
Gelencsér Ferenc ist stellvertretender Bürgermeister des ersten Bezirks von Budapest. Er setzt sich seit vielen Jahren für Tibet ein. In „Fünf Fragen“ berichtet er über seine prägende Zeit als junger Erwachsener in Dharamsala, Straßenschild-Protest in Budapest und seine Teilnahme an der Flaggenkampagne der Tibet Initiative.
VON TENZYN ZÖCHBAUER
Brennpunkt Tibet: Herr Bürgermeister, wie sind Sie zum ersten Mal mit Tibet in Kontakt gekommen und warum sprechen Sie sich öffentlich gegen die Menschenrechtsverletzungen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) aus?
Gelencsér Ferenc: Wie Sie wissen, war Ungarn, wie auch das übrige Mittelosteuropa, zwischen 1949 und 1990 unter kommunistischem Regime. Meine Eltern wurden 1947 und 1950 geboren und verbrachten den größten Teil ihres Lebens unter dieser kommunistischen Herrschaft, in der politische Handlungen und sogar Gedanken zensiert und sanktioniert wurden und die Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. Ich wurde 1990 in einem freieren Ungarn geboren, aber die Lebenserfahrung meiner Eltern hat dazu geführt, dass sie mich konservativ-liberal erzogen haben, mit einem soliden Fundament an Glauben an persönliche Freiheit, Rechte und an die Rechtsstaatlichkeit, etwas, das kommunistischen Regimen im Allgemeinen fehlt.
Ich habe gute Gründe, mich öffentlich gegen die KPCh auszusprechen. Ich hatte die Gelegenheit, in Dharamsala zu arbeiten, wo ich ein Freund der tibetischen Nation wurde. Im Laufe meiner dortigen Arbeit habe ich viel über die tibetische Geschichte und Kultur gelernt, und das tibetische Volk ist mir ans Herz gewachsen.
Ein Teil meiner Familie hat mehr als ein Jahrzehnt in Hongkong gelebt, meine Neffen sind dort aufgewachsen. Sie nennen es ihre Heimat, die sie vor einigen Jahren wegen der Veränderung des politischen Klimas verlassen mussten. Mein bester Freund, ein Taiwaner, befürchtet, dass sein Land Opfer des ständig wachsenden Appetit Chinas werden könnte.
Wie kam es zu Ihrem Freiwilligendienst bei „Tibet World“ und was war die prägendste Erfahrung in Dharamsala?
Ich wurde in dem Bewusstsein erzogen, dass mit Privilegien auch Verantwortung einhergeht. Mit gerade einmal 22 Jahren beschloss ich mit zwei Freunden, auf jeden Fall einen Freiwilligendienst in einer Nichtregierungsorganisation zu leisten. Wir hatten zuvor von Dharamsala gehört und wussten, dass es dort alle Hände voll zu tun gibt.
Die drei Monate, die ich in McLeod Ganj verbrachte, haben mein Leben für immer verändert. Ich glaube, dass es sich zum Positiven verändert hat. Ich arbeitete, lebte und aß mit den Einheimischen. Ich würde nicht sagen, dass ich als Buddhist nach Hause gekommen bin, aber die Belehrungen, an denen ich teilgenommen habe, hatten ganz sicher einen Einfluss auf meine Lebensauffassung. Ich lernte, wie wichtig es ist, ein natürliches Gleichgewicht mit der Umgebung zu entwickeln. Und ich machte mir den Gedanken zu eigen, dass nichts von Dauer ist und wir im Leben Dinge loslassen müssen. Vor allem aber bestärkte mich diese Erfahrung in meinem tiefen Glauben an die Bedeutung der persönlichen Freiheit, der Menschenrechte und des Rechts auf Selbstbestimmung nicht nur als Person, sondern als Volk.

Im Juni 2021 wurden die Straßen rund um ein Bauprojekt der chinesischen Fudan-Universität in Budapest umbenannt. Wie kam es zu der Aktion?
Die Umbenennung von Straßennamen gehört zu den wenigen Möglichkeiten, die die ungarische Regierung den lokalen Gemeinden überlässt. In den letzten 12 Jahren hat die Regierung das Konzept der lokalen Demokratie langsam abgebaut, indem sie den Gemeinden ihre Zuständigkeiten entzogen hat. Die Umbenennung der Straßen war eine ironische politische Aktion, um zu zeigen, dass die Ungarn nicht mit der Regierung gleichzusetzen sind. Und dass 90 Prozent der Budapester eine eher konträre Vorstellung von der Aufnahme der Universität der KPCh haben, als es die Zentralregierung kommuniziert.
Die Fudan-Universität ist ein bekanntes und angesehenes Institut, doch ihre Loyalität gilt nicht der Wissenschaft. In ihrer Präambel heißt es: „Die Universität ist der Führung der Kommunistischen Partei Chinas treu ergeben, folgt der Bildungspolitik der Partei und führt sie aus, und sie akzeptiert die führende Rolle des Marxismus.“ Darüber hinaus sollte das Projekt durch ein chinesisches Darlehen in Höhe von 1,8 Milliarden USD an Ungarn finanziert werden. Es stellt sich die Frage, warum die ungarischen Steuerzahler für die Eröffnung einer chinesischen Universität in der Hauptstadt zahlen sollten.
Viele Regierungen handeln immer noch mit China und schweigen über Menschenrechtsverbrechen. Wie beurteilen Sie Ungarns derzeitige Politik mit China?
Zu schweigen, ist eine Sache, die chinesischen Investitionen aktiv zu unterstützen, eine andere. Das Fudan-Projekt ist nur eine der besorgniserregenden Maßnahmen, die die Regierung ergriffen, hat. Unsere Regierung hat mit Huawei eine Absichtserklärung über den Aufbau eines 5G-Netzes in unserem Land unterzeichnet. Huawei ist jenes Unternehmen, das an der Gesichtserkennungssoftware gearbeitet hat, die die KPCh gegen die Uiguren einsetzt. Ihre Smartphones können aus der Ferne so eingestellt werden, dass sie Schlüsselwörter wie „Free Tibet“ oder „Es lebe die Unabhängigkeit Taiwans“ erkennen und entsprechende Inhalte blockiert werden, eine eingebaute Zensur. Unsere Nutzerdaten könnten dann auf chinesischen Servern landen.
Ungarn wird zu einem chinesischen trojanischen Pferd. Ein EU-Mitgliedstaat wird im Grunde genommen gerade an China verkauft.
Neben Huawei und Fudan muss ich auch den Bau der Eisenbahnlinie Budapest – Belgrad erwähnen. Die Kosten werden auf 2,5 Milliarden USD geschätzt, wovon 85 Prozent durch ein chinesisches Darlehen der Eximbank gedeckt sind und der Bau von chinesischen Unternehmen durchgeführt wird. Dabei handelt es sich um die China Railway Electrification Engineering Group und die China Tiejiuju Engineering & Construction. Der finanzielle Rückfluss liegt schätzungsweise irgendwo zwischen 130 und 2000 Jahren. Die Einzelheiten der Vereinbarung gelten als Staatsgeheimnis und dürfen 10 Jahre lang nicht offengelegt werden. Wie Sie sehen können, wird ein EU-Mitgliedstaat im Grunde genommen gerade an China verkauft. Ein ziemlich gefährlicher Weg.
Anhand dieser Beispiele können Sie sehen, wie Ungarn, ein EU-Mitgliedstaat, zu einem chinesischen Trojanischen Pferd wird. Man könnte fragen, warum das so eine große Sache ist und was die Aufregung soll. Es geht doch nur um die Wirtschaft. Aber es geht um mehr. Ungarn blockiert ständig Stellungnahmen der EU, in denen China für seine Menschenrechtsverletzungen verurteilt wird und Sanktionen, die die EU gegen China verhängen würde.
Am 10. März 2022 nahm Ihr Bezirk zum ersten Mal an der Flaggenkampagne der Tibet Initiative teil. Was hat Sie dazu motiviert?
Das Mindeste, was wir tun können, ist, das Bewusstsein für Dinge zu schärfen, die in der Öffentlichkeit zu wenig bekannt oder gar unbekannt sind. Als stellvertretender Bürgermeister muss ich jede Entscheidung sorgfältig abwägen, bevor ich etwas unternehme. Aber mein moralischer Kompass hilft mir, das Richtige zu tun; und die tibetische Flagge zu hissen, öffentlich über die Sache zu sprechen und sich an der Kampagne zu beteiligen, war auf jeden Fall das Richtige. Wie ein Sprichwort sagt: Das Einzige, was für den Triumph des Bösen nötig ist, ist, dass gute Menschen nichts tun. Ich sage nicht, dass ich ein guter Mensch bin, aber ich möchte auf jeden Fall von Tag zu Tag ein besserer Mensch werden.

Ferenc Gelencsér begann sein Studium an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest und schloss es an der Corvinus-Universität ab. Dort war er Mitglied des Senats und später Gründungsmitglied von Momentum, einer liberalen und pro-europäischen politischen Partei in Ungarn. Er engagierte sich als freiwilliger Helfer bei „Tibet World“ in Dharamsala und arbeitete im Kulturdienst des Balassi-Instituts an der ungarischen Botschaft in Brüssel. Seit zwei Jahren ist er stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Budavár, dem ersten Bezirk von Budapest.
Last modified: 16. August 2022