Michael van Walt van Praag ist der ehemalige Anwalt des Dalai Lama. In seinen Büchern erklärt er, warum Tibet nie Teil von China war. Im Interview spricht er über seinen Lebensweg und was er von Regierungen beim Thema Tibet erwartet.
VON IRIS LEHMANN
Als Sie in Neuseeland lebten, waren Sie der Präsident der Wellington Tibetan Children Relief Society und Herausgeber des Tibetan Bulletin for New Zealand. Sie haben 1968 sehr jung damit begonnen. Was hat Sie dazu bewogen?
Ich danke Ihnen für Ihr Interesse, oder sollte ich sagen, für unser gemeinsames Interesse an Tibet. Ich begann, mich mit elf Jahren für Tibet zu interessieren, als ich in Hongkong lebte. Ich hatte einige Bücher über Tibet gelesen und war entsetzt über die Geschichten über die chinesische Invasion und die Unterdrückung des Volksaufstandes von 1959. Deshalb schwor ich mir, etwas zu tun, um den Tibetern zu helfen, ihre Freiheit wiederzuerlangen. Ich schrieb an Seine Heiligkeit, und es war sein Sekretär – zu der Zeit Ven. Tenzin Geyche –, der in seinem Namen antwortete und mich von da an über die Entwicklungen auf dem Laufenden hielt. Als ich nach Neuseeland zog, war ich 14 oder 15 Jahre alt und suchte dort nach Möglichkeiten, etwas Konkretes für die Tibeter zu tun.
Sie studierten Jura und wurden Rechtsberater Seiner Heiligkeit des Dalai Lama und der tibetischen Exilregierung. Endete diese Aufgabe wirklich im Jahr 2011? Sie sind bis heute bei so vielen tibetbezogenen Veranstaltungen aktiv. Es scheint, als seien Sie immer noch in dieser Position?
Bevor ich Jura studiert habe, bin ich 1970 nach Dharamshala gereist, um „unser“ Neuseeland-Heim im TCV (Anm.: Tibetan Children’s Villages, Schulen und Internate für tibetische Kinder) zu besuchen. Ich hatte eine bemerkenswerte Audienz bei Seiner Heiligkeit. Ein maßgeblicher Faktor für die Entscheidung, Völkerrecht zu studieren, war die Beziehung zu Seiner Heiligkeit und Tibet. Nachdem ich mein Jurastudium abgeschlossen und meine Dissertation über „Der Status von Tibet“ geschrieben hatte, bat mich Seine Heiligkeit, Rechtsberater zu werden und die Nachfolge von Jean Flavien Lalive anzutreten, einem internationalen Anwalt in Genf, der in den Ruhestand ging und Rechtsberater Seiner Heiligkeit und der tibetischen Exilregierung gewesen war. Ich glaube, die Ernennung erfolgte Anfang 1985, als ich gerade anfing, für eine große Anwaltskanzlei in Washington, D. C. zu arbeiten.
Wenn ich sage, die Ernennung zum Rechtsberater des Büros Seiner Heiligkeit endete 2011, dann deshalb, weil sich Seine Heiligkeit zu diesem Zeitpunkt formell von seiner politischen Position als Staatsoberhaupt zurückzog und seine politischen Verantwortlichkeiten an die gewählte Führung der CTA übertrug (Anm.: Central Tibetan Administration, die tibetische Exilregierung). Da meine Aufgabe darin bestand, Beratung und Unterstützung vor allem in Bezug auf Tibets internationalen Status und seine Beziehungen zu anderen Staaten, der UNO usw. zu leisten, war diese Mission an die politische Rolle Seiner Heiligkeit gebunden
Zusammen mit Lodi Gyari Rinpoche, Linnart Mäll und Erkin Alptekin haben Sie 1991 die UNPO gegründet, die Unrepresented Nations and Peoples Organization mit Büros in den Haag, Brüssel und Genf. Am 24. Juli 2023 gab die UNPO die Einrichtung ihres neuen Beirates bekannt – mit Ihnen als einem der drei Mitglieder. Was hat Sie dazu bewogen, diese Organisation zu gründen?
Die UNPO entstand, weil wir erkannten, dass unterdrückte Nationen, Völker und Minderheiten überall auf der Welt ihre individuellen Kämpfe stärken können, indem sie zusammenarbeiten, insbesondere, um die Art und Weise zu ändern, wie die internationale Staatengemeinschaft mit ihnen und ihrem Streben nach Selbstbestimmung umgeht. Wir sahen, wie in so vielen Fällen Bewegungen aus Frustration zur Gewalt griffen, weil dies für sie die einzige Möglichkeit war, sich Gehör zu verschaffen. Also kreierten wir eine internationale Organisation, die den unterdrückten Völkern eine Alternative zur Gewalt bieten würde, um sich Gehör zu verschaffen, und die es ihnen ermöglichen würde, an internationalen Foren, einschließlich der UNO, teilzunehmen.
1999 haben Sie und Miek Boltjes auch noch Kreddha gegründet, „eine internationale, nichtstaatliche Organisation zur Verhütung und Beilegung gewaltsamer innerstaatlicher Konflikte“ mit ihrem Büro in San Francisco. Was ist der Unterschied zwischen der UNPO und Kreddha?
Als ich die UNPO nach zwei Amtszeiten als Generalsekretär verließ, wollten Miek und ich auf einen eindeutigen Bedarf reagieren, auf den damals kaum jemand wirksam reagierte. In meiner Zeit bei der UNPO hatte ich den Ausbruch gewaltsamer Konflikte miterlebt, etwa zwischen Georgien und Abchasien, Russland und Tschetschenien, Papua-Neuguinea und Bougainville. Diese Kriege haben so viel Leid verursacht. Das Zustandekommen von Verhandlungen zur Beendigung dieser Kriege oder zur Verhinderung des Ausbruchs neuer Kriege wurde jedoch sehr erschwert, da viele Führer unterdrückter Völker kein Vertrauen in die Vermittlungsarbeit von Regierungen oder zwischenstaatlichen Organisationen hatten, da diese als voreingenommen zugunsten der bestehenden Staaten angesehen wurden. Wir wollten also eine unauffällige Organisation schaffen, die hinter den Kulissen arbeitet und das Vertrauen der unterdrückten Völker und der Regierungen der Staaten gewinnt.
Ihr Buch „The Status of Tibet: History, Rights, and Prospects in International Law“ von 1987 wurde bald ein Standardwerk zum Status von Tibet. 2020 erschien „Tibet Brief 20/20“. Warum haben Sie und Miek Boltjes dieses Buch geschrieben, in dem es wieder um den Status von Tibet geht?
Zwischen 1987 und 2020 ist viel passiert, und viele neue Forschungsergebnisse und neue historische Quellen sind verfügbar geworden. Zum Beispiel wurden nach dem Fall der Sowjetunion und der Demokratisierung der Mongolei mongolische Archivquellen verfügbar. Mehr Wissenschaftler studieren Mandschu und mandschurische Quellen. Viele weitere Wissenschaftler studieren Tibetisch und die tibetische Geschichte. Deshalb haben wir jetzt so viel mehr Wissen, auf das wir unsere Analysen stützen können. „Tibet Brief 20/20“ soll in erster Linie Klarheit über die Kernfragen des Tibet-China-Konfliktes schaffen (daher der Verweis auf die „20/20-Sehschärfe”) und die Verpflichtungen unserer eigenen Regierungen hervorheben, Chinas Souveränitätsanspruch nicht anzuerkennen und in einer Weise zu handeln, die dazu beiträgt, die Besetzung Tibets zu beenden und eine Lösung des Konfliktes sowie die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Tibeter herbeizuführen.
Gab es jemals eine Reaktion von chinesischer Seite, sei es auf Ihre Bücher oder auf Ihre Vorträge und andere Aktivitäten?
Die VR China nimmt sich Zeit, auf solche Bücher zu reagieren. Als erstes lässt sie diese ins Chinesische übersetzen und innerhalb hochrangiger Kreise der KPCh zirkulieren, um zu entscheiden, wie sie reagieren soll. Als Reaktion auf „The Status of Tibet“ hat sie zwei Bücher in Auftrag gegeben und veröffentlicht, die dieses Buch direkt angriffen sowie das Buch von Tsepon Shakabpa, in dem ebenfalls gezeigt wurde, dass Tibet kein Teil von China ist. Wir wurden beide als Schurken dargestellt. Es gab natürlich auch noch andere Reaktionen.
Seit 2020 hat sich die Welt sehr verändert: Es gab COVID-19, 2019 wurden die China Cables veröffentlicht, 2022 folgten die Xinjiang Police Files, und es gibt die zunehmend aggressive Präsenz der chinesischen Armee im Südchinesischen Meer. Schließlich noch der russische Angriff auf die Ukraine und Xis Erklärung, dass China eine friedliche „Vereinigung“ mit Taiwan anstrebt, „aber wir werden niemals auf den Einsatz von Gewalt verzichten“. Welche Haltung sollten Deutschland, die EU und alle anderen Demokratien heute gegenüber China einnehmen?
Glücklicherweise wird die VR China heute viel besser eingeschätzt als noch vor einigen Jahren. Und jetzt sehen wir wieder, was passiert, wenn ein Land bei seinem Nachbarn einmarschiert und ihn angreift. Russlands heutige Erzählung über die Ukraine weist verblüffende Ähnlichkeiten mit der Erzählung der VR China über Tibet dahingehend auf, warum jedes dieser Länder bei seinem Nachbarn einmarschiert ist. Das Ausbleiben einer entschlossenen Reaktion Europas (und der internationalen Gemeinschaft) auf die chinesische Invasion in Tibet hat die falsche Botschaft vermittelt, dass nämlich Europa Aggressionen an Orten, die es nicht als wirtschaftlich oder strategisch von vorrangigem Interesse ansieht, nicht unterbinden wird. Dies schwächt in der Tat die Rechtsstaatlichkeit international und unsere auf den nach dem 2. Weltkrieg verfassten Regeln basierende Ordnung. Und das wiederum ermutigt zu aggressivem Verhalten auf Seiten von Autokraten wie Putin und Xi. Es ist höchste Zeit, dass Deutschland und seine europäischen Partner, wie auch andere Demokratien, ihre Tibet-Politik neu überdenken, um das Bekenntnis zu demokratischen Werten, die entschiedene Ablehnung von völkermörderischer Politik und Kolonialherrschaft und natürlich die Unannehmbarkeit der Aggression eines Staates gegen einen anderen widerzuspiegeln. Dies müssen sie auch in Bezug auf Taiwan tun – und einige tun es bereits. Genauso wichtig ist es, dass unsere Regierungen fest an der Seite der Uiguren und anderer Ostturkestaner stehen.
Ihr zentrales Argument ist, dass Tibet historisch vor 1949 nie ein Teil Chinas war. Das haben Sie bereits vor langer Zeit sehr deutlich gesagt: Bei der Tibet-Anhörung 1995 im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages sprachen Sie über die Situation in Tibet und betonten, dass Tibet vor der chinesischen Invasion immer ein unabhängiger Staat gewesen war. Rechtlich gesehen ist Tibet bis heute „ein unabhängiger Staat unter der illegalen Besatzung durch die Volksrepublik China“ und sollte auch nicht als „ein Teil von China“ bezeichnet werden. Deshalb müsse zudem „China aufgefordert werden, seine Kolonien aufzugeben“. Was also kann getan werden, um Politiker dazu zu bringen, sich für die Unabhängigkeit Tibets einzusetzen?
Deutschland und europäische Regierungen äußern sich besorgt über Chinas Menschenrechtsverletzungen in Tibet und unterstützen den Schutz der kulturellen und religiösen Rechte der Tibeter. Sie müssen endlich aufwachen! Haben sie das nicht schon mehr als 70 Jahre lang getan, und was ist das Ergebnis? China ist der Achtung der Rechte des tibetischen Volkes keinen Schritt näher gekommen. Deshalb tragen die Regierungen an diesem Punkt eine gewisse Verantwortung dafür, dass sie keine energischeren Maßnahmen ergreifen, die die chinesischen Führer dazu bringen könnten, wirklich etwas zu merken. Warum kann es sein, dass es China erlaubt ist, innerasiatische Nationen als Kolonien zu behandeln, aber dem Rest der Welt (mit einigen Ausnahmen) nicht?
Heute gibt es in Europa einen realistischeren Ansatz gegenüber China, der China und die KPCh als eine Bedrohung für die demokratische Regierungsführung und die Werte und sogar als eine Sicherheitsbedrohung für viele Länder anerkennt. Als Teil der Neubewertung der China-Politik Deutschlands und Europas sollte eine neue und mutigere Politik gegenüber Tibet verfolgt werden. Die europäischen Regierungen sollten aufhören, sich von Pekings Zorn (der eine politische Taktik ist), seiner Beschwörung der „Ein-China-Politik“ (die für Taiwan gedacht ist und nicht für Tibet gilt) und seiner immer länger werdenden Liste von „Kerninteressen“ oder sogar „zentralen Kerninteressen“ einschüchtern zu lassen, was nur dazu dient, dass wir uns alle so verhalten sollen, wie es uns Peking diktiert.
Bislang hat noch kein Staat der Welt die tibetische Exilregierung als legitime Vertretung des tibetischen Volkes anerkannt. Denken Sie, dass es wichtig wäre, dies zu tun?
Chinas kommunistische Führer werden die Sorge unserer Regierungen um Tibet erst dann ernst nehmen, wenn diese die Legitimität Chinas, Tibet zu regieren, in Frage stellen. Chinas Führer wissen sehr wohl, dass sie in Tibet keine Legitimität besitzen, und genau deshalb drängen sie die Regierungen dazu, Erklärungen abzugeben, dass „Tibet ein Teil von China ist“. Zuallererst müssen unsere Regierungen damit aufhören. Es ist moralisch verwerflich, und sie verletzen ihre völkerrechtliche Pflicht, eine gewaltsame Annexion nicht anzuerkennen. Es ermutigt auch Chinas aggressives Verhalten gegenüber Taiwan, Indien und im Südchinesischen Meer sowie seinen Druck auf die Mongolei, Nepal und Bhutan. Und es nimmt der chinesischen Führung jeden Anreiz, ernsthaft mit den Tibetern zu verhandeln. Zweitens müssen sie die CTA als die legitime Vertretung des tibetischen Volkes behandeln. Wer sonst ist es? Die chinesische Regierung? Eine kleine, wachsende Anzahl von Regierungen und Parlamenten beginnt, die CTA so zu behandeln. Das ist ein wichtiger Schritt.
Sind Sie in Tibet gewesen?
Ja, ich bin 1987 nach Tibet gereist, und 1993 sind Miek und ich zusammen in Tibet gewesen, also zu einer Zeit, als es relativ leicht war, die Visa zu bekommen.
Gibt es noch etwas, das Sie unseren Lesern mitteilen möchten?
Nur das noch: Die einzige Gewissheit, die wir im Leben haben, ist, dass sich alles verändert. Der Wandel wird nach China kommen. Und es werden sich Chancen für Tibet ergeben. Wir wissen nur nicht, wann und wie. Lassen Sie uns also nicht zögern, die Position Tibets auf internationaler Ebene zu stärken, damit, wenn der Moment kommt, wir und unsere Regierungen bereit sind, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Das internationale Recht wird vielleicht nicht immer respektiert – zu unserem Nachteil –, aber es ist ein mächtiges Instrument, das uns und unsere Regierungen befähigt und ermächtigt, das Richtige zu tun. „Tibet Brief 20/20“ und ab November dieses Jahres auf Deutsch „Tibet erklärt“ können genau für diesen Zweck eingesetzt werden! Ich danke Ihnen für dieses Interview.
Michael C. van Walt van Praag, Niederländer, wohnt heute in den USA. Aufgrund seiner frühen Kontakte zum Dalai Lama studierte er Völkerrecht und erwarb Master-Abschlüsse in den USA und Utrecht/Niederlande sowie 1986 in Utrecht den Doktortitel. Seit 1982 war er an amerikanischen Unis und für einige Jahre in einer Anwaltskanzlei tätig. Er ist Mitgründer der UNPO, für die er als Berater immer noch aktiv ist, und gründete zusammen mit Miek Boltjes die Organisation Kreddha. Von 1985 bis 2011 war er der Rechtsberater des Dalai Lama. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Status von Tibet und hat dazu zuletzt zusammen mit Miek „Tibet Brief 20/20“ geschrieben. 2020 wurde er vom König und der Regierung der Niederlande in den Ritterstand erhoben.
Last modified: 18. Januar 2024