
Die chinesische Regierung will zukünftig die Wiedergeburt des Dalai Lama bestimmen. Kelsang Gyaltsen, langjähriger Sondergesandter des Dalai Lama für Europa, beschreibt die tibetische Sichtweise auf dieses sensible Thema.
VON KELSANG GYALTSEN
Wer bestimmt den zukünftigen Dalai Lama?
Wer den nächsten Dalai Lama bestimmt, ist in erster Linie eine religiöse Frage. Daher sind dafür die tibetischen religiösen Institutionen und Autoritäten zuständig. Die chinesische kommunistischen Führung insistiert, dass sie die Reinkarnation des Dalai Lama bestimmen will. Das ist pure Machtpolitik und ein weiteres Zeichen dafür, welche Respektlosigkeit und Missachtung sie den religiösen Traditionen, Normen und Werten des tibetischen Buddhismus entgegenbringt. Wir müssen es auch im Zusammenhang mit der Politik sehen, die Peking seit Jahrzehnten verfolgt: die Sinisierung der tibetischen Kultur.
Die chinesische Führung hatte bereits im Jahr 1995, als es um die Reinkarnation des zehnten Panchen Lama ging, ihren eigenen Kandidaten eingesetzt. Der Panchen Lama, den der Dalai Lama anerkannt hatte, ist seit 28 Jahren verschwunden und mit ihm seine Familie. Keiner hat den Jungen je wieder gesehen, seit er im Alter von sechs Jahren entführt wurde. Der von der chinesischen Führung eingesetzte Panchen Lama dagegen findet im tibetischen Volk keine Akzeptanz. Und das ist nicht nur die Anschauung von Tibetern. Vor einigen Jahren hat eine chinesische Professorin, die an der Parteihochschule unterrichtet hat, in einem Interview erklärt, dass die chinesische Führung mit der Entscheidung, ihren eigenen Panchen-Lama-Kandidaten einzusetzen, einen Fehler begangen hat. Diese Vorgehensweise fände im tibetischen Volk keine Akzeptanz. Das weiß also auch die chinesische kommunistische Führung, und es gilt natürlich um so mehr für die Reinkarnation des Dalai Lama. Selbst wenn sie einen tibetischen Jungen als den zukünftigen Dalai Lama bestimmen sollte, würde die Reinkarnation auch keine Anerkennung von Tibetern und Anhängern des tibetischen Buddhismus finden. Das liegt klar auf der Hand.
Wie sieht das Prozedere aus?
2011 hat S.H. der Dalai Lama eine offizielle schriftliche Stellungnahme zu den Fragen seiner Reinkarnation veröffentlicht. Darin erklärt er, dass er im Alter von etwa 90 Jahren zur Frage betreffs seiner Reinkarnation seine Entscheidung bekannt geben würde. Im Juli 2023 wird Seine Heiligkeit 88 Jahre alt. Deshalb glaube ich, dass wir in den nächsten Monaten und Jahren von ihm hören werden, was seine Reinkarnation betrifft, auch hinsichtlich der Frage, ob und wie die Linie der Dalai Lamas weitergeführt wird. Zudem hat er den Tibetern immer wieder versichert, dass er hofft, gut über 100 Jahre alt zu werden. Denn er weiß, wie wichtig sein Leben für den Dharma und für das tibetische Volk ist, das sich in so einer schwierigen Situation befindet. Daher unternimmt er alles, möglichst lange zu leben. Das tibetische Volk ist wiederholt mit der Bitte an Seine Heiligkeit herangetreten, sich wieder zu reinkarnieren, um weiterhin für das tibetische Volk da zu sein und Beistand und Zuflucht zu gewähren.
Tibeter beschäftigt die Reinkarnation des Dalai Lama
Natürlich wird in der tibetischen Gemeinschaft über das Thema der Reinkarnation gesprochen. Wenn der 14. Dalai Lama nicht mehr am Leben ist, dann ist allen Tibetern klar, dass damit große Herausforderungen verbunden sind, politisch, sozial, kulturell usw. Sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, ist ein legitimes Recht der Tibeter. Was die Fragen um den Prozess der Wiederauffindung der Inkarnation des 14. Dalai Lama betrifft, so ist dies allein seine Entscheidung.
Trennung von weltlicher und religiöser Macht
Ein Punkt ist besonders wichtig: 2011 hat Seine Heiligkeit offiziell eine historische Tradition beendet, wonach der Dalai Lama als das weltliche und religiöse Oberhaupt Tibets und des tibetischen Volkes gewirkt hat. Er hat die politische Macht in die Hände der demokratisch gewählten tibetischen Regierung im Exil gelegt. Damit beendete er eine fast 400 Jahre alte Tradition. Seitdem ist S.H. der Dalai Lama nur noch das religiöse Oberhaupt Tibets. Viele Tibeter waren gegen diese Entscheidung. Warum?
Manche sicher aus religiösen Gründen. Sie sehen im Dalai Lama als religiösem und weltlichem Oberhaupt des Volkes den Wesenskern der tibetischen Identität. Andere wollen die Personalunion, weil das tibetische Volk um das Überleben kämpft, damit Tibet als Nation, Kultur, Religion, Sprache bestehen bleibt. Sie glauben, dass sie in dieser schwierigen Situation die Führung, und zwar auch die politische, von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama brauchen. Andere Tibeter finden, dass sie mit den Veränderungen der Welt Schritt halten müssen und es notwendig und richtig ist, sich als Nation zu demokratisieren und die Verantwortung mehr an das weltliche Volk zu übertragen, statt sich auf eine einzige Institution und Person zu verlassen. Es ist offensichtlich, dass Seine Heiligkeit diese Sichtweise teilt. Er hat in den vergangenen Jahrzehnten mit viel Energie und Zielstrebigkeit auf die Demokratisierung der tibetischen Gesellschaft hingearbeitet. Ich glaube, an dieser Entscheidung wird er nichts ändern. Wenn wir mit Regentschaft die politische Führung meinen, dann ist dieses Thema meiner Ansicht nach mit der Abgabe der politischen Gewalt an eine demokratisch gewählte Führung erledigt. Natürlich kann es sein, dass Seine Heiligkeit möglicherweise auch eine oder mehrere Personen oder Institutionen bestimmt, die für die Wiederauffindung seiner Reinkarnation zuständig sind. Wenn man bei Regentschaft also an eine einzelne Person oder eine Gruppe von Personen denkt, denen diese Aufgabe anvertraut wird, dann kann es möglich sein, dass es in diesem Sinne eine Regentschaft geben wird. Wir müssen jetzt abwarten, bis Seine Heiligkeit zu den Fragen, die seine Reinkarnation betreffen, nähere Aussagen macht.
Wie verhält sich die tibetische Regierung im Exil?
Im September 2022 hat die tibetische Administration im Exil (Central Tibetan Administration, CTA) durch den Kashag (der Ministerrat) eine Sechs-Punkte-Erklärung abgegeben. Darin heißt es, dass über die Reinkarnation niemand anders als der Dalai Lama entscheidet. Gleichzeitig ist sich der Kashag bewusst, dass das Ableben des 14. Dalai Lama auch soziale und politische Konsequenzen für das ganze tibetische Volk hat. Daher liegt es natürlich auch in der Verantwortung der Administration, sich damit zu befassen. Besonders liegt es in ihrer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die legitimierten religiösen Institutionen der Tibeter ihr Recht wahrnehmen können, über den Prozess der Wiederauffindung der Reinkarnation zu entscheiden. Hier wäre es eine wichtige Aufgabe der Tibet-Unterstützergruppen, dies der Öffentlichkeit zu erklären und die tibetischen Institutionen bei der Wahrnehmung ihres Rechtes zu unterstützen.
Man muss den Leuten heute nicht erklären, dass die Kommunistische Partei Chinas eine Bedrohung für die freiheitliche Ordnung in der ganzen Welt ist.
Frühzeitig die Konsequenzen bedenken
Es gibt unter den Tibetern auch eine gewisse Zurückhaltung und Scheu, die Frage der Reinkarnation des Dalai Lama öffentlich zu diskutieren, denn man sieht das als schlechtes Omen an. Es wäre respektlos, über das Ableben des Gurus zu sprechen; es würde das Unglück quasi anziehen. Es liegt in der tibetischen Kultur, dass man über Schlechtes nicht öffentlich spricht, um es dadurch nicht heraufzubeschwören. Deshalb sehe ich in der tibetischen Gemeinschaft keine eindeutige Stimmung. Viele haben Vertrauen in Seine Heiligkeit, dass er sich zur rechten Zeit sich zu diesen Fragen äußern und das Volk anleiten wird. Deshalb sehen diese keine Notwendigkeit, jetzt über diese Fragen zu diskutieren. Meine persönliche Meinung ist: Wir sollten vorbereitet sein. Eines Tages wird der 14. Dalai Lama nicht mehr unter uns weilen. Das ist eine Tatsache, der wir uns stellen müssen. Damit geht einher, dass dieses Ereignis große Konsequenzen für das tibetische Volk bringen wird. Und deshalb: Je früher man sich damit beschäftigt, desto besser können wir auf diese neuen Probleme und Herausforderungen reagieren.
Was können die Tibet-Unterstützer tun?
Die Tibet Initiative und andere Tibet-Unterstützer haben eine große Verantwortung und Aufgabe. Erstens, weil den Menschen im Westen die Theorie von der Reinkarnation recht fremd ist. Deshalb ist es wichtig, dass die Unterstützergruppen dieses Thema im Zusammenhang mit der Reinkarnation des Dalai Lama in der Öffentlichkeit thematisieren. Zweitens ist dieses Thema ja bereits in der Öffentlichkeit angekommen. Zum Beispiel haben sich der amerikanische Kongress sowie andere Parlamente und Parlamentarier schon zu Fragen der Reinkarnation des Dalai Lama geäußert. Sie haben bekräftigt, dass nur der Dalai Lama und die religiösen Autoritäten des tibetischen Buddhismus sowie die Tibeter selbst, nicht aber die chinesische Regierung das Recht hätten, die Frage der Reinkarnation des Dalai Lama zu entscheiden. Es ist wichtig, dass solche Aussagen von noch mehr Parlamenten und Politikern gemacht werden.
Wichtig ist zu betonen, dass nur die tibetischen religiösen Institutionen und Autoritäten sowie das tibetische Volk das Recht haben, über die Reinkarnation des Dalai Lama zu bestimmen. Es geht hier um die tibetische Kultur und ihre Bedeutung für die Welt heute, denken wir zum Beispiel an die Bedeutung des Mitgefühls, die Ethik der Gewaltlosigkeit und andere Prinzipien, die in der tibetischen Kultur tief verankert sind.
Nicht nur ein kultureller Verlust
Wenn den Menschen bewusst wird, was mit Tibet verloren gehen kann, dann sind sie auch leichter dazu zu bewegen, etwas für Tibet zu tun. Und wir sprechen nicht nur von der einzigartigen Kultur, sondern auch von der bedrohten Umwelt auf dem Dach der Welt. Zwar kann Seine Heiligkeit nicht mehr reisen und auf die Probleme in Tibet aufmerksam machen, aber man könnte jüngere tibetische Gelehrte und Fachleute aus dem Exil zu Veranstaltungen einladen. Sie wären gute Botschafter der tibetischen Kultur. Etwas hat sich in der jüngsten Zeit geändert: Früher schätzten die Menschen im Westen vor allem den tibetischen Buddhismus. Seine Heiligkeit konnte hier wertvolles Wissen vermitteln. Dabei machte er auch auf die Probleme in Tibet aufmerksam.
China hat geopolitische Interessen
Für die geopolitische Situation Tibets, für seine politische Rolle allerdings hatte man sich in der Vergangenheit allerdings kaum interessiert. Jetzt aber findet im Westen ein Umdenken in Bezug auf China statt. Der Westen sieht China mehr und mehr als eine Bedrohung für die internationale Ordnung und Stabilität. Somit besteht die Möglichkeit, den politischen Aspekt der Tibet-Frage stärker zu betonen und damit auch wieder mehr Aufmerksamkeit und auch mehr Unterstützung für Tibet zu bekommen. Denn man muss den Leuten heute nicht erklären, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) jetzt nicht nur eine Bedrohung für das tibetische Volk, für die Uiguren und andere Volksgruppen ist, sondern dass diese Parteidiktatur auch eine Bedrohung für die freiheitliche Ordnung in der ganzen Welt ist.
Kelsang Gyaltsen in Tibet geboren, arbeitete zunächst als Sekretär des Dalai Lama im indischen Exil. Von 1999 bis 2016 war er sein Repräsentant im Tibet Office, Genf. Von 2002 bis 2010 führten Lodi Gyari und er als Sondergesandte Dialoge mit der chinesischen Regierung über die Autonomie für Tibet.
Last modified: 23. August 2023