Die ‚Erneuerung‘ der chinesischen Nation hat Chinas Regierung zu ihrem Jahrhundertziel erklärt. Mit dazu gehören auch die Vereinigung mit Taiwan sowie die vollständige Integration von Hongkong und Macao. Was das besonders für Taiwan bedeutet, hat Sophie Reiß analysiert.
VON SOPHIE REISS
In ihrem Plan, Taiwan zu annektieren, wendet die Pekinger Regierung verschiedene Methoden an. Dazu gehören zunächst wirtschaftliche Druckmittel und militärische Drohungen. Häufig werden jedoch auch Ansätze gewählt, die auf gesellschaftliche Aspekte und die Identität der Menschen abzielen. Während viele Menschen in China und Taiwan durch eine gemeinsame Sprache und kulturelle Aspekte verbunden sind, haben die Gesellschaften sich in den letzten Jahrzehnten stark entwickelt. Unter anderem ihre nationale Identität verbindet Menschen in Taiwan untereinander, unterscheidet sie aber von Menschen aus anderen Ländern wie China.
China scheitert mit uniformer Identität
Bei der Einflussnahme auf die Identitäten ihrer Bürger*innen scheitert die Pekinger Regierung allerdings zunehmend, schadet ihrem Vorhaben offenbar, und das ganz aktiv. Die Identität, die Peking sich für seine Bürger*innen wünscht, scheint sehr uniform und orientiert sich nah an der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und deren Vorstellungen. Damit unterscheidet sie sich jedoch von dem, was viele Menschen in Hongkong und Taiwan darüber denken und fühlen, was selbstverständlich nicht alle Menschen einschließt – weder in Hongkong, Macao oder Taiwan, noch in China.
Nationale Identität wird von politischer Präferenz beziehungsweise Parteizugehörigkeit, von familiärem und sozialem Umfeld und vielen anderen Faktoren beeinflusst, ist daher sehr individuell und lässt sich nicht verallgemeinern. Einige Elemente, auf die Menschen ihre nationale Identität zurückführen, sind ihr geschichtlicher Hintergrund, ihr regionaler Kontext sowie ihre sozio-kulturellen und sprachlichen Bezüge. Der Blick auf Parallelen mit Hongkong, aber auch die unterschiedliche Entwicklung und Beziehung von Taiwan zur Volksrepublik, lohnt sich.
Taiwan ist souverän
Der Staat Taiwan, offiziell die „Republik China“, und seine Regierung sind souverän. Taiwan verfügt über alles, was einen eigenständigen Staat definiert: Pass, Währung, Grenzschutz, Hymne und Flagge, symbolische Orte wie den Präsidentenpalast und nicht zuletzt Vertretungen im Ausland. Mitte Januar 2024 wurden Präsidentschaftswahlen abgehalten und auch das Parlament, der legislative Yuan, neu gewählt. Neuer Präsident wurde der bisherige Vizepräsident Lai Ching-te (William Lai); die bisherige Präsidentin, Tsai Ing-wen, durfte nach zwei Amtszeiten nicht wieder zur Wahl antreten.
Was Taiwans Staatlichkeit von der anderer Länder unterscheidet, geht allein auf den selbst erhobenen Anspruch der Volksrepublik China an Taiwan zurück. Obwohl die Gebiete Taiwans – das neben der Hauptinsel auch kleinere Inselgruppen in der Umgebung, bis kurz vor die Küste Chinas einschließt – nie Teil der Volksrepublik waren, fordert China weiterhin deren Eingliederung in die Volksrepublik. Taiwans Regierung hingegen besteht auf ihrer Souveränität und dem Status Quo, also die Koexistenz Chinas und Taiwans als zwei voneinander getrennter Staaten, die nicht vereint werden sollen.
Identität und Parteipolitik in Taiwan
Traditionell war das Wahlverhalten vor allem an der eigenen Familie orientiert, diese Verbindung wird im Laufe der Zeit aber etwas schwächer. Das drückt sich auch darin aus, dass Parteien abseits von Kuomintang (KMT) und Democratic Progressive Party (DPP) auch Erfolge feiern, allen voran die Taiwan People’s Party (TPP). Obwohl die TPP und ihr Präsidentschaftskandidat Ko Wen-je der KMT in manchen Ansichten gegenüber China ähneln und sich für engere Beziehungen mit China aussprechen, werden sie von Unterstützer*innen oft ausdrücklich als Alternative zur klassischen Ausrichtung gesehen.
Im vorherigen Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen Anfang 2020 nahmen vor allem Kandidat*innen der DPP immer wieder Bezug auf die Protestbewegung in Hongkong, die zur gleichen Zeit sehr aktiv war. Auslöser der Proteste, das geplante Auslieferungsabkommen, das harte Vorgehen und die Gewalt der Hongkonger und Pekinger Autoritäten gegen die Demonstrierenden wurden als Warnung verstanden.
Auch in Taiwan werden nationale Identität und Zugehörigkeit verhandelt und unterschiedlich gesehen, vor allem zwischen den Parteien. Die größte Bruchlinie verläuft hier traditionell zwischen der Demokratisch-Progressiven Partei (DPP, 民主進步黨) und der Chinesisch-Nationalistischen Partei (KMT, 中國國民黨). Auf der Seite der DPP wird vor allem die Ansicht vertreten, dass Taiwan ein souveräner Staat ist, der seine Unabhängigkeit zwar nicht offiziell erklären soll – um keinen Angriff Chinas zu riskieren – aber auch nicht mit China vereint werden sollte, sondern für sich steht. Dem gegenüber steht die Unterstützung der Volksrepublik China von Kreisen der KMT. Obwohl auch sie eine nicht-friedliche Vereinigung ablehnt, spricht sich die KMT deutlicher gegen die offizielle Unabhängigkeit Taiwans aus und setzt sich für engere Beziehungen mit China ein.
Die unterschiedlichen Perspektiven gegenüber der Volksrepublik China und der nationalen Identität wurden im Wahlkampf deutlich. Vor allem die DPP betont immer wieder, für Taiwan zu stehen und umgeht damit den offiziellen Namen des Landes, Republik China. Die gesamte Kampagne von Lai Ching-te und Hsiao Bi-khim, die sich als Präsident und Vizepräsidentin bewarben und die Wahl gewonnen haben, stand unter dem Slogan „Team Taiwan“ – groß auf Trainingsjacken. Er richtete sich gegen den aufgezwungenen Namen „Chinesisch Taipeh“. Diese Botschaft wurde durch viele Anspielungen auf Baseball, dem Nationalsport von Taiwan, noch deutlicher.
Auch die neu gewählte Vizepräsidentin Hsiao Bi-khim vertritt ihre taiwanische Identität sehr offen. Schon für ihren Namen nutzt sie nicht die Umschrift auf Mandarin, sondern auf Taiwanisch. Auf Wahlkampfveranstaltungen wurde sie gerne als „Katzenkämpferin“ angekündigt – neben ihrer privaten Vorliebe für Katzen stand das als Gegenpol für Chinas „Wolfskrieger-Diplomatie“. Damit werden aggressiv und stark nationalistisch auftretende Diplomaten der Volksrepublik bezeichnet, denen Hsiao mit ihrer Erfahrung als Repräsentantin Taiwans in den USA eine anpassungsfähigere und sanftere Außenpolitik entgegensetzen möchte. Ihr familiärer Hintergrund, Hsiaos Mutter ist aus den USA, betont zudem ihre nationale Identität als Taiwanerin, die nicht nur an ihrer ethnischen Herkunft hängt.
Lai und Hsiao haben mit der DPP die Präsidentschaft gehalten, werden in den nächsten Jahren allerdings mit einem Parlament zusammenarbeiten müssen, in dem ihre eigene Partei keine Mehrheit stellt. Trotz zu erwartender Schwierigkeiten zeigt ihre Wahl, dass der starke Fokus auf Taiwan selbst und die Warnung vor dem Einfluss Chinas die Wähler*innen überzeugt hat.
Chinas Einwirken
Vieles von Pekings Politik gegenüber Hongkong und Taiwan kann als relevant für das Zugehörigkeitsgefühl der Menschen verstanden werden: Spezielle Besuchskarten anstelle des Passes machen Reisen nach China einfacher und unbürokratischer. Brücken – sowohl logistisch als auch symbolisch gerne genutzt – werden gebaut, neue werden debattiert. Trotzdem scheitert Peking daran, flächendeckend von der Idee einer Vereinigung Taiwans mit China zu überzeugen. Durch aggressives Vorgehen wie wirtschaftlichen Druck, Einschüchterungsversuche durch militärische Manöver und zuletzt Ballonüberflüge baut Peking zwar mehr Druck auf, verstärkt dadurch meistens aber eher die Gewissheit der Menschen, nicht zu China gehören zu wollen.
Die KPCh kann die taiwanische nationale Identität nicht mit ihrer eigenen Ideologie vereinen oder Kompromisse anbieten, die Taiwaner*innen ihre Identität in einem mit China vereinten Taiwan erhalten würde. Aus Chinas Vorgehen in Hongkong ist zudem deutlich geworden, dass Mittelwege oder Übergangslösungen keine Alternative sind.
Taiwan ist eine Demokratie
Der wohl wichtigste Unterschied zwischen Taiwan und China, durch den die nationale Identität der Taiwaner*innen geprägt wird, ist Taiwans Demokratie. Die ersten freien Wahlen fanden in Taiwan erst 1996 statt, heute gilt es als das freieste Land Asiens. Vor allem die Bedrohung durch ein autokratisch regiertes Land führt vielen Wähler*innen deutlich vor Augen, wie relevant die eigene Stimme ist. Auf der Rallye einer Partei erklärt ein Erstwähler „Ich will meine Zukunft mitbestimmen und meine Freiheit schützen.“ Auf der Veranstaltung einer anderen Partei beschreiben junge Frauen, wie wichtig ihnen ihr Wahlrecht ist, wie ernst sie die Wahlen nehmen. Auch im offiziellen Teil der Veranstaltungen werden ähnliche Töne angeschlagen. Vor allem die amtierende DPP zählt die Errungenschaften des Landes in den letzten Jahren auf und betont, dass sie sich zu schützen lohnen. Als ein Redner auf Englisch mit „our freedom isn’t free“ (unsere Freiheit ist nicht umsonst) abschließt, erhält er laute Zustimmung aus dem Publikum.
Syaru Lin hat sich als Akademikerin ausführlich mit den Dynamiken zwischen China und Taiwan beziehungsweise Hongkong beschäftigt und konstatiert, dass die Demokratisierung in Taiwan sowie die Demokratiebewegung in Hongkong untrennbar mit den jeweiligen Identitäten verknüpft und damit nicht mit der Volksrepublik vereinbar sind. Umfragewerte aus Hongkong und Taiwan unterstützen ihre These. Durch den starken Rechtsstaat, Freiheiten wie die Ehe für alle als einziges Land in Asien und vor allem Taiwans starke Demokratie bildet der Staat für die Bürger*innen Werte und Errungenschaften dar, die es sich zu verteidigen lohnt.
Vor allem die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte spielen eine wichtige Rolle: ein Großteil der Wähler*innen. kann sich an die ersten freien Wahlen 1996 erinnern. Noch heute ist das Auszählen der Wahlzettel öffentlich, um Transparenz zu gewähren, die es unter der Militärdiktatur nicht gab. Noch mehr Wahlberechtigte haben die Sonnenblumenbewegung 2014 aktiv mitverfolgt. Vor allem junge Menschen hatten damals gegen ein geplantes Wirtschaftsabkommen mit China und die damalige KMT-Regierung demonstriert. Einige Vertreter*innen aus der Bewegung wurden später ins Parlament gewählt. Taiwans lebendige Demokratie ist damit für viele Menschen nicht nur sehr persönlich, sondern auch ein starker Kontrast zu Chinas autoritärem Parteistaat.
Parallelen und Unterschiede zu Hongkong
Hongkong und Taiwan unterscheiden sich in einigen Faktoren: Während Taiwan ein souveräner Staat ist und über alle Staatsorgane verfügt, ist Hongkong eine Sonderverwaltungszone der Volksrepublik China. Als solche stehen ihr zwar bestimmte Sonderrechte zu, beispielsweise ein von China unterschiedliches Wirtschaftssystem. Über wichtige Bereiche wie eine eigene Außenpolitik oder Verteidigung verfügt Hongkong allerdings nicht. Anders als in Taiwan können Hongkonger*innen ihre Politik außerdem nur zu einem gewissen Maße durch Wahlen mitbestimmen. Politische Meinungen und Unzufriedenheit werden stattdessen immer wieder durch Proteste ausgedrückt.
Für viele Menschen in Taiwan gilt Hongkong auch als Warnung vor zu starker Annäherung an China. Das System „ein Land, zwei Systeme,“ unter dem Hongkong seit der Übergabe an die Volksrepublik 1997 verwaltet werden sollte, war von China ursprünglich für eine Integration Taiwans angedacht. Spätestens mit der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes (NSL) Mitte 2020 gilt das System allerdings als weitgehend ausgeschaltet – in der Praxis untersteht die Hongkonger Regierung in allen wichtigen Aspekten Peking, der Rechtsstaat ist so gut wie ausgehebelt. Auch die demokratische Mitbestimmung ist quasi eliminiert: die Opposition ist fast vollständig inhaftiert oder im Ausland, Proteste und selbst lokale Mitbestimmung können durch das NSL eingeschränkt und bestraft werden, wie der Fall der „HK47“ zeigt: 47 Menschen sind seit Jahren im Gefängnis und seit Monaten vor Gericht, offiziell für die Organisation von Vorwahlen für das pan-demokratische Lager.
Diese Entwicklung und vor allem die Geschwindigkeit, mit der Freiheiten in Hongkong ausgehöhlt wurden, wurde in Taiwan genau beobachtet. Im Wahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen Anfang 2020 ging Präsidentin Tsai Ing-wen immer wieder auf Hongkong und die damals stattfindenden Proteste ein, sprach sich solidarisch mit den Unterstützer*innen der Demokratie aus, sah die Entwicklungen aber vor allem als Warnung für Taiwan. Sie setzte sich gegen ihren Herausforderer Han Kuo-yu von der KMT durch, der sich für eine Annäherung an China ausgesprochen hatte.
Im Kontext der Protestbewegung ab 2019 kam das Thema der Hongkonger Identität in verschiedenen Formen wiederholt auf. Immer wieder haben die Regierungen Chinas und Hongkongs die Motivation und den Patriotismus der Demonstrierenden in Frage gestellt. Die Antwort darauf war deutlich: im Sommer 2020, schon unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz, wurden riesige Banner mit der kantonesischen Aufschrift „我哋真係好撚 鍾意香港“ getragen, auf Englisch oft als „We just really fucking love Hong Kong“ skandiert. Der Slogan war ein fast verzweifelter Versuch, trotz der gesetzlichen Einschränkungen deutlich zu machen, worum es mit den Protesten geht. Spätestens mit den „patriots only“ Wahlen, zu denen nur von der Regierung für patriotisch empfundene Kandidat*innen zugelassen wurden, hat die Regierung den Begriff des Patriotismus wieder für sich zu vereinnahmen versucht und definiert ihn seitdem selbst.
Geschichtliche Aufarbeitung
Von 1949 bis 1987 herrschte unter der KMT Kriegsrecht, freie Wahlen gab es erstmals 1996. Während dieser Militärdiktatur wurde in Schulen verboten, andere Sprachen als Mandarin zu sprechen. Heute sind neben Mandarin als lingua franca auch andere Sprachen im Alltag gegenwärtig. Indigene Sprachen tauchen etwa für Ortsnamen und in Gebieten mit viel indigener Bevölkerung vermehrt auf. Taiwanisch, Alltagssprache eines großen Teiles der Bevölkerung und eine Hokkien-Sprache, wurde beispielsweise im vergangenen Wahlkampf für Teile der Reden auf DPP-Veranstaltungen genutzt, wohl als Bekenntnis zur taiwanischen Identität der Partei. Auch Musik im Programm der Veranstaltungen und Anfeuerungsrufe des Publikums waren gemischt auf Mandarin und Taiwanisch. Auch darin unterscheidet sich Taiwan stark von China, wo andere Sprachen als Mandarin weiter marginalisiert oder gar verboten werden.
Ein weiterer großer Unterschied zwischen Taiwan und China liegt im Verhältnis zwischen Bürger*innen und Staat und deren geschichtlicher Aufarbeitung. Der 228-Memorial-Park im Zentrum von Taipeh erinnert namentlich an ein von der KMT begangenes Massaker am 28. Februar 1947, das als Schlüsselereignis in der Entwicklung der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung gesehen wird. Im benachbarten New Taipei City wurde in einem ehemaligen Gefangenenlager für politische Häftlinge eine Jing-Mei Gedenkstätte eingerichtet, die sich mit dem Weißen Terror der Militärdiktatur auseinandersetzt. Hier wird vieler Opfer der Militärdiktatur gedacht. Die öffentliche Aufarbeitung der eigenen Geschichte, schon die Möglichkeit, frühere Regierungen derart zu kritisieren, ist in der Volksrepublik dagegen ausgeschlossen.
China kann der stärker werdenden Identität nicht viel entgegensetzen
Anhand von Umfragen der Nationalen Chengchi Universität in Taiwan und der Hong Kong-Universität ist ersichtlich, dass das Zugehörigkeitsgefühl der Menschen in Hongkong und Taiwan auch abhängig von Pekings direkter Politik ist – positiv wie negativ. Die Olympischen Spiele 2008 und Chinas globale Präsenz beispielsweise haben zu einem Erstarken der chinesischen Identität geführt. Das Tiananmen-Massaker als Reaktion auf die Studierendenproteste 1989 hatte hingegen einen negativen Effekt, anschließend gaben weniger Menschen an, sich als Chines*innen zu identifizieren. Weniger einschneidende, aber langfristig bedeutsame Auswirkungen haben auch die beständigen Drohungen aus Peking.
Die Regierung in Peking kann die Identifizierung mit China also zu einem gewissen Grad beeinflussen, scheint diese Option aber gegenüber Taiwan kaum noch anzuwenden. Auch in Hongkong scheint sie mehr auf Einschüchterung und die Eindämmung möglichen Dissenses als auf aktive Überzeugungsarbeit zu setzen.
Anreize, die Peking bietet, nutzen vor allem denjenigen, die persönliche oder professionelle Beziehungen zu China haben. Sie können beispielsweise mit einer Einreisekarte unbürokratischer nach China reisen. Auch Handelsabkommen wie ECFA (Economic cooperation framework agreement, Rahmenvereinbarung der wirtschaftlichen Kooperation) sind vor allem im Interesse derer, die von stärkeren Handelsbeziehungen mit China profitieren. Gleichzeitig dürfte diese Gruppe besonders betroffen sein, wenn Handelsabgaben erhöht werden, wie beispielsweise vor den Wahlen Anfang Januar 2024. Der Schritt der Pekinger Regierung wurde weitläufig als Warnung vor einer Wiederwahl der DPP verstanden. Dies scheint die Wähler*innen aber nicht beeindruckt zu haben, sondern hat im Gegenteil die von China ausgehende Gefahr noch einmal bewusst vor Augen geführt.
Parteistaatliche Medien in China beschreiben Menschen aus Taiwan sehr konsequent als „Kompatrioten“. Das taiwanische Publikum der Artikel von People’s Daily und anderen dürfte überschaubar sein, wichtig ist die Rhetorik trotzdem. Einerseits wird gegenüber dem Publikum in der Volksrepublik so das Narrativ vertreten, dass Menschen aus Taiwan Teil ihrer Nation seien. Andererseits fällt der Begriff der „Kompatrioten“ oft in versöhnlichem, fast verständnisvollem Ton, wobei die Vorzüge eines mit China vereinigten Taiwans betont werden. Das zeigt, dass die Zugehörigkeit der Menschen für die Regierung in Peking wohl eine Rolle spielt – sie diese aber sehr anders zu sehen scheint, als die Menschen, um die es geht.
Pekings aktuelle Politik lässt darauf schließen, dass die Regierung die Identität der Menschen entweder nicht gut genug begreift, um darauf eingehen zu können – wahrscheinlicher ist aber, dass die Existenz einer solchen Identität für die KPCh so inakzeptabel ist, dass eine Koexistenz nicht ernsthaft in Betracht gezogen wird. Dementsprechend müssten die Identität der Menschen sowie verschiedene Elemente davon auch nicht speziell berücksichtigt werden.
Dass Menschen in Taiwan und China eine Familie seien und eine Kultur teilten, wird zwar von bestimmten Teilen der taiwanischen Politik vertreten und auch von der KPCh wiedergekäut, dieser Ansatz geht jedoch an der heutigen Lebensrealität vieler Menschen vorbei. Menschen, die selbst von China nach Taiwan geflüchtet oder in diesem Kontext aufgewachsen sind, fühlen sich typischerweise mit China verbunden. Vor allem jüngere Generationen kennen China aber vor allem als Bedrohung und haben deutlich weniger persönlichen Bezug zum Land. Viele können sich nicht vorstellen, zu einem Land zu gehören, dass ihre eigene Heimat nicht nur regelmäßig bedroht, in dem sie noch dazu nie selbst waren. Diese Erfahrung dürften mit der Zeit immer mehr Taiwaner*innen teilen, wodurch erfolgreiche Überzeugungsarbeit von Peking schwer vorstellbar ist.
Fazit
Überall entwickeln sich die Identitäten von Menschen weiter. In Hongkong werden die Möglichkeiten dazu aktiv von Gesetzen und Regierung begrenzt, was es vereinfacht, durch weichere Ansätze Bildung und Sprache zu beeinflussen. Gleichzeitig steht die Volksrepublik sowohl für Hongkong als auch für Taiwan als das „Andere“, in dessen Kontrast die eigene Identität steht. Die Dynamik, sich entgegen etwas „anderem“ zu definieren, funktioniert weltweit. Die Besonderheit im Fall Chinas liegt darin, dass die regierende Kommunistische Partei Ideologien und Identitäten abseits von und vor allem konträr zu sich selbst ablehnt und bekämpft.
Aktuell scheint Chinas Regierung auf mehr vom Gleichen zu setzen, so, als bewege sich Peking bei Taiwan mit der Zeit weg von weicheren Methoden und hin zu härteren Ansätzen. Durch militärische Drohmanöver sowie wirtschaftlichen und diplomatischen Druck kann Peking kaum „Herzen oder Köpfe“ gewinnen, wie es als Ziel der Außenpropaganda immer wieder angibt. Es bleibt daher abzuwarten, ob sich dieser Trend fortsetzt, oder ob die Regierung ihren Kurs angesichts von internen Schwierigkeiten und externem Druck, etwa durch andere Staaten, anpassen wird.
Taiwans nationale Identität ist vor allem durch die Erfahrung von Demokratisierung und freiheitlichen Werten geprägt. Ihre bisherigen Errungenschaften und Prozesse wie freie Wahlen stärkt diese Identität, verdienen aber mehr Unterstützung. Gerade andere Demokratien können und sollten diese Unterstützung deutlicher leisten und dazu beitragen, dass die Taiwanes*innen ihre Freiheiten und ihre Identität weiter bewahren und entwickeln können.
Sophie Reiß hat 2022-2023 als Analystin im Themenbereich für Innenpolitik und Gesellschaft am Mercator Institut für Chinastudien in Berlin gearbeitet und war vorher von 2020-2021 am EU-Institut für Sicherheitsstudien in Paris. Ihr Fokus liegt auf Pekings Politik gegenüber Hongkong und Taiwan, internen Debatten in China, sowie Chinas Einflussnahme im Ausland. Sie hat in China und Hongkong gelebt und wohnt jetzt in Taiwan.
Last modified: 19. August 2024