Yicheng Huang, Ex-Lehrer aus Shanghai, berichtet über den Kampf gegen die Diktatur in China und die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen.
VON ANJA OECK
Vielen Dank, dass du dich gegen die Diktatur von Xi in China einsetzt, und deinen Mut, hier öffentlich zu berichten. Erzähle uns doch bitte zunächst etwas über dein Leben.
Ich wurde in der südchinesischen Provinz Fujian geboren, bin aber schon in jungen Jahren mit meiner Familie nach Shanghai, der größten Stadt Chinas, gezogen. Daher bezeichne ich mich als Shanghaier. Ich habe in Shanghai die Grund- und Oberschule besucht und später an der Fakultät für chinesische Sprache und Literatur der Universität Peking meinen Abschluss gemacht. Ich bin Buddhist und interessiere mich sehr für die tibetische Kultur; ich habe sechs Monate in Lhasa gelebt, um die tibetische Sprache zu lernen. Seit Xi Jinping seit 2013 an der Macht ist, hat sich die Meinungsfreiheit in China stark verschlechtert.
Wie würdest du die Informationslage in China für die Menschen in der Vergangenheit und heute beschreiben?
Jemand hat einmal gesagt: Die autoritäre oder diktatorische Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) kann in drei Komponenten unterteilt werden: aus direkter Gewalt, die von Militär, Polizei und Geheimagenten ausgeübt wird, der Kontrolle der Partei über die Nachrichtenmedien, die zur Indoktrination der Bevölkerung eingesetzt werden und der Kontrolle, die die Partei über die Bildungseinrichtungen ausübt. In größeren Städten wie Shanghai und Peking nutzen viele relativ wohlhabende Menschen Virtual Private Networks (VPNs), um auf ausländische Websites zuzugreifen. Theoretisch kann die Umgehung der Großen Firewall zu Haftstrafen führen, aber die Regierung setzt diese Regel meist nicht durch. Nach Schätzungen nutzen in China etwa 5 Millionen Menschen VPNs, was in etwa einem Prozent der chinesischen Internetnutzer entspricht. Diese Zahl ist relativ klein, nicht alle sind von politischen Fragen betroffen.
Ich bin in der Ära von Hu Jintao (2002-2012) aufgewachsen. Da gab es in China zwar keine demokratischen Freiheiten, aber die Meinungsfreiheit war viel besser als heute. Seit 2013 ist Xi an der Macht, seitdem hat sich die Meinungsfreiheit in China stark verschlechtert, und die Gehirnwäsche innerhalb des chinesischen Bildungssystems ist immer intensiver geworden.
Du hast als Lehrer in China gearbeitet. Könntest du darüber erzählen? Was hast du am Bildungssystem beobachtet?
China ist ein riesiges Land mit einer großen Bevölkerung. Und die Informations- und Bildungssituation ist je nach Region und sozialer Schicht sehr unterschiedlich. In China werden Menschen wie ich als Teil der Elite angesehen. Auch wenn ich mich bewusst bemühe, mich mit Situationen aus der Unter- und Mittelschicht auseinanderzusetzen, ist mein Verständnis jedoch immer noch sehr begrenzt.
Die Schule in Shanghai, an der ich 2020-2022 gearbeitet habe, war eine internationale Eliteschule mit vielen Schülern, die eine westliche Staatsbürgerschaft haben. Die Schulgebühren waren relativ hoch, so dass sich die Regierung weniger eingemischt hat. Aber auch da stellte ich im Unterricht fest, dass viele Schüler noch nie von dem Tian’anmen-Massaker gehört hatten. Das deutet darauf hin, dass sie bis dato vornehmlich der von der chinesischen Regierung vorgegebenen Version historischer Fakten ausgesetzt waren. Kurz nachdem ich China im April 2023 verlassen hatte, schloss die Regierung diese Schule gewaltsam. Zusammenfassend gesagt: Der Zustand der Bildung hat sich in China rapide verschlechtert.
Hast du seit 2013, als Xi zum Präsidenten Chinas ernannt wurde, irgendwelche Veränderungen in China erlebt?
Bevor Xi Jinping an die Macht kam, gab es einen gewissen sozialen Raum, um NGOs in China organisieren zu können, aber nach und nach ist das fast unmöglich geworden. Auch Meinungsäußerungen per Online wurden immer gefährlicher. Während meiner Zeit an der Peking-Universität 2015- 2018 war ich in einer linken Studentenorganisation (Students‘ Association of Marxism in Peking University) aktiv. Dort engagierte ich mich in sozialen Bewegungen, etwa bei der Unterstützung von Arbeitern, die ihren Lohn nicht erhalten hatten. In meinem Abschlussjahr wurden mindestens sieben Mitschüler aus dieser Organisation auf dem Campus gewaltsam verhaftet, gefoltert und verschwanden später spurlos. Der bekannteste Fall war der von Yue Xin, über den damals in den internationalen Medien viel berichtet wurde. Dieser Vorfall hat bei mir ein tiefes Trauma ausgelöst. Würde mehr hatte. Xi nutzte die Null-COVID- und Abriegelungspolitik als Loyalitätstest für hochrangige KPCh-Beamte ohne Rücksicht auf das Leid der Menschen. Die Beamten mussten ihm ihre Loyalität unter Beweis stellen, indem sie Lockdowns durchführten. Dadurch wurde uns klar, dass das Leid auf die diktatorische Herrschaft Xi Jinpings und der KPCh zurückzuführen war. Daher hatten wir auch keine andere Wahl, als aufzustehen und Xi die Stirn zu bieten, auch wenn jeder wusste, dass das in China extrem gefährlich ist. Man kann sagen, dass alle, die an der „white-papermovement“ (meist A4-Revolution genannt. November 2022 zeigten Demonstranten weiße, leere DIN-A4-Blätter als Protest gegen den Lockdown und gegen Xi) teilnahmen, enorme Risiken eingingen.
Auf dem Demonstrationsplatz an der Middle Urumqi Road in Shanghai, wo ich war, wurden viele Demonstranten – auch ich – geschlagen und gewaltsam festgenommen. Später im Festnahmebus wurde ich Zeuge, wie die Polizei die festgenommenen Demonstranten lynchte, was extrem gewalttätig und erschreckend war. Für viele Beteiligte, vor allem für die weiblichen, würde dies zweifellos ein lebenslanges psychologisches Trauma bedeuten. Ich hatte Glück: Als die Polizei die Mädchen schlug, gelang es mir, inmitten des Chaos aus dem Bus zu fliehen. Später entkam ich mit Hilfe eines Westlers aus der Polizeiabsperrung. Danach hielt ich mich drei Monate lang in den Bergen von Yunnan versteckt und wartete auf ein Schengen-Visum. Damit, konnte ich über Hongkong und Singapur aus China fliehen.
Du hast Videos von Protesten ins Internet gestellt. Wie und wann konntest du das tun? Und warum war das wichtig?
Am Ort der Proteste hatte die Polizei von Shanghai Störsen der-Fahrzeuge eingesetzt, um alle Handysignale zu blockieren. Nur einige wenige Journalisten aus dem Vereinigten Königreich und Japan konnten über Satellitensignale live vom Ort des Geschehens berichten. Daher mussten wir Fotos und Videos an der Front aufnehmen und uns dann an entfernte Orte mit Internetverbindung zurückziehen. Wir demonstrierten in der Nähe der Kreuzung Middle Urumqi Road und Wuyuan Road, mussten aber 15 Minuten bis in die Nähe des US-Konsulats in Shanghai laufen.
Ich glaube, dass es entscheidend ist, die Informationen über die Proteste in der Welt zu verbreiten. Die Demonstranten an vorderster Front waren unglaublich mutig und haben große Opfer gebracht. Wir müssen einfach Wege finden, um ihre Heldentaten der ganzen Welt vor Augen zu führen.
Es ist sicher kein Zufall, dass die Proteste meist von Studenten initiiert werden – wie am Tian‘anmen 1989 oder in Hongkong. Was denkst du über die heutige Jugend in China?
Relativ gesehen haben junge Menschen heute ein besseres Verständnis für westliche Informationen, streben stärker nach Demokratie und Freiheit und haben mehr Eigeninitiative. Daher sind junge Menschen am besten geeignet, eine soziale Bewegung des zivilen Ungehorsams anzuführen. Die „white-paper-movement“ hat viele Gemeinsamkeiten mit den Protesten gegen das Auslieferungsgesetz in Hongkong; beide verfolgen ein dezentrales Modell für soziale Bewegungen. Die Dezentralisierung der „white-paper-movement“ ist jedoch noch ausgeprägter, was in erster Linie auf die viel strengere Informations- und Sozialkontrolle in Festlandchina im Vergleich zu Hongkong zurückzuführen ist.
Du hast viel Zeit in Tibet verbracht und bist auch praktizierender Buddhist. Kannst du uns sagen, wie du dazu gekommen bist und wie du das Leben in Tibet erlebt hast?
Um meine Freunde in Tibet zu schützen, kann ich leider nicht allzu viele Einzelheiten angeben. Allerdings habe ich während meiner Zeit in Tibet viele wertvolle Freundschaften geschlossen, von denen ich glaube, dass einige ein Leben lang halten werden. Tibetische Freunde haben mich gut behandelt und haben mir die tibetische Kultur nähergebracht. In der zeitgenössischen chinesischen Kultur nach der Kulturrevolution nehmen tibetische Elemente eine zentrale Stellung ein. Prominente chinesische Dichter, Schriftsteller, Musiker und Regisseure sind bereit, nach Tibet zu reisen und die tibetische Kultur in ihr künstlerisches Schaffen einzubeziehen. Das Praktizieren des Buddhismus bei tibetischen Lamas ist ein beliebter Trend in den Geschäfts- und Kulturkreisen in Peking und Shanghai.
In Anbetracht der gegenwärtigen düsteren politischen und kulturellen Situation in China ist es nützlich, sich mit dem tibetischen Buddhismus zu beschäftigen, um unser geistiges Wohlbefinden zu erhalten. Das ist von entscheidender Bedeutung, denn wir müssen, egal was passiert, widerstandsfähig leben und auch in der härtesten Realität die kleinen Dinge finden, die unser Herz erwärmen können. In der Tat habe ich beobachtet, dass viele pro-demokratische Aktivisten aus China und Hongkong Anhänger des tibetischen Buddhismus sind. Der Geist des gewaltlosen Widerstands des Dalai Lama hat viele Chines*innen inspiriert.
Ich bin zutiefst betrübt über die ungerechte Behandlung meiner tibetischen Freunde. Viele Klöster sind einer starken Einmischung von Seiten der Regierung ausgesetzt. Die Tibeter haben nicht die Freiheit, innerhalb ihres Landes zu migrieren, und Pässe für internationale Reisen zu erhalten, ist äußerst schwierig. Während meines Aufenthaltes in Tibet haben meine Freunde und ich Zehntausende von Fotos gemacht, um die Ruinen der tibetischen Kulturdenkmäler zu dokumentieren, diese Bilder haben mein Herz gebrochen.
Wie war die Entwicklung im Tibet der letzten Jahre?
Vor 2020 konnte der Barkhor („mittlerer Umrundungsweg“) in Lhasa direkt betreten werden. Später wurden in der Nähe Sicherheitskontrollpunkte eingerichtet, und es gab immer mehr Einschränkungen für Niederwerfungen auf dem Platz vor dem Jokhang-Tempel und auf dem Barkhor. Genau wie Shanghai erlebte auch Tibet im Sommer 2022 einen harten und strengen Lockdown. Während dieser Zeit starben viele Menschen aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung, und viele wurden unmenschlich behandelt. An der „white-paper-movement“ gegen die Null-Covid-Politik beteiligten sich auch viele Tibeter, und zahlreiche tibetische Mädchen wurden verhaftet, über deren Verbleib bis heute nichts bekannt ist.
Ich habe jedoch beobachtet, dass in vielen tibetischen Klöstern immer noch heimlich Fotos des Dalai Lama in versteckten Räumen aufbewahrt werden. Manchmal platzieren sie die Fotos des Dalai Lama hinter Thangkas. Wenn man ihr Vertrauen gewinnt, sind sie bereit, sie ihren Han-chinesischen Freunden zu zeigen. All diese Beispiele zeigen, dass sich die Verehrung des tibetischen Volkes für den Dalai Lama niemals ändern wird.
Wenn du darüber sprechen kannst: Wie bist du aus China geflohen, und wie war es, diese Entscheidung zu treffen?
Zunächst erhielt ich eine langfristige Einwanderungserlaubnis aus Hongkong. Dann reiste ich über den Hochgeschwindigkeitsbahnhof in West Kowloon in Hongkong ein und über den Internationalen Flughafen aus, wobei ich das chinesische Gesichtserkennungssystem umgangen habe.
China zu verlassen, war eine sehr schwierige Entscheidung. Ich musste ein relativ komfortables Leben in China aufgeben und ein neues Leben in einem fremden Land beginnen. Darüber hinaus ist es sehr gefährlich, sich als Chinese offen gegen Xi Jinping auszusprechen, selbst vom Ausland aus, und kann bei Familienmitgliedern, die noch in China leben, ständige psychische Angst auslösen. Nicht alle Chinesen sind in der Lage oder bereit, einen solchen Preis hinzunehmen.
Ich hoffe jedoch immer noch, dass ich meinen Teil dazu beitragen kann, diesen unvermeidlichen historischen Prozess voranzutreiben und ihn zu beschleunigen. Ich glaube, dass an einem bestimmten Punkt in der Geschichte mehr Menschen vortreten werden, um die Wahrheit zu sagen, obwohl ich in meiner derzeitigen Situation sehr isoliert und ohne Unterstützung bleibe.
Was wären wirksame Mittel zur Bekämpfung der KPCh?
Der wichtigste Punkt ist die Einigkeit. Es ist unerlässlich, dass sich Tibeter, Uiguren, Hongkonger und Menschenrechtsverteidiger aus Festlandchina zusammenschließen. Trotz der begrenzten Stimmen des Widerstandes in Festlandchina sollten wir nicht alle Chinesen als Feinde behandeln. Wir müssen verstehen, welche Gefahr mit der Äußerung politischer Meinungsverschiedenheiten in China verbunden ist. Daher sind die Stimmen politischer Gefangener oder Exilanten aus China, auch wenn sie selten sind, äußerst wertvoll, denn hinter diesen Stimmen steht ein enormer Preis. Ähnlich wie im Fall des „Brückenmannes“ Peng Lifa opfern viele Menschen lebenslang ihr eigenes Glück und das ihrer Familien, damit auch noch die leiseste Stimme gehört wird, und ertragen die Folter im Gefängnis. Wir müssen auf ihre Stimmen hören, die Schreie , gemacht aus Blut, sind. Diese Stimmen zu vergessen, wäre unglaublich grausam.
Andererseits leidet das chinesische Volk seit langem darunter, was die chinesische Regierung ihm zufügt. Viele verinnerlichen aus Schmerz und Angst den vom autoritären Regime verursachten Schaden in ihrer eigenen Gedankenwelt und wenden sich dann um, um anderen Schaden zuzufügen, was wirklich tragisch ist. Ich hoffe, dass wir niemals das Mitgefühl für diejenigen verlieren, die gedemütigt und beleidigt worden sind. Wir können mehr Aktivitäten organisieren, damit Tibeter, Uiguren, Hongkonger und Menschenrechtsverteidiger aus China die Stimmen der anderen hören und das gegenseitige Verständnis gefördert wird.
Die China-Frage ist ein systemisches und komplexes Problem, dessen Lösung gemeinsame Anstrengungen an verschiedenen Fronten erfordert. Darüber hinaus sollten wir mit demokratischen Aktivisten aus Russland, dem Iran und anderen Ländern zusammenarbeiten, die die Unterstützung der westlichen Länder suchen. Das China-Problem beschränkt sich nicht auf die eigenen Landesgrenzen; China exportiert den Autoritarismus in viele Länder und untergräbt Demokratie und Freiheit in den westlichen Ländern. China ist zum Epizentrum des globalen Autoritarismus geworden und spannt ein weltweites Netz. Daher müssen wir ein Netzwerk aufbauen, um der von China ausgehenden Bedrohung zu begegnen, und Menschenrechtsverteidiger aus Festlandchina sind für dieses Netzwerk unverzichtbar.
Seit langem setze ich mich dafür ein, dass mehr Chinesen die tibetische Kultur und Geschichte sowie die aktuellen politischen Probleme in Tibet verstehen. Ich unterrichte über hunderttausend Menschen in China online Tibetisch. Außerdem planen wir die Gründung einer Organisation namens „Chinese for a Free Tibet“ in San Francisco.
Gibt es noch Themen, über die du sprechen möchtest?
Die „white-paper-movement“ ist nicht nur eine Bewegung von Han-Chinesen, sondern es haben sich auch viele Uiguren und Tibeter beteiligt. Deshalb hoffe ich, dass die „white-paper-movement“ eine Plattform für die Zusammenarbeit zwischen Han-Chinesen, Tibetern und Uiguren werden kann. In diesen Tagen habe ich mich zusammen mit anderen uigurischen Aktivisten für die Freilassung von Kamile Wayit eingesetzt, einem uigurischen Mädchen, das verurteilt wurde, weil es kurze Videos über die „white-paper-movement“ verbreitet hatte. Nach Angaben der Congressional-Executive Commission on China (CECC) der USA wurden mindestens vier tibetische Mädchen verhaftet. Ihre Namen sind Delha, Dechen, Dzamkha und Kelsang Drolma. Ich hoffe, dass die tibetischen Gemeinschaften in Übersee mehr Aktivitäten unternehmen können, um ihnen zu helfen. Danke für Deinen Mut.
Yicheng Huang wuchs in Shanghai auf, studierte von 2015 bis 2018 an der Peking-Universität und unterrichtete von 2020 bis 2022 an einer Eliteschule in Shanghai. Nach dem Lockdown im Sommer 2022 schloss er sich dem „white-paper-movement“ an und entschied sich im April 2023 nach einigen Monaten im Untergrund, aus China zu flüchten. Heute lebt er in Deutschland.
Last modified: 2. Mai 2024