
Die Lehre von der Wiederverkörperung bzw. Reinkarnation ist ein wichtiger Bestandteil der buddhistischen Lehre und hat besondere Implikationen und Ausprägungen innerhalb des tibetisch-buddhistischen Kulturraumes erfahren. Speziell das System der sogenannten Tulkus, welches auf dem Grundgedanken der Wiedergeburt basiert, stellt ein Spezifikum des tibetischen Buddhismus dar.
VON JÜRGEN MANSHARDT
Innerhalb der gesamten Geisteswelt der anderen buddhistischen Länder und Traditionen gibt es nichts Vergleichbares. Und die bisher 14 Verkörperungen des Dalai Lama, welche von den Tibetern als eine der bedeutsamsten Tulku-Linie verehrt werden, bilden daher ein ebensolches Spezifikum der tibetisch-buddhistischen Kultur. Angesichts der widerrechtlichen, gewaltsamen Besetzung Tibets durch die chinesischen Machthaber und die bis heute andauernde massive Unterdrückung und Zerstörung der tibetischen Kultur und schwerster Menschenrechtsverletzungen ist die Frage, wie im Falle des Ablebens S.H. des 14. Dalai Lama die Nachfolge gewährleistet werden kann, von entscheidender Bedeutung für das gesamte tibetische Volk, sein Überleben als Nation und das Fortbestehen der eigenständigen Hochkultur. Der Dalai Lama, sowohl als Person wie auch als Institution, ist auch deshalb von überragender Bedeutung, weil er als Friedensnobelpreisträger, höchster Repräsentant des tibetischen Buddhismus und als weltbekannte Symbolfigur und Fürsprecher des tibetischen Volkes das Freiheitsstreben seit Jahrzehnten am Leben erhält. Zudem ist der Dalai Lama die wichtigste Integrationsfigur für alle Tibeter und wird von ihnen als Schutzpatron verehrt. Die kulturelle Identität, der Zusammenhalt der Tibeter und die weltweite Aufmerksamkeit für die prekäre und desolate Situation in Tibet wären ohne den Dalai Lama schwerlich aufrechtzuerhalten. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) mit allen Mitteln versucht, den Dalai Lama in der Weltöffentlichkeit zu diskreditieren und die Verehrung, die er bei seinen Landsleuten genießt, zu untergraben. Und da viele der vorherigen Dalai Lamas bislang nicht nur die spirituellen, sondern auch die weltlichen Führer des Landes waren, lassen die chinesischen Machthaber seit Jahren verlautbaren, dass es die KPCh sein wird, welche die Nachfolge des Dalai Lama bestimmt.
Was bedeutet Reinkarnation im tibetischen Buddhismus?
Die Grundlage für die Lehre der Wiedergeburt ist die Annahme, dass das Bewusstsein eines jeden Lebewesens, speziell die tiefsten und grundlegenden Schichten des Gewahrseins, ein jeweils anfangs- und endloses Kontinuum bilden. Dieser Strom des subtilen Bewusstseins beruht auf den jeweils vorausgehenden Bewusstseinsmomenten, die die Hauptursache für die jeweils nachfolgenden Wahrnehmungen bilden. Dabei unterscheidet die buddhistische Psychologie viele verschiedene Arten von Wahrnehmungen und unterschiedliche Subtilitätsgrade von Bewusstsein. Oberflächliche Sinneswahrnehmungen, flüchtige Gedanken und Emotionen entstehen und vergehen und ergeben keinen durchgängigen Bewusstseinsstrom. So kommen sie etwa in den Tiefschlafphasen und spätestens im Todesprozess zum Erliegen. Und so sind es nur die grundlegenden und subtilen Formen des Bewusstseins, welche die Basis für die Kontinuität des Geistes bilden und als Hauptursache für eine Wiedergeburt angesehen werden.
Reinkarnation wird auch durch die Annahme begründet, dass das subtilste Bewusstsein, nicht zwangsläufig an etwas Körperliches gebunden ist. Zwar sind gröbere Geisteszustände, wie etwa unsere Sinneswahrnehmungen, sehr stark an neuronale Prozesse gebunden, nicht aber die subtilsten Bewusstseinsstufen. Sie mögen zwar damit korrelieren, sind aber für ihr Bestehen aufgrund ihrer immateriellen Grundnatur nicht davon abhängig. Damit wird begründet, dass der Strom des subtilsten Bewusstseins sich sogar über den physischen Tod hinweg fortsetzen kann. Dies wird als kausalbedingter und abhängiger Prozess verstanden, der keinerlei ewige und unveränderliche Seele oder ein beständiges, unabhängiges Selbst impliziert; denn im Buddhismus wird von Anatta (Skt. anātman) bzw. Ich-Losigkeit gesprochen, welche sich aus dem Prinzip des Bestehens in wechselseitiger Bedingtheit (Skt. Pratītyasamutpāda) ableitet. Alle Dinge existieren in vielfacher Abhängigkeit von komplexen Zusammenhängen und besitzen keinen substanziellen, absoluten Wesenskern. Alle Phänomene, und folglich auch der Bewusstseinsstrom sämtlicher Lebewesen, sind daher leer (Skt. śūnya) von Eigenexistenz.
Reinkarnation wird auch durch die Annahme begründet, dass das subtilste Bewusstsein, nicht zwangsläufig an etwas Körperliches gebunden ist.
Dies sind die Grundlagen für die Annahme, dass Lebewesen nach ihrem Tod wiedergeboren werden. Die Art der Wiedergeburt ist allerdings von vielen Faktoren abhängig. Im Buddhismus wird in diesem Kontext besonders das individuell angesammelte Karma genannt: Je nachdem, welche Taten ein Individuum in den vorherigen Leben begangen hat, und welches von diesen karmischen Potenzialen zur Auswirkung kommt, nimmt ein Individuum eine neue Geburt in einem von sechs Daseinsbereichen an, von denen einer der menschliche ist. Bei gewöhnlichen Wesen geschieht dies unfreiwillig und ohne Kontrolle oder bewusste Einflussnahme. Dieser Kreislauf von Tod und Wiedergeburt (saṃsāra), unfreiwillig in Gang gehalten durch die Geistesplagen wie Unwissenheit, Begehren und den daraus entstehenden Taten, ist leidhaft und soll durch den buddhistischen Pfad überwunden werden. Ziel ist seine Beendigung, das nirvāna.
Einem anderen Paradigma folgt der Bodhisattva-Pfad des Mahāyāna-Buddhismus. Der Bodhisattva ist von Mitgefühl und Güte motiviert und ist bestrebt, über viele Leben hinweg seine altruistischen Handlungen und seine Weisheit zu vervollkommnen, um allen Wesen in bester Weise helfen zu können. Hier wird der kontinuierliche Bewusstseinsstrom also positiv gesehen. Dabei sind fortgeschrittene Bodhisattvas und schließlich Buddhas in der Lage, sich vielfach zum Wohle der Wesen zu verkörpern. So verehren die Tibeter den Dalai Lama als Verkörperung von Avalokiteśvara, dem Bodhisattva bzw. Buddha des allumfassenden Mitgefühls.
Verwirklichte Meditationsmeister können also durch intensive Geistesschulung einen Reifegrad erlangen, der ihnen ermöglicht, die Prozesse der Wiedergeburt weitgehend oder vollständig selbstbestimmt zu regulieren. Solche vergeistigten, willentlich reinkarnierten Lamas (auf Skt. guru) werden im Allgemeinen als Tulku (Tib. sPrul sku) bezeichnet, was dem Sanskrit-Terminus Nirmānakāya entspricht. Die erste Silbe von Tulku, das tul (sPrul), bedeutet so viel wie Emanation oder Ausstrahlung, und die zweite Silbe ku (sKu) heißt wörtlich Körper, wobei nicht ein physischer Körper gemeint ist, der aus grob stofflicher Materie bestehen würde. Vielmehr bezieht sich der Begriff auf einen feinstofflichen Geistkörper eines vollkommen erleuchteten Buddha. Dieser dient insbesondere dazu, mit den gewöhnlichen Wesen in Verbindung zu treten, um ihnen zu ermöglichen, sich aus dem leidhaften Daseinskreislauf zu befreien.
Wenn man die Bezeichnung Tulku strikt interpretierte, müsste jeder Tulku eigentlich ein vollkommen Erwachter, ein Buddha sein. Nach landläufiger Ansicht der Tibeter sind aber nur die wenigsten Tulkus tatsächlich erleuchtete Wesen. Insofern gibt es unterschiedliche Abstufungen von reinkarnierten Lamas. Allen gemein ist, dass sie „zumindest“ ihre Wiedergeburt weitgehend selbst wählen und aus Mitgefühl für die Lebewesen weiterhin in dieser Welt wirken. So kann man verallgemeinernd sagen, dass ein Tulku ein hoch verwirklichter Lama ist, der sich aus Mitgefühl freiwillig, bewusst und selbstbestimmt reinkarniert, um die Lebewesen auf ihrem spirituellen Pfad zur Erleuchtung zu unterstützen.

Die Tulku-Linien
Nun hat sich als Besonderheit im tibetischen Buddhismus, der sehr von dem Guru- bzw. Lama-Prinzip geprägt ist, im Laufe der Geschichte ein besonderes System der Tulku- und Reinkarnationslinien herausgeprägt. Wenn wir hier von Linien sprechen, so bedeutet dies eine (meist) ununterbrochene Abfolge von Tulkus, die sich über mehrere Existenzen hinweg zum Wohle der Wesen als Wiedergeburt des jeweiligen „Vorgängers“ offenbart haben. Diese Tradition der Tulku-Linien begann nach tibetischer Darstellung im 12. Jahrhundert mit dem 2. Karmapa, der als Wiedergeburt des posthum zum 1. Karmapa erklärten Großmeisters Düsum Khyenpa (1110-1193) verehrt wurde. Seitdem hat sich diese Tradition in Tibet etabliert, und die Zahl der Tulku-Linien ist massiv angewachsen. Die Gesamtzahl der anerkannten Tulkus vor der Besetzung Tibets wird auf etwa zehntausend geschätzt, während es im Exil mehrere Hundert geben soll. Davon sind einige sogar im Westen wiedergeboren.
Neben den herausragenden Inkarnationslinien, von denen der Dalai Lama die prominenteste ist, gibt es viele andere Tulku-Traditionen, die in der Geschichte Tibets spirituelle und auch weltliche Rangstufen bekleideten. Das Tulku-System hat im Laufe der Jahrhunderte eine bemerkenswerte Rolle bei der Bewahrung und Verbreitung des tibetischen Buddhismus gespielt. Oft waren es hochrangige Tulkus, welche bedeutende Klöster und Lehrtraditionen gegründet und aufrechterhalten haben. Darüber hinaus haben nicht nur die Dalai Lamas, sondern auch viele andere Tulkus politischen und gesellschaftlichen Einfluss genommen und so die Geschichte Tibets maßgeblich mit geprägt. Die Tulku-Linien haben eine wichtige Funktion, um die Kontinuität der spirituellen Gemeinschaft eines eminenten Lehrers oder eines Klosters zu gewährleisten. So kann eine Art spirituelle Erbfolge auch im buddhistischen Rahmen ermöglicht werden, wo die Lehrer meist als Mönche im Zölibat oder als Einsiedler ohne Familie leben. Es gibt in den vier großen Schulrichtungen des tibetischen Buddhismus nur zwei, deren Oberhaupt nicht als Reinkarnation des Vorgängers bestimmt wird: In der Sakya-Tradition gibt es eine Erbnachfolge ähnlich wie in einem Adelshaus, und in der Gelug-Tradition wird das Oberhaupt aus den höchsten Mönchsgelehrten ausgewählt, unabhängig davon, ob die Kandidaten zu einer Tulku-Linie gehören oder nicht.
Allerdings, und dies ist eine der prinzipiellen Problematiken des Tulku-Systems, gibt es immer wieder heftige Kontroversen hinsichtlich des rechtmäßigen Nachfolgers. Vielen Kritikern, zu denen nicht wenige der hochrangigen Tulkus, wie sogar der Dalai Lama selbst, der frühere Premierminister der tibetischen Exilregierung, Samdhong Rinpoche, gehören, gilt es als unzeitgemäße und korrumpierbare Institution, die mannigfaltigen Missbrauch ermöglicht. Zudem wird besonders am bisherigen Tulku-System die Schwachstelle der früheren Kultur deutlich, nämlich die mangelnde Trennung von Religion und Staat. So war die Anerkennung von hochrangigen Tulkus oft politisch motiviert und nicht selten mit etwaigen Ränkespielen und Machtintrigen verbunden. Entsprechend gibt es in der tibetischen Gesellschaft Diskussionen darüber, ob das Tulku-System noch zeitgemäß ist, und der Dalai Lama hat in Frage gestellt, ob ein zukünftiger Dalai Lama durch Wiederauffinden seiner Reinkarnation bestimmt werden muss. De facto aber verehren viele Tibeter ihre reinkarnierten Rinpoches, und die Zahl der anerkannten Tulkus nimmt eher noch zu als ab.
Die Linie der Dalai Lamas
Die Geschichte der Dalai Lamas ist eng mit der Gelug-Schule des tibetischen Buddhismus verbunden, die von dem großen Gelehrten und Meister Je Tsongkhapa im 14. Jahrhundert gegründet und später zu einer der einflussreichsten buddhistischen Traditionen wurde. Ab dem 16. Jahrhundert war sie eng mit der politischen Regierungsmacht in Zentraltibet, dem Ganden Phodrang, verbunden.
Die Linie des Dalai Lama hatte ihren Anfang im 15. Jahrhundert, denn der große Meister Gendun Drub (1391 –1475) wurde nachträglich als erster Dalai Lama betitelt. Die Bezeichnung „Dalai“ stammt aus dem Mongolischen und wurde zuerst dem 3. Dalai Sönam Gyatso (1543– 1588) von dem mongolischen Herrscher Altan Khan verliehen, aber posthum auch auf seine beiden Vorgänger angewendet.
Die Reinkarnation des Dalai Lama wird durch ein komplexes Verfahren bestimmt, das auf verschiedenen Anzeichen, Visionen und Prophezeiungen beruht. Nach dem Tod eines Dalai Lama suchen hochrangige Lama-Gelehrte nach der nächsten Inkarnation. Es werden verschiedene Prüfungen durchgeführt, um die tatsächliche Reinkarnation zu bestätigen; eine der bekanntesten besteht darin, dass die Kandidaten einige der Gegenstände des vorherigen Dalai Lama wiedererkennen müssen. Wenn ein Kandidat als Reinkarnation bestätigt wird, erhält dieser eine umfassende Ausbildung, um seine Rolle als spiritueller und politischer Führer ausfüllen zu können. Der derzeitige Dalai Lama, Tenzin Gyatso, wurde 1935 geboren und im Alter von zwei Jahren als 14. Dalai Lama anerkannt.
Jürgen Manshardt engagiert sich schon seit 1987 für Tibet. Er ist Tibetisch Übersetzer und Herausgeber buddhistischer Bücher und Dolmetscher. Er arbeitet auch als Gestalttherapeut und Seminarleiter, wissenschaftlicher Fachberater und Autor. Er leitete Projekte im Ausland, so z. B. ein Child-Care-Projekt in Indien, und lebt mit seiner Familie in Berlin.
Last modified: 18. Januar 2024