Zwangsinternate haben eine lange Geschichte. Auch westliche Länder haben Kinder aus ihren Kulturen gerissen – mit dramatischen Folgen für die Opfer. Während sich Demokratien für ihre Fehler entschuldigt haben, sitzen in Tibet bis heute Hunderttausende Kinder in Zwangsinternaten.
VON IRIS LEHMANN
„Im Namen von ganz Dänemark: Entschuldigung.“ Das sagte Mette Frederiksen, dänische Ministerpräsidentin, am 15. März 2022 in Nuuk, der Hauptstadt von Grönland, nachdem sie es eine Woche zuvor schon in Kopenhagen ausgesprochen hatte. Gerichtet war die Entschuldigung an die sechs letzten überlebenden grönländischen Inuit einer Aktion, die im Mai 1951 begonnen hatte. In eigentlich bester Absicht und nach Rücksprache mit der grönländischen Verwaltung holte die dänische Regierung 22 Inuit-Kinder im Alter von 6 bis 8 Jahren nach Dänemark, wo sie die dänische Sprache und Kultur erlernen sollten, um später einmal als grönländische Elite bei der Modernisierung Grönlands mitzuwirken.
Nach nur anderthalb Jahren kehrten 16 von ihnen nach Grönland zurück; sechs waren da schon in Dänemark adoptiert worden. Die 16 wurden aber nicht in ihre Familien zurückgebracht, sondern kamen alle in ein eigenes Heim in Nuuk und gingen mit dänischsprachigen Kindern zur Schule. Schon in Dänemark waren sie getrennt worden und hatten weder untereinander noch mit ihren Familien Kontakt. Als sie nach Grönland zurückkehrten, sprachen und verstanden sie schon nicht mehr ihre eigene Sprache. Später erfuhren sie, dass alles ein Experiment gewesen war, daher auch ihre Bezeichnung Experiment-Kinder. Auf die Entschuldigung der dänischen Regierung hatten sie fast ihr ganzes Leben lang gewartet.
Das Experiment ging gründlich schief: Eine Elite wurde aus keinem der Kinder. Dafür aber ist ihr Lebensweg gut dokumentiert. Fast alle litten ihr Leben lang an ihrem Identitätsverlust, viele an Depressionen, sie verfielen dem Alkohol, nahmen Drogen, brachten sich um. Viele von ihnen wurden keine 50 Jahre alt.
Bekannter als die Experiment-Kinder sind die unzähligen Fälle „indianischer“ Kinder in den USA und Kanada. Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts wurden in den USA die ersten Indian Boarding Schools (Internate) errichtet mit dem Ziel, die „indianischen“ Kinder zu „zivilisieren“ und zu assimilieren, indem sie ihre eigene Sprache, Religion und Kultur aufgeben mussten.
In ganz Kanada gab es in der Zeit von 1831 bis 1997 insgesamt gut 130 Indian Residential Schools (Internate), die sich an das System der Indian Boarding Schools anlehnten. Man geht heute davon aus, dass etwa 150.000 Kinder überwiegend von indigenen Völkern Nordamerikas in diese Schulen gezwungen wurden. Mindestens 6.000 Kinder verstarben während ihrer Schulzeit.
Obwohl viele Missstände längst bekannt waren, nicht zuletzt durch einen Bericht der 2008 gegründeten Truth and Reconciliation Commission of Canada (TRC, Wahrheits- und Versöhnungskommission), sorgte die Entdeckung von Kamloops, B.C., für neues Entsetzen. Im Frühjahr 2021 führten Ingenieure mit Hilfe von Radarstrahlen Untersuchungen des Bodens hinter der ehemaligen, von der katholischen Kirche geführten Kamloops Indian Residential School durch und fanden dabei 215 Kinderleichen. Nur 51 der Verstorbenen konnten noch identifiziert werden.
Das System des Herausreißens von Kindern aus ihren Familien und Kulturen war und ist aber nicht auf Nordamerika beschränkt. 2002 wurde der Film „Long Walk Home“ des australischen Regisseurs Philip Noyce weltweit auf Filmfestivals gezeigt und mit vielen Preisen ausgezeichnet. Der Film basiert auf einem Buch von Doris Pilkington, selbst Aborigine, in dem sie ihr eigenes Schicksal und das ihrer Mutter zugrunde legt und damit auf die „Lost Generations“ aufmerksam macht. Schätzungen zufolge sollen zwischen 1910 und 1976 rund 100.000 Aborigine-Kinder und ‚Mischlinge‘ gewaltsam ihren Familien entrissen und in spezielle Internatsschulen gebracht worden sein – mit dem bekannten Ziel der Assimilierung. Die oft desolate Situation der Aborigines – Entwurzelung, Alkoholismus, Suizide – wird auch darauf zurückgeführt. 2000 wurde Cathy Freeman, Aborigine, Olympiasiegerin im 400-Meter-Lauf in Sydney und damit zum nationalen Idol. Aber erst 2008 gab es von der australischen Regierung eine offizielle Entschuldigung.
Ähnlich erging es auch den Sami, dem letzten europäischen Nomadenvolk im Norden Skandinaviens, vor allem in Schweden. Als im ausgehenden Mittelalter schwedische Siedler immer weiter nach Norden vordrangen und die Nationalstaaten ihre Grenzen zogen, wurde der Lebensraum der Sami, die zum großen Teil Rentierzüchter waren, immer weiter eingeschränkt. Ab den 1920er Jahren wurden viele Kinder der Sami in reguläre Schulen geschickt, in denen nur Schwedisch gesprochen wurde und sie so ihre Sprache und Kultur verloren. Spezielle Nomadenschulen boten nur einen dürftigen Basisunterricht an. Erst in den 1960er Jahren setzte ein Umdenken ein, und 1977 wurden die sameskolor (Schulen für Sami) gegründet, in denen nun der normale schwedische Lehrplan gilt, daneben aber auch Samisch unterrichtet wird.
Ein weiterer Fall, während des Zweiten Weltkrieges geschehen, bis heute nicht aufgearbeitet: der organisierte Kinderraub der Nazis in Polen und auch in besetzten Gebieten der Sowjetunion. Zehntausende „rassisch hochwertige“ Kinder wurden, um sie zu „germanisieren“, in „Heimschulen“ verschleppt oder gleich zu „Adoptiveltern“ vermittelt. Da fast alle Spuren vernichtet wurden, konnten die Betroffenen nach dem Krieg kaum ihre Wurzeln auffinden, und bis heute werden sie mit ihrem Schicksal allein gelassen.
Besonders perfide: Im Osmanischen Reich bildeten die Janitscharen die Elitetruppe der Armee und die Leibwache des Sultans. Ab 1438 wurden dafür 7 bis 14 Jahre alte Jungen aus den unterworfenen christlichen Völkern verschleppt und in besonderen Schulen zwangsislamisiert und militärisch ausgebildet – um dann gegen die christlichen Feinde der Osmanen zu kämpfen.
Das Muster ist überall und immer wieder gleich: Siedler, Eroberer, Invasoren, Besatzer fallen in ein Land oder eine Region ein und versuchen, die ansässige Bevölkerung zu unterwerfen. Ein probates Mittel dabei sind die Schwächsten der Gesellschaft, die Kinder, die sicher auch am leichtesten „umformbar“ sind. Sie werden aus ihren Familien, ihren Gemeinschaften gerissen und möglichst weit entfernt in eigenen Internatsschulen oder gegebenenfalls auch in Pflegefamilien untergebracht. Sie dürfen ihre Familien nicht mehr sehen, ihre Sprache, Religion und Kultur nicht mehr gebrauchen, sondern müssen die Sprache und Kultur der Machthaber übernehmen. Ihre eigene Kultur wird oft als minderwertig dargestellt, und oft beginnen sie, sich dafür zu schämen, und nehmen z. B. auch neue Namen an, um ihre Herkunft zu verleugnen. Sie werden entwurzelt, ihrer Identität beraubt. Eine Rückkehr in die alte Gemeinschaft wird schwierig oder gar unmöglich, schon auf Grund des Verlustes der eigenen Sprache – von allen anderen Umständen einmal abgesehen. Die Ängste und Demütigungen vor allem am Anfang prägen, ein richtiges Familienleben gibt es nicht mehr für sie oder lernen sie nie kennen. Oft bestimmen Gefühle der Einsamkeit, Wert- und Sinnlosigkeit das weitere Leben mit den Folgen wie z. B. Alkoholismus, oder sie werden zu willigen und billigen Arbeitskräften.
So sind auch die Folgen für die tibetischen Kinder absehbar, die jetzt von den chinesischen Besatzern gezwungen werden, in Internatsschulen zu leben, in denen sie weder Tibetisch sprechen noch den Buddhismus und ihre Traditionen praktizieren dürfen und kaum Kontakt mit ihren Familien haben. Sie werden zu Entwurzelten – und da gilt es, so schnell und so breit wie möglich dagegen vorzugehen! Eine Entschuldigung wie von Mette Frederiksen ist von den chinesischen Besatzern ohnehin nicht zu erwarten und würde ja auch das Leid der Kinder nicht verringern.
Iris Lehmann ist seit 1991 Mitglied der Tibet Initiative. Zum ersten Mal 1986 in Tibet, danach noch weitere Reisen dorthin, u.a. zum Kailash und nach Osttibet. Außer für Tibet engagiert sich Iris auch für den Freundeskreis Lo-Manthang, der Projekte in Upper Mustang/Nepal unterstützt. Dadurch jährliche Reisen nach Nepal und intensive Kontakte mit den buddhistisch-tibetisch geprägten Bewohnern von Upper Mustang.
Last modified: 9. November 2022