler und Lehrer, sondern auch Eltern zu Wort kommen:
„Mein einziger Sohn wurde im Alter von sieben Jahren auf ein staatliches Internat geschickt. Wenn ich an diesen Moment zurückdenke, schmerzt mein Herz immer noch. Es war am ersten Tag des Herbstsemesters 2006, als ich gerade nach dem Umzug ins Internat nach Hause fahren wollte, als er mit extrem traurigem Gesicht zu mir kam und Tränen über seine Wangen liefen. Er begann zu murmeln, dass er nicht bleiben wolle. Es war eine solche emotionale Qual für mich, meinen einzigen Sohn im Internat zu lassen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie unglücklich ich mich damals fühlte.“
„In der Zwischenzeit sprachen wir auch mit anderen Eltern, die sich in einer ähnlichen Notlage befanden, und versuchten, mit Regierungsbeamten zu sprechen, aber all unsere Bemühungen waren vergeblich.“
Tibetische Familien, die sich weigern, ihre Kinder in Internate zu schicken, erleben eine allmähliche Eskalation der staatlichen Zwangsmaßnahmen. Sie verlieren zunächst jedwede Form von staatlicher Unterstützung etwa in der Gesundheitsfürsorge, das Recht, eine andere Schule zu wählen oder einen Ausweis zu beantragen, der für Bankgeschäfte, Reisen auch innerhalb des Landes oder Vertragsabschlüsse notwendig ist. Ihnen werden faktisch die Bürgerrechte entzogen. Zeugen zufolge sind derartige Maßnahmen ein noch wirksameres Mittel als direkte Drohungen und Strafen, um die Menschen fügsam zu machen. Eltern, die sich trotz dieser Schikanen immer noch wehren, ihre Kinder auf die Internate zu geben, werden bedroht sowie mit Geld- und anderen Strafen belegt. Zusammengenommen schaffen diese Faktoren ein repressives Umfeld, in dem tibetischen Eltern keine andere Wahl bleibt, als ihre Kinder in Internate zu schicken.
Fazit
Die grundlegende Veränderung der tibetischen Gesellschaft, der Zuzug von Millionen chinesischer Siedler und die Anforderungen der Globalisierung, die auch vor dem chinesischen Machtbereich nicht Halt machen, sind eine explosive Mischung, die es den Menschen schwer macht, an ihren Traditionen festzuhalten. Zahlreiche chinesische Umerziehungsprogramme sind am inneren tibetischen Widerstand gescheitert, vor allem, wenn sie sehr repressiv waren wie während der Kulturrevolution. Die jetzige, äußerlich subtilere Form könnte in Kombination mit dem beschriebenen Wandel der Gesellschaft die effektivste sein.
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Klemens Ludwig arbeitet als freier Autor mit Schwerpunkt Asien. Tibet bereiste er ab 1986 mehrmals, bis ihm die chinesischen Behörden 2004 das Visum verweigerten. 1989 war er Sachverständiger bei der Bundestagsanhörung von Petra Kelly und Gert Bastian und von 1994 bis 2000 Vorsitzender der Tibet Initiative Deutschland.
Last modified: 11. März 2023