Unter Xi Jinping erreicht die Unterdrückung in Tibet einen Höhepunkt. Die Welt muss Chinas Narrativen etwas entgegensetzen – sagt Tibet-Aktivist Dorjee Tseten. Ein neuer US-Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
VON DORJEE TSETEN
Unter der Herrschaft Xi Jinpings hat sich die Lage in Tibet weiter verschlechtert. Zum dritten Mal in Folge wurde Tibet im World Freedom Index Report des Freedom House als das am wenigsten freie Land der Welt eingestuft. Am 06. Februar 2023 äußerten sich Sonderberichterstatter des UN-Menschrechtsrates in einem alarmierenden Bericht besorgt über eine Million tibetischer Kinder in Zwangsinternaten. Von ihren Familien und Gemeinschaften getrennt, werden sie vor allem auf Chinesisch unterrichtet, dürfen ihre Religion nicht ausüben und werden einer politischen Indoktrination unterzogen. Hinzu kommt die bereits kleinste Kinder betreffende, massenhafte Entnahme von DNA-Proben mit dem Ziel, Angst zu verbreiten und die Kontrolle über sämtliche Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens des tibetischen Volkes zu erlangen.
Auch die Angriffe auf tibetische Klöster haben wieder zugenommen, und sogar die tibetisch-buddhistische Tradition der Reinkarnation wird von Peking politisiert. Die Sinisierung des tibetischen Buddhismus und die patriotische „Umerziehung“ der tibetischen Bürger als Teil des Kampfes gegen „spalterische Kräfte“ ist vor allem unter Xi angestiegen. Im Namen der Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit und Stabilität wurden die städtischen Zentren in Rasterfelder unterteilt und neue biometrische Ausweise eingeführt. Feste Arbeitsteams wurden bis hinunter auf die Dorfebene stationiert, um den Behörden die Möglichkeit zu geben, mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz und Rastermanagementsystemen systematisch alle Aktivitäten in diesem Gebiet zu überwachen. Trotz der brutalen Besetzung und der zunehmenden Gräueltaten leisten die Menschen in Tibet weiterhin Widerstand.
China – Bedrohung für die globale Ordnung
Heute steht die Welt an einem historischen Scheideweg, denn China setzt seinen Aufstieg als unliberaler globaler Hegemon fort. Xi Jinpings totalitäre Herrschaft widerlegt die Theorie, dass wirtschaftliche Entwicklung zu politischer Demokratisierung führt. Mit dem Wandel der geopolitischen Verhältnisse nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Meinung der Weltöffentlichkeit über China drastisch geändert, da das Land als eine Bedrohung für die globale Ordnung und die Menschenrechte angesehen wird. Chinas zunehmend expansionistische und kriegerische Politik, die zu Grenzkonflikten mit Indien führt und Taiwan militärisch einschüchtert, hat ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Sicherheit im indopazifischen Raum aufkommen lassen. Die strategische Bedeutung Tibets wird aufgrund seiner geografischen Lage und seines historischen Status als Pufferzone zwischen China und Indien zunehmend anerkannt
Die chinesische Unterdrückung nimmt zu
Um den Tibet-China-Konflikt zu lösen, verfolgte die tibetische Exilregierung, die auch als Central Tibetan Administration (CTA) bekannt ist, eine Politik des Mittleren Weges. Dabei bemühte sie sich während der neun Gesprächsrunden, die zwischen 2002 und 2010 stattfanden, um eine Reihe vertrauensbildender Maßnahmen. Seit 2010 hat kein offizieller Dialog mit der Volksrepublik China mehr stattgefunden. Dies ist vor allem auf das Versagen Chinas bei der Lösung des Konflikts zurückzuführen. In der Zwischenzeit haben die Unterdrückung und die groben Menschenrechtsverletzungen gegenüber Uiguren, Südmongolen und Hongkongern stark zugenommen. Inmitten der Schrecken, die sich in Chinas unruhiger Peripherie abspielen, erleben wir einen beispiellosen Wandel der Solidarität unter den einzelnen Bewegungen. Zum ersten Mal erkennen die vom kommunistischen Regime Chinas unterdrückten Nationen und Gruppen, wie wichtig es ist, sich miteinander abzustimmen.
Eine Resolution des 17. tibetischen Exil-Parlaments nimmt zu Kenntnis, dass sich die geopolitische Lage geändert und sich Chinas Politik gegenüber Tibet verschärft hat. Die tibetische Führung sowie tibetische Gruppen im Exil sind aufgerufen, ihre globale Lobbyarbeit zu intensivieren. Es gilt, unsere Position auf internationaler Ebene zu stärken und China wieder in einen substanziellen Dialog ohne Vorbedingungen zur Lösung des Tibet-China-Konflikts einzubinden. Im Juni 2023 organisierten der Kashag (Kabinett) und das tibetische Exilparlament eine dreitägige gemeinsame Advocacy-Kampagne, bei der die Delegationen mit hochrangigen Diplomaten aus 17 Ländern, darunter die USA und Länder aus Europa und Asien, zusammentrafen. Bei den Treffen wurde vor allem die Frage thematisiert, ob die implizite oder explizite Anerkennung der Annexion Tibets durch China und die Tatsache, dass die chinesische Regierung nicht für die Verweigerung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des tibetischen Volkes zur Rechenschaft gezogen wird, die Bemühungen um die Einhaltung des Völkerrechts untergräbt.
Appeasement-Politik ist keine Lösung
In ähnlicher Weise wird China durch die fortgesetzte Appeasement- Politik vieler Regierungen dazu ermutigt, weitere territoriale Ansprüche zu stellen, meist unter Verwendung falscher oder irreführender historischer Narrative, ähnlich denen, die es verwendet, um seinen Anspruch auf Tibet zu rechtfertigen. Aus dem Grund haben wir Regierungen und führende Politiker aufgefordert, Tibet als besetzte Nation mit einer eigenen unabhängigen und souveränen Vergangenheit anzuerkennen, die durch historische Beweise gestützt wird. Tibeter sind keine Minderheit, und die Besetzung Tibets ist keine interne Angelegenheit Pekings. Wir müssen diesem Narrativ Chinas widersprechen. Wer Tibet als Teil Chinas deklariert, spricht sich für dessen Kolonisierung und die Unterwerfung seiner Bevölkerung aus. Dadurch würde man uns Tibetern die Möglichkeit nehmen, auf sinnvolle Weise über unsere Freiheiten zu verhandeln.
Um Chinas falschen Behauptungen entgegenzutreten und Tibets Position zu stärken, wurde ein neuer Gesetzentwurf mit dem Titel „Promoting a Resolution to the Tibet China Conflict Act“ (Gesetz zur Förderung einer Lösung des Tibet-China-Konfliktes) von dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Repräsentantenhauses, Michael McCaul (R-TX), und dem Kongressabgeordneten Jim Mac- Govern (D-MA) sowie den Senatoren Todd Young (R-IN) und Jeff Merkley (D-OR) eingebracht. Wenn er verabschiedet wird, wird es die offizielle Politik der USA, dass der Konflikt zwischen Tibet und China ungelöst ist und die Tibeter nach internationalem Recht ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Er weist die falschen Behauptungen Chinas zurück, dass Tibet seit der Antike zu China gehört. Die tibetischen Gemeinschaften und Unterstützergruppen in den Vereinigten Staaten haben sich sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene für diesen Gesetzentwurf eingesetzt, und die tibetische Exilregierung ermutigt andere Parlamentarier auf der ganzen Welt, ähnliche Gesetzentwürfe in ihren jeweiligen Parlamenten einzubringen.
Die Menschenrechtssituation in Tibet muss im Kontext des ungelösten Tibet-China-Konflikts behandelt werden. Wir fordern die Staats- und Regierungschefs dazu auf, ein Magnitsky-Gesetz (Anm.: 2012 von Barack Obama unterzeichnet, um russische Beamte bestrafen zu können) zu verabschieden, um chinesische Beamte auf eine internationale Sanktionsliste zu setzen. Ein weiteres drängendes Problem ist der lange Arm des chinesischen Autoritarismus und die zunehmende grenzüberschreitende Unterdrückung, die das öffentliche Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen befördert. Dies führt zu politischer Polarisierung, Menschenrechtsverletzungen und einer Bedrohung der Sicherheit der Bürger. Der beste Weg, Chinas länderübergreifender Unterdrückung entgegenzuwirken, ist die aktive Unterstützung der tibetischen, uigurischen und Hongkonger Bevölkerung bei ihrem länderübergreifenden, dekolonialen Einsatz für Menschenrechte und Selbstbestimmung. Regierungen sollten auch einen nationalen Rechtsrahmen schaffen, um Chinas vernetzten Autoritarismus und seine Desinformationskampagne zu bekämpfen. Wir ermutigen Regierungen und Parlamentarier außerdem dazu, ihre offiziellen und diplomatischen Beziehungen zur tibetischen Exilregierung – die die Fortsetzung der früheren Regierung des unabhängigen Tibets in Lhasa ist – als der legitimen Vertretung des tibetischen Volkes zu vertiefen.
Dorjee Tseten ist ein leidenschaftlicher Stratege und Aktivist für Tibet. Er reiste in mehr als fünfzehn Länder auf vier Kontinenten, um Kampagnen und Schulungen zu leiten und Vorträge zu halten, und hat Hunderte Studenten und Jugendliche darin geschult, sich gewaltfrei für Tibet einzusetzen. Von 2017 bis 2022 war er Geschäftsführer von Students for a Free Tibet-International. Dorjee hat maßgeblich dazu beigetragen, ein starkes Netzwerk zwischen Tibetern, Hongkongern, Taiwanern, Uiguren, Südmongolen und chinesischen Dissidenten aufzubauen, um Strategien für Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung zu entwickeln. Seit 2016 ist er Mitglied des 17. tibetischen Parlaments im Exil.
Last modified: 8. Januar 2024