Chinas zunehmende Autokratie unter Xi Jinping hat Deutschland dazu veranlasst, seine strategische Ausrichtung neu zu überdenken. Deutschland gibt sich erstmals eine China-Strategie. Ein Blick hinter die Kulissen und die Herausforderungen in Menschenrechtsfragen.
VON ALICIA HENNIG
Zwischen der Europäischen Union (EU) und der Volksrepublik China (fortan: China) herrschte seit 2003 eine Beziehung der systematischen Partnerschaft. Diese Beziehung wandelte sich allerdings merklich seit 2020. China wurde zunehmend nicht mehr nur als Partner – und durch den dortigen technologischen Fortschritt – als Wettbewerber gesehen, sondern auch als Systemrivale. Daraus bildete sich der sogenannte „Dreiklang“ von China als Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale, der seit der zweiten Hälfte 2020 die EU-Politik vis-a-vis China prägt.
Diese strategische Neuorientierung wurde notwendig, da China unter Xi Jinping immer autokratischer geworden ist. Unter dem Banner der Nationalen Sicherheit führte Xi seit 2015 verschiedene neue Gesetze ein, die zunehmend auf eine immer breitere Kontrolle der chinesischen Gesellschaft abzielen. In diesem Zusammenhang erwähnenswert: die zunehmende Kontrolle der Medien, eine verstärkte Online- und Offline-Zensur, die Unterdrückung staatlich unabhängiger zivilgesellschaftlicher Akteure in China und insbesondere auch die Unterdrückung und engmaschige Kontrolle der in China lebenden Völker wie Tibeter und Uiguren. Darüber hinaus hat Xi, trotz vereinbarter Übergangszeit bis 2049, bereits jetzt schon Hongkong unter Kontrolle, sichtbar durch das am 30. Juni 2020 in Kraft getretene Sicherheitsgesetz. Anders als seine Vorgänger verfolgt Xi, seitdem er 2013 an die Macht gekommen ist, eine deutlich aggressivere Außenpolitik, eine primär an Staatsunternehmen orientierte Wirtschaftspolitik sowie eine Gesellschaftspolitik der Versicherheitlichung.
Diesen sehr bedenklichen Entwicklungen während Xis erster und zweiter Amtszeit konnte sich auch Deutschland nicht verschließen. Während unter Kanzlerin Angela Merkel noch ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Deutschland und China herrschte – welches man rückblickend viel eher hätte in Frage stellen sollen, bestand seit der Gründung der Ampelkoalition im Dezember 2021 die Notwendigkeit einer Neuorientierung. Akuter wurde diese wirtschaftliche und politische Neuorientierung noch einmal durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Insbesondere Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock sowie die Grünen als solches traten für eine deutlich kritischere Haltung gegenüber China ein. Dennoch ließ die sogenannte „China-Strategie“, die die Bundesregierung Mitte 2022 verkündet hatte, zunächst auf sich warten. Sie sollte auch an eine neue Nationale Sicherheitsstrategie gekoppelt werden.
Mein persönlicher Eindruck ist, dass der Entwurf der Strategie ein relativ intransparenter Prozess war. Für ihre Ausarbeitung war das Auswärtige Amt unter Einbeziehung aller Ressorts zuständig. Jedoch gab es dabei keinen öffentlich angekündigten Austausch mit Experten aus den verschiedenen Sektoren, wie beispielsweise der Zivilgesellschaft oder Wissenschaft, die die China-Strategie eigentlich mit einbeziehen wollte. Mit Dr. Andreas Fulda von der Universität in Nottingham in Großbritannien schickte ich an das Auswärtige Amt auf eigene Initiative hin Vorschläge zur Neuausrichtung der Wissenschaftskooperation mit China. Darüber hinaus wirkte ich an Empfehlungen mit, die verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure – darunter auch die Tibet Initiative – erarbeiteten.
Wie sich der erste Entwurf von der offiziellen China-Strategie unterscheidet
Im November 2022 sickerte dann ein erster Entwurf der China-Strategie durch. Er umfasste zu dem Zeitpunkt noch 59 Seiten und Themen, die im später veröffentlichten Strategie-Papier nicht mehr bzw. nur noch in geringerem Umfang zu finden sind. Bei einem detaillierten Vergleich fällt auf, dass die Einleitung in der durchgesickerten Version die Entwicklungen in China deutlich kritischer dargestellt hat. Direkt zu Anfang wird dort das Thema der „massiven Menschenrechtsverletzungen“ angesprochen. Grundsätzlich wird in dieser Version an mehreren Stellen von „massiven“ bzw. „gravierenden“ Menschenrechtsverletzungen gesprochen. Auch die Haltung der chinesischen Regierung in Bezug auf die Menschenrechte wird mit deutlichen Worten wiedergegeben: „Chinas Haltung zu den Menschenrechten […] steht im Widerspruch zur UN-Charta und zum im Völkerrecht verankerten Verständnis individueller, universeller und unteilbarer Menschenrechte.“
Im Vergleich dazu ist die offizielle Version der China- Strategie, die am 12. Juli 2023 nach langem Warten veröffentlich wurde, zurückhaltender und mit 44 Seiten deutlich kompakter. Anders als die Einleitung im Entwurf orientiert sich der Inhalt der offiziellen Einleitung jetzt primär am EU-Dreiklang von Partner, Wettbewerber und Rivale. Es wird lediglich erwähnt, dass man Chinas Ambitionen hinsichtlich einer Relativierung der international regelbasierten Ordnung und der Menschenrechte „mit Sorge betrachtet“.
Die Ziele der deutschen China-Strategie
Grundsätzlich verfolgt die Bundesregierung mit der China-Strategie das Ziel, Deutschlands Werte und Interessen in der Beziehung zu China besser zur verwirklichen. Dies soll durch eine Reihe von darin dargelegten Ansätzen und Instrumenten geschehen. Die Strategie dient gleichzeitig auch als Rahmensetzung, um die China-Politik über verschiedene Ressorts hinweg kohärenter zu gestalten. Die darin genannten Instrumente und Ansätze sollen Deutschlands freiheitliche demokratische Werte, seine Souveränität, Wohlstand und Sicherheit in Kooperationen mit China besser schützen (vgl. Schreiben von Außenministerin Baerbock, der China-Strategie angehängt).
Als sehr umfassende Zielsetzung adressiert die China- Strategie eine Breite an Themen: von bilateralen Beziehungen zu China (die u.a. Themen wie Regierungszusammenarbeit, Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, den Schutz der Menschenrechte sowie den Schutz der Umwelt betreffen), über die Stärkung Deutschlands und der EU (mit Fokus auf Wirtschaft und Technologie), der internationalen Zusammenarbeit mit China (welche u.a. Handelspolitik, Diversifizierung, Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit in Organen wie den Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation adressiert) bis hin zur politischen Koordinierung der Strategie auf verschiedenen Ebenen wie Ländern, Regionen und Kommunen in Deutschland.
China-Strategie und Menschenrechte
Das Thema Menschenrechte bzw. Menschenrechtsverletzungen wird im gesamten Dokument immer wieder thematisiert, beispielsweise im Kontext von Deutschlands Werten bzw. Interessen (Einleitung), bezüglich der Chinapolitik der EU (zweite Sektion) und der bilateralen Beziehungen zu China (dritte Sektion), in Bezug auf die Stärkung Deutschlands und der EU (vierte Sektion, hier insbesondere in Hinsicht auf Exportkontrolle) sowie in Hinsicht auf internationale Zusammenarbeit (fünfte Sektion, hier insbesondere in wirtschaftlichem Zusammenhang mit Handelspolitik und Diversifizierung).
Es taucht besonders prominent in der Einleitung (S. 5) auf. Im Abschnitt zu den Werten und Interessen legt die Bundesregierung ihre Ambitionen zum Schutz der Menschenrechte dar. Verschiedene Verbindlichkeiten lassen sich hier entnehmen: Grundsätzlich setzt sich Deutschland „für die Förderung und Einhaltung der universellen Menschenrechte ein“. Die Menschenrechte „sind für die Politik der Bundesregierung zentral“, insbesondere auch die „Achtung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit“. Sie setzt sich für den „Schutz der regelbasierten internationalen Ordnung auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen, universeller Menschenrechte und des Völkerrechts sowie Schutz des UN-Systems“ ein. Die Bundesregierung vertritt zudem die Ansicht, dass wirtschaftliche Entwicklung und Menschenrechte nicht im Widerspruch zueinander stehen.
Die China-Strategie beinhaltet einen separaten Abschnitt über ca. eine Seite zum Thema Menschenrechte (in der dritten Sektion zu den bilateralen Beziehungen, S. 12f). Hier wird auf die „schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen“ in Tibet und Xinjiang verwiesen, die politische und rechtliche Lage in Hongkong, die „deutlich verschlechterte“ Situation von Unterstützern und Verteidigern der Menschenrechte sowie die Stellung ethnischer und religiöser Gruppen. Als konkrete Maßnahmen zur Einhaltung der Menschenrechte in China will sich die Bundesregierung für die Presse- und Meinungsfreiheit (online wie auch offline), für den Erhalt zivilgesellschaftlicher Freiräume und für die Achtung der Rechte von gesellschaftlichen Minderheiten einsetzen. Bei schweren Menschenrechtsverletzungen würde sie auch entsprechend auf Sanktionsmöglichkeiten auf EU-Ebene zurückgreifen.
Der Abschnitt adressiert zudem das Thema Zwangsarbeit. Die Bundesregierung verweist hier auf EU-Regelungen zum Verbot von Produkten aus Zwangsarbeit, die kommende EU-Richtlinie zu den Sorgfaltspflichten sowie auf das deutsche Gesetz zu Sorgfaltspflichten in der Lieferkette. Eine weitere Maßnahme der Bundesregierung zum Schutz der Menschenrechte ist die Exportkontrolle. Darüber hinaus möchte sich die Bundesregierung auch für sichere Orte für die von Repressionen betroffene chinesische Diaspora (bspw. Dissidenten, Menschenrechtsverteidiger) in Deutschland einsetzen und ihnen mehr Gehör verschaffen.
Als Möglichkeit, die Menschenrechte in China weiter zu stärken, dient der Menschrechtsdialog der Bundesregierung (siehe dritte Sektion, bilaterale Beziehungen). Auch dieser soll – obwohl hinter den Erwartungen bislang zurückgeblieben – weiter fortgesetzt werden. Insbesondere soll er zukünftig mit dem Rechtsstaatsdialog verbunden werden. Interessanterweise sollte er aber in der Entwurfsversion von November 2022 noch mit dem deutlich höher aufgehängten Sicherheitsdialog verknüpft werden.
Auch strebt die Bundesregierung mehr Kontakt und einen „möglichst breiten Austausch“ mit der chinesischen Zivilgesellschaft an und stellt zugleich fest, dass die chinesische Regierung den Zugang zu jener immer weiter abschottet.
Im folgenden Abschnitt möchte ich eine kurze Einschätzung der Maßnahmen vornehmen, insbesondere in Hinsicht darauf, ob sie eine Verbesserung der Menschenrechtslage in China bewirken können.
Einschätzung der angestrebten Maßnahmen
Hervorzuheben ist, dass das Thema Menschenrechte in verschiedenen Kontexten innerhalb des Strategie-Papiers adressiert wird. Fraglich ist jedoch, wie zielführend die vorgeschlagenen Maßnahmen sind. Die Exportkontrolle sowie das Lieferkettengesetz sind relevante rechtliche Maßnahmen, um zumindest das Risiko zu reduzieren, selbst zu Menschenrechtsverletzungen in China beizutragen.
Die Problematik beim Lieferkettengesetz ist jedoch, dass der Mechanismus weniger effizient ist als beim US-amerikanischen „Uyghur Forced Labor Protection Act“ (UFLPA). Dieser setzt auf eine Umkehr der Beweislast, das heißt, aus China importierende Unternehmen in den USA müssen selbst beweisen, dass sich keine Zwangsarbeit in ihren Lieferketten befindet. In Deutschland wiederum muss der Staat nachweisen, dass die Lieferkette nicht frei von Zwangsarbeit ist, auf Basis von Klagen seitens der Zivilgesellschaft. Dieser Prozess ist unnötig ressourcenaufwendig. Es wird sich noch zeigen müssen, wie effektiv ein derartiges Lieferkettengesetz tatsächlich ist.
Menschenrechtsdialog von China tabuisiert
Die Aufrechterhaltung des Menschenrechtsdialoges, um die Menschenrechte in China zu stärken, ist schlichtweg illusorisch, von den wenigen Menschenrechten in einem regulären Arbeitskontext einmal abgesehen (beispielsweise Arbeitssicherheit). Der Menschenrechtsdialog wird keinen Beitrag zur Verbesserung der Situation in Tibet oder Xinjiang leisten und auch nichts, wenn es um Frauenrechte bzw. Gleichstellung oder ähnliches geht. All das hat die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) bereits tabuisiert.
Problematisch ist auch, dass die China-Strategie nicht das Verständnis einer systematischen Gefahr, die von der KPCh grundsätzlich ausgeht, widerspiegelt. Das lässt sich u.a. bereits an der Fortsetzung der Städtepartnerschaften erkennen sowie dem Wunsch nach Kontakt mit chinesischen Akteuren der Zivilgesellschaft. Ignoriert wird, dass in beiden Kontexten der Kontakt jeweils nur zu von der Partei sanktionierten Akteuren möglich sein wird. Zu chinesischen Stimmen jenseits der offiziellen Parteilinie wird es keinen Zugang geben.
Die KPCh beschneidet Chinas eigene Vielfalt
Die KPCh vertritt die Position, die Vielfalt Chinas auf eine Partei, auf eine Nationalität (Han), auf eine Sprache (Han- Chinesisch) und eine ‚richtige‘ Kultur reduzieren zu können. Diese beschnittene Identität zwingt sie selbst Chinesen im Ausland (sogenannte huaqiao) auf, selbst wenn diese gar nicht mehr im Besitz eines chinesischen Passes sind. Und diese beschnittene und aufgezwungene Identität ist eine der Ausgangspunkte der umfassenden sozialen Kontrolle seitens der KPCh in China und darüber hinaus.
Fehlende klare Worte zu Tibet und Xinjiang
Zuletzt fällt auf, dass weder im Entwurf noch in der offiziellen Strategie die notwendigen klaren Worte für die Situation in Tibet und Xinjiang verwendet werden, nämlich Völkermord bzw. Genozid. In der Ausarbeitung „Die Uiguren in Xinjiang im Lichte der Völkermordkonvention“ (12. Mai 2021) des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages finden sich bereits u.a. folgende Aussagen im Fazit: „Ausgehend von den öffentlich zugänglichen Quellen und Berichten über die Behandlung der Uiguren in Xinjiang lässt sich konstatieren, dass in objektiver Hinsicht alle fünf Tatbegehungsvarianten des Artikels 2 der Völkermordkonvention erfüllt sind.“ (S. 72) sowie „Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung deutscher Gerichte lässt sich somit die Auffassung rechtlich gut vertreten, dass an den Uiguren in Xinjiang ein Genozid nach Artikel 2 (b), (c) und (e) der Völkermordkonvention begangen wird.“ (ibid.). Warum also wird die Situation nicht klar benannt?
Abschließend ist zu sagen, dass die Bundesregierung ihrer eigenen Zielsetzung der „Förderung und Einhaltung der universellen Menschenrechte“ nur bedingt gerecht wird. Die Strategie ist in dieser Hinsicht inkonsistent, denn sie setzt Maßnahmen fort, die wenig effektiv sind (siehe Städtepartnerschaften, Menschenrechtsdialog, Austausch mit der Zivilgesellschaft). Im schlechtesten Fall können diese sogar seitens der Partei für ‚whitewashing‘ der Menschenrechtssituation in China genutzt werden.
Alicia Hennig Stellvertretende Professorin für Allgemeine BWL am Internationalen Hochschulinstitut (IHI) Zittau, zugehörig zur TU Dresden, und vormals Associate Professor of Business Ethics an der Southeast University, Nanjing, und Assistant Professor am Harbin Institute of Technology (HIT), Shenzhen. Darüber hinaus kooperiert sie mit Gastvorträgen und Lehraufträgen mit der Nanjing University, Fudan University und Jiaotong University.
Last modified: 17. Januar 2024