Der ehemalige Übersetzer des Dalai Lama Christof Spitz sagt: Die tibetische Gemeinschaft muss sich weiterentwickeln und modernisieren. Gerade jüngere Tibeter sind kritisch gegenüber gesellschaftlichen Strukturen der Vergangenheit. Die Tibet Initiative muss sie bei ihrem Reformwillen unterstützen.
VON CHRISTOF SPITZ
Es ist nicht einfacher geworden, um für das Selbstbestimmungsrecht des von China unrechtmäßig besetzten und unterdrückten Tibet Fortschritte zu erreichen. Zwar sind Politik und Öffentlichkeit durch Chinas immer aggressiver vorangetriebenen Aufstieg zur Weltmacht alarmiert; und das sollte die Augen für die Unterdrückung der Tibeter öffnen. Doch wegen der Fokussierung auf geopolitische und wirtschaftliche Interessen droht die Lage der Tibeter einmal mehr unter dem Radar zu verschwinden.
Ein Vakuum in der öffentlichen Wahrnehmung Tibets tut sich dadurch auf, dass der Dalai Lama aufgrund seines Alters nicht mehr weltweit reisen und dabei als prominenter Fürsprecher Tibets fungieren kann. Und noch etwas hat sich verändert: 2011 hat er die politische Macht an eine demokratisch gewählte Führung im Exil übertragen. Der Dalai Lama fungiert nur noch als religiöses Oberhaupt. Folgerichtig nimmt er kaum noch öffentlich zu politischen Fragen zu Tibet Stellung. Diese Lücke kann von der gewählten Führung nicht ausgefüllt werden. Man hört kaum etwas von Begegnungen tibetischer Repräsentanten mit ranghohen westlichen Politikern, wie wir es davor vom Dalai Lama kannten. Er nutzte Gespräche, um auf die Tragödie seines Volkes aufmerksam zu machen. Wir als Tibet Initiative haben die Aufgabe, den gewählten politischen Vertretern der Exilgemeinschaft in der Öffentlichkeit und in der Politik mehr Gehör zu verschaffen. Zudem suchen wir neue Wege, die Tibet-Frage präsent zu halten. Die Tournee des tibetischen Theaterstückes „Pah-Lak“ in Europa war ein neuer Schritt und Erfolg in diese Richtung.
Das Thema der Dalai-Lama-Nachfolge – er feiert im Juli 2023 seinen 88. Geburtstag – wird heftig diskutiert. Da diese Institution religiöser Natur ist, gehört die Entscheidung, ob und wie dieses religiöse Amt fortgeführt wird, ganz allein in den Bereich der kulturellen Selbstbestimmung der Tibeter. Unsere Aufgabe besteht darin, auf diesem Selbstbestimmungsrecht zu bestehen. Fest steht: Die chinesische Führung hat keinerlei Legitimation, den nächsten Dalai Lama zu bestimmen. Es ist nichts als ein absurdes, inakzeptables Ansinnen, mit dem Peking eine vollständige Kontrolle über das religiöse Leben Tibets demonstriert mit dem Ziel, die tibetische Religion zu sinisieren.
Wie organisiert sich aber die tibetische Gemeinschaft im Exil politisch und gesellschaftlich? Wenn der Westen die tibetische Sache unterstützen soll, ist es wichtig, dass die tibetische Gemeinschaft den Weg der Demokratisierung und gesellschaftlichen Modernisierung fortsetzt, wie ihn der Dalai Lama verfolgt. Ich bin mir sicher, dass dem Dalai Lama beim Vorantreiben der Demokratisierung des politischen Systems im Exil auch bewusst war, dass dies erheblich dazu beiträgt, Glaubwürdigkeit, Sympathie und damit Unterstützung in der Welt zu gewinnen. Es ist Ausdruck seiner Klugheit und Weitsicht. Die Demokratisierung ist auch Beleg dafür, dass es den Tibetern im Exil nicht um die Wiederherstellung alter Privilegien oder eines theokratischen Systems geht – was viele im Westen abschrecken würde.
Deshalb müssen wir ein großes Interesse daran haben, dass die tibetischen Institutionen im Exil weitermachen, eine moderne Gesellschaft zu gestalten, die auf der Trennung von Staat und Religion, Transparenz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beruht – also genau das, was die chinesische Führung den Menschen in Tibet, Hongkong und in ganz China verwehrt. Für uns als Tibet Initiative wird es immer dringlicher, auch junge Leute einzubeziehen und zu unterstützen. Jüngere Generationen aber sind noch kritischer gegenüber gesellschaftlichen Strukturen der Vergangenheit. Auch und gerade die jüngeren, gut ausgebildeten Tibeter im Exil sind kritischer und fordern deshalb Modernisierung und Transparenz ein. Viele von ihnen brennen darauf, sich für ihre Landsleute und ihr Land einzusetzen. Das ist wunderbar. Tibet braucht ihr Engagement. Der Weg der Erneuerung muss fortgesetzt werden.
Christof Spitz war langjähriger Übersetzer des Dalai Lama, ist Mitbegründer des Netzwerkes Ethik heute und seit 2018 Mitglied im Vorstand der Tibet Initiative Deutschland.
Last modified: 23. August 2023