
Taiwans unerschütterlicher Kampf für Freiheit und Demokratie gegenüber China: Ein Blick auf Taiwans einzigartige Identität, geopolitische Herausforderungen und die Bedeutung des Landes als Leuchtfeuer für die regionale Demokratie.
KOMMENTAR VON PROF. DR. SHIEH JHY-WEY
Am 13. Januar hat Taiwan einen neuen Präsidenten gewählt. Frei und direkt, friedlich und reibungslos. Einen neuen, weil die taiwanische Verfassung vorsieht, dass diese wichtige Position nur für zwei Amtszeiten ausgeübt werden darf. Taiwan ist eben nicht China und Präsidentin Dr. Tsai Ing-wen nicht Xi Jinping, der die Verfassung hat ändern lassen, um bis an sein Lebensende Staatsoberhaupt von China bleiben zu dürfen. Das beschert uns Taiwanern ein Doppel-Déjà-vu: Sowohl Generalissimo Chiang Kai-shek (1887-1975) als auch sein Sohn Chiang Ching-kuo (1910-1988) haben Taiwan mit Kriegsrecht regiert und sich über die Verfassung hinweggesetzt. Die Taiwaner weigern sich, mit China vereinigt zu werden, WEIL sie Chiang Kai-shek und seinen Sohn überwunden haben und nicht wieder ein ähnliches Erbe antreten wollen.
Trotz wiederholter Warnungen von Peking haben sich die Taiwaner bei der Präsidentschaftswahl für den Kandidaten der Regierungspartei (DPP) entschieden, die Xi Jinping und sein kommunistisches Regime wie die Pest hasst. Die Democratic Progressive Party (DPP) ist eine Partei, die großen Wert auf Freiheit und Demokratie wie auch die wertorientierte Bindung zum Westen legt und konsequenterweise China kritisch gegenübersteht. Dagegen spricht sich die größte oppositionelle Partei, die Nationale Volkspartei Chinas (KMT), in Taiwan generell für Nähe zu China aus.
Kaum 24 Stunden nach Wahlschluss gab Peking denn auch bekannt, dass sich der Inselstaat Nauru im Pazifischen Ozean, einer der 13 Staaten, die bisher diplomatische Beziehungen zu Taiwan unterhalten hatten, mit sofortiger Wirkung von Taiwan abkehrt, um diplomatische Beziehungen mit China aufzunehmen. So gibt die Kommunistische Partei China (KPCh, engl. CCP) den Taiwanern zu verstehen, dass CCP nicht nur „Chinese Communist Party“ bedeutet, sondern auch „China Can Punish“.
Taiwan verdient Schutz
Woher nehmen die Taiwaner diesen Mut, um diesem riesigen, Feuer speienden Drachen zu trotzen, ihm eine schallende Ohrfeige zu versetzen? Das kommunistische China behauptet nämlich einerseits, Taiwan sei seit eh und je ein Teil von China und müsse zurückgeholt werden, mit oder ohne Gewalt. Auf der anderen Seite sagt es wiederum, Menschen- und Bürgerrechte würden nicht zur chinesischen Kultur passen. Deswegen unsere Frage: Wie hat Taiwan es geschafft, aus der einstigen Diktatur eine lebhafte, ja beispielhafte Demokratie auf die Beine zu stellen? Taiwan ist demnach nicht unbegründet dem kommunistischen Regime Chinas ein Dorn im Auge.
Wenn das Argument stimmte, Taiwan gehöre zur chinesischen Kultur, dann müsste China Tibet wie auch Xinjiang sofort an die Tibeter und die Uiguren zurückgeben, da dies weder auf Tibet noch auf Xinjiang zutrifft.
Wer nun meint, Chinesen dürften eine andere Vorstellung von Werten haben als die Europäer, zum Beispiel zu Meinungs-, Presse-, Religionsfreiheit, Mehrparteiensystem usw., der sollte sich fragen: Wozu braucht das Regime in Peking so viele Gefängnisse und Stasi-Kräfte im ganzen Land?
Wenn das Argument stimmen sollte „Taiwan gehöre zur chinesischen Kultur und sei seit eh und je ein Teil von China“, dann müsste China Tibet wie auch Xinjiang sofort an die Tibeter und die Uiguren zurückgeben, da sich dieses Argument ganz und gar nicht auf Tibet und Xinjiang anwenden ließe. Was Hongkong anbelangt, so war es mir immer ein Rätsel, warum sechs Millionen Menschen, die bis zur Rückgabe von den Briten an China in einem freien politischen System gelebt hatten, einem Regime übergeben werden durften, das sein Volk mit einem genau entgegengesetzten System regiert und kontrolliert.
Eine Demokratie wie Taiwan direkt vor Chinas Küste ist in der Region eine rare Bastion, die geschätzt und geschützt werden muss. Als Taiwans Repräsentant in Deutschland bin ich sehr oft unterwegs und halte Vorträge über die besondere Lage Taiwans. Als „Repräsentant“, nicht als Botschafter, weil Deutschland, wie fast die ganze Welt, diese demokratische, selbstregierte Inselrepublik zwar als etablierte Demokratie schätzt, aufgrund der strengen Ein-China-Politik jedoch nicht als einen völkerrechtlichen Staat anerkennt. Konsequenterweise bin ich bis heute auch nicht akkreditiert worden, was unter anderen heißt, dass ich zu keinem offiziellen Empfang für Botschafter eingeladen werde.
Es gibt zwei Chinas
Die Volksrepublik gibt sich keineswegs zufrieden mit dieser Ein-China-Politik und pocht auf ihr Ein-China-Prinzip, das behauptet, dass es auf der Welt nur ein China gibt, nämlich die Volksrepublik China, und Taiwan zu diesem China gehöre. Uns Taiwanern erscheint diese Argumentation schon allein deswegen lächerlich, weil die Volksrepublik China erst 1949 gegründet wurde und Taiwan seitdem keinen einzigen Tag regiert hat.
Der offizielle Name von Taiwan lautet bis heute immer noch „Republik China – The Republic of China“. Es gibt in gewissem Sinne also zwei Chinas. Diese Republik wurde im Jahre 1912 gegründet, und Chiang Kai-shek war ihr Präsident, als der Zweite Weltkrieg 1945 zu Ende ging. Unmittelbar danach setzte sich der Bürgerkrieg zwischen der von Mao Zedong geführten Kommunistischen Partei und Chiang fort und endete damit, dass Mao seinen Kontrahenten und regierenden Präsidenten Chiang in die Flucht nach Taiwan schlug.
Diese Insel, so groß wie Baden-Württemberg, wurde 1895 von der letzten chinesischen Dynastie nach einem verlorenen Krieg an die Japaner abgetreten und ging nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an Chiangs Republik China zurück. Bald haben Massaker und die Verfolgung Andersdenkender durch die neue Herrschaft aus China die Freude der Taiwaner über die Rückkehr zunächst in Enttäuschung und dann gar in Wut verwandelt. Die Kluft zwischen gebürtigen Taiwanern und dem Regime konnte größtenteils erst in den letzten Jahren geschlossen werden.
Die Wunde der ersteren jedoch nicht, weil Chiangs Partei, die KMT, nach mehr als 70 Jahren die Vereinigung mit China immer noch nicht aufgibt und zuweilen den Eindruck erweckt, sie würde mit der KPCh liebäugeln, um gemeinsam die Unabhängigkeitsbewegung von Taiwan zu bekämpfen. Dabei bemühen sich die Taiwaner nicht, ihre Unabhängigkeit von China anzustreben, sondern ihre Selbständigkeit gegen China zu verteidigen. Dass es sich in Taiwan um eine Demokratisierung und Liberalisierung des politischen Systems handelt, wird einfach ignoriert. Die Taiwaner, die quasi zweimal hintereinander von einer Fremdherrschaft regiert worden waren, haben bereits den Weg eines Paradigmenwechsels begangen und legen wesentlich größeren Wert auf Freiheit, Demokratie und Menschenwürde als auf (Wieder)vereinigung mit einem ihnen völlig entfremdeten Land, das mit einem autoritären Regime immer noch auf der imperialistischen Vorstellung von China in den vergangenen Jahrhunderten beharrt.
Suche nach Identität
Die Taiwaner haben seit 1895 einen mehrschichtigen Prozess der Suche nach der eigenen Identität durchgemacht: Die Japaner haben sie zu japanisieren versucht. Chiang Kai-shek versuchte wiederum, die mehr oder weniger japanisierten Taiwaner zurück zu Chinesen umzuerziehen, und war dabei nicht gerade zimperlich. Chiangs Republik China hat mit Unterstützung der USA in der UNO bis 1971 China vertreten können, während der 1949 gegründeten Volksrepublik China der Zugang zur UNO verwehrt blieb. Demnach bedeutet die Ein-China-Politik: Es gibt China zwar zweimal, aber die UNO erkennt jeweils nur eines davon an – bis zum 25. Oktober 1971 nur Chiang Kai-sheks Republik China. An diesem Tag wurde die Resolution 2758 von der Generalversammlung der UNO verabschiedet, worin Taiwan nicht mal erwähnt ist. Gleichzeitig beinhaltet diese Resolution aber die Entscheidung, Chiang Kai-sheks wahrgenommene Vertretung Chinas in der UNO an Maos Volksrepublik China abzutreten.
Mit Hinweis auf diese Resolution versucht China nun unentwegt, seinen unbegründeten Anspruch auf Taiwan zu rechtfertigen. Die Resolution 2758 besiegelte den Ausschluss der Republik China aus der UNO und somit das Schicksal der Taiwaner, die bis heute noch nicht einmal als Beobachter der UNO agieren können und aus fast jeder internationalen Gemeinschaft ausgeschlossen sind. Selbst die WHO oder Interpol machen da keine Ausnahme. Diese Isolation wäre den Taiwanern erspart geblieben, hätte Chiang Kai-shek damals das Angebot der Alliierten vor der Abstimmung im Oktober 1971 angenommen, nämlich den Sitz im Sicherheitsrat an die Volksrepublik abzutreten, dafür aber die UNO-Mitgliedschaft für seine Republik zu behalten. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte Chiang dieses Angebot abgelehnt. Denn mit der eingewilligten Übergabe des Sitzes im Sicherheitsrat der UNO an die Volksrepublik China hätte er diese quasi völkerrechtlich anerkannt, wodurch ihm die Grundlage für die Aufhebung der Verfassung abhandengekommen wäre.
Taiwan-Ukraine-Vergleich
Seit China in den letzten Jahren seine militärischen Drohungen gegen Taiwan immer weiter intensiviert, stelle ich mich in der Öffentlichkeit dementsprechend auch immer öfter als BOOTschafter von Taiwan vor, weil wir Taiwaner alle in einem Boot sitzen. Und mir wird seit Ausbruch des Invasionskrieges von Putins Russland gegen die Ukraine ständig die Frage gestellt: Heute die Ukraine, morgen Taiwan?
Es gibt in der Tat etliche Ansatzpunkte für diesen Vergleich. Vor allem sind wir von demselben Unglück betroffen, nämlich einen viel mächtigeren Nachbarn zu haben, der unser Land als einen abtrünnigen Teil seines Territoriums betrachtet. Für Putin ist die Ukraine keine selbständige Nation, Xi will alle Taiwaner hart bestrafen, sollten sie sich weigern, sich als Chinesen zu identifizieren und (Wieder)vereinigung mit China zuzustimmen. Wir wissen spätestens seit dem Tian’anmen-Massaker am 4. Juni 1989, wozu das kommunistische Regime fähig sein kann.
Taiwan ist eine selbstregierte Republik
Zum Schluss sei ein Hinweis erlaubt: In Taiwan wurde im Juli 2019 die Eheschließung für alle gesetzlich zugelassen. Meiner Ansicht nach geht diese Gesetzgebung nicht darauf zurück, dass die Taiwaner bei diesem Thema besonders liberal seien. Vielmehr mussten sich die Taiwaner im letzten Jahrhundert mit der Frage beschäftigen: Wer sind wir denn überhaupt? Meine Mutter war erst Taiwanerin, dann Japanerin, dann Chinesin, mitten im Demokratisierungsprozess sowohl Chinesin als auch Taiwanerin und – unter Bedrohung von China und absoluter Isolierung der äußeren Welt – doch eher Taiwanerin als Chinesin. Die unglaublich komplizierte, anhaltende Beschäftigung mit der nationalen Identität hat uns Taiwaner dazu befähigt, sich in Fragen der sexuellen Identität in die Lage der anderen zu versetzen.
Das Schicksal von Taiwan ist ein weites Feld, das Peking zu einem Schlachtfeld umzuwandeln vorhat, würden die Taiwaner weiterhin darauf bestehen, Freiheit und Demokratie einer selbstregierten Republik der Vereinigung mit dem kommunistischen China vorzuziehen. Aber warum sollen wir Taiwaner diesem Regime zu Willen sein, das sich so vieler Verbrechen wie zum Beispiel dem Tian’anmen-Massaker und der brutalen Niederschlagung der Freiheitsbewegung der Hongkonger schuldig gemacht hat?
Es geht hier um eine Antwort und um eine Verantwortung, weil Taiwan keine Frage ist, sondern die Antwort auf die Frage nach der Zukunft von China und zwar im Sinne meiner Überzeugung: The issue is not ‚a province of China‘, but ‚a promise of Taiwan‘. Es geht nicht um eine Provinz Chinas, sondern um ein Versprechen Taiwans.

Prof. Dr. Shieh Jhy-Wey ist seit 2016 Repräsentant von Taiwan in Deutschland. Davor arbeitete er 2008 bis 2016 in Taiwan als Moderator einer TV-Talkshow, 2007 und 2008 als Regierungssprecher von Taiwan und 2003 bis 2005 als Kolumnist der Tageszeitung Liberty Times in Taipeh. Von 1996 bis 2002 hatte er an der Dong Wu University in Taiwan einen Lehrstuhl für Deutsche Literatur inne.
Last modified: 2. Mai 2024