
Seit mehr als 50 Jahren engagiert sich Jan Andersson für Tibet und die Tibeter, zunächst in seiner schwedischen Heimat, nun von Deutschland aus, wo er seit 1979 lebt. Den Dalai Lama traf er zum ersten Mal, als dieser hier noch fast unbekannt war.
VON IRIS LEHMANN
Du hast dich schon 1967, als Zwanzigjähriger, für Tibet eingesetzt. Wie kam es dazu?
Als ich 14 oder 15 war, hat mir das Buch „Kim“ von Rudyard Kipling die Augen für Tibet geöffnet. Es schildert sehr schön einen tibetischen Lama auf Wanderungen in Indien mit dem jungen Kim. Fasziniert von diesem Mann, wollte ich alles wissen über sein Land. Damals gab es kaum Informationen über Tibet. Als ich die Autobiografie des Dalai Lama, „Mein Leben und mein Volk“, fand und von den Gräueltaten der chinesischen Besatzungsmacht las, war ich fürchterlich aufgebracht, vergaß dann aber wieder das Thema bis 1967. An der Uni fand ich Leute, die sich auch für Tibet interessierten. Wir gründeten das schwedische Tibet- Komitee, dessen Sekretär ich wurde. Die Organisation existiert immer noch und ist inzwischen eine der ältesten Tibet Support Groups der Welt.
Im letzten Jahr erhieltest du einen Brief vom Dalai Lama als Anerkennung deiner Verdienste um Tibet. Dazu erschien ein Foto. Was hat es mit diesem VW-Bulli auf sich?
Ich war damals 22 Jahre alt, Göran war 19 und Robert, der Senior, ganze 33. Wir hatten den Anspruch, die schwedische Öffentlichkeit von den Zuständen in Tibet zu informieren. Da keiner von uns im Tibet-Komitee einen Tibeter kannte und wir selbst kaum Auskünfte über Tibet hatten, wollten wir nach Indien fahren, Tibeter kennenlernen und Informationen sammeln, die wir in Schweden nutzen könnten. Gesagt, getan, wir kauften einen VW-Bulli und fuhren 1969 los. Offensichtlich fand der Dalai Lama das so lustig, dass er mir jetzt einen Spielzeug-Bulli mit einer eigenhändigen Widmung auf dem Dach geschenkt hat. Wir hatten keine Ahnung von der Strecke nach Indien, denn das Wissen darüber war damals noch sehr mangelhaft. Über die Türkei, Iran, Afghanistan und Pakistan kamen wir schließlich an, wo aber der fabrikneue Bulli bald an Leistung verlor.

Er wurde so schwach, dass ich auf dem Weg nach Dharamsala den Wagen den Himalaja hochschieben musste, während Göran am Lenker saß! Zurückfahren ging nun nicht mehr, den Bulli verkaufen auch nicht, und so ließen wir ihn vor dem Abflug einfach auf einer Straße stehen. Noch Jahre später haben wir Knöllchen aus Indien geschickt bekommen! Wir verbrachten etwa acht Monate in Indien, Nepal und Sikkim und besuchten tibetische Siedlungen in vielen Ecken. Daraus sind Freundschaften gewachsen, die heute noch bestehen. Ich verbrachte drei Monate im Tibetan Nursery, heute Tibetan Children’s Village, in Dharamsala. Es wurde von Jetsun Pema, der jüngeren Schwester des Dalai Lama, geleitet. Im Städtchen McLeod Ganj, wo die meisten Tibeter wohnen, wurde man immer mit einem Lächeln und „Tashi deleg“ begrüßt. Die Flüchtlinge waren sehr arm und wohnten zum Teil eher in Verschlägen als in Häusern. Wenn der Monsunregen kam, war die Lautstärke unter den Blechdächern ohrenbetäubend.
Der Dalai Lama hat ganz früh entschieden, die tibetische Kultur zu retten, und hat Schulen und kulturelle Einrichtungen großartig unterstützt. Das TIPA, Tibetan Institute of Performing Arts, hieß damals Drama School und wurde gegründet, um die Musik- und Drama-Traditionen aufrechtzuhalten. Seine Aufführungen dauerten oft einen ganzen Tag und waren spektakulär, da oft nur tibetische Zuschauer da waren und die Geschichten richtig miterlebten. Im Winter musste man dicke Decken mitbringen, denn es wurde eisig kalt. Dort habe ich auch Michael van Walt van Praag kennengelernt. Zu den Kulturschätzen im Exil gehört auch die große Bibliothek Library of Tibetan Works and Archives mit einer Kunstsammlung. Bei der Grundsteinlegung im Frühling 1970 war ich dabei.
Hast du damals überlegt, Tibetologie zu studieren, um beruflich für Tibet zu arbeiten?
Nein, ich wollte nicht abhängig werden vom Tibet-Engagement, das sollte ehrenamtlich und nur aus ideellen Gründen geführt werden. Es war eine richtige Entscheidung, denn so habe ich immer zwei Standbeine im Leben gehabt.
Wie ging es dann mit deinem Einsatz für Tibet und die Tibeter im Exil weiter?
In Deutschland angekommen, habe ich Kontakt mit Tibetern und Unterstützern aufgenommen. Irmtraut Wäger in München, die langjährige Präsidentin der Deutschen Tibet-Hilfe, war vermutlich die erste Person, die ich kennenlernte, und mit dieser großartigen Frau verbinde ich sehr viel. Sie hat mich mit Tibetern bekannt gemacht, und bald kannte ich viele, vor allem in Bonn. Wie in Schweden gab es auch in Deutschland wenige Informationen über die Situation in Tibet. So habe ich 1982 vorgeschlagen, dass wir eine Zeitschrift gründen, herausgegeben vom Verein der Tibeter in Deutschland, mit mir als Redakteur.
„Es gab einen großen Willen, etwas für das Land zu tun, und so dachten einige Unterstützer über die Gründung einer Organisation nach“
Mit Hilfe von Freunden gaben wir vom „Tibet-Forum“ drei Hefte im Jahr heraus. Nach den Unruhen in Tibet 1987-89 wurde der Weltöffentlichkeit deutlich vorgeführt, wie brutal und verlogen die chinesische Politik in Tibet war. Es gab einen großen Willen, etwas für das Land zu tun, und so dachten einige Unterstützer über die Gründung einer Organisation nach. Nach vielen Diskussionstreffen wurde schließlich 1989 die TID gegründet, der ich seitdem als Mitglied verbunden bin.
Du hast auch die erste Reise des Dalai Lama nach Europa mitorganisiert. Wie kam es dazu?
Der Dalai Lama besuchte Europa zum ersten Mal 1973 bei einer sechswöchigen Rundreise durch elf Länder. Hauptorganisator war Michael van Walt, damals auch ein junger Student von 21 Jahren. Es war eine unheimliche Arbeit, so viele Länder mit verschiedenen Organisationen und Gruppen zu koordinieren und auch offizielle Vertreter zu überzeugen, dass der Dalai Lama nicht gefährlich sei und durchaus eingeladen werden könne. Er war damals nicht überall willkommen. Viele westliche Intellektuelle waren von der chinesischen Kulturrevolution stark beeinflusst und standen China wohlwollend bis kritiklos gegenüber. Der Dalai Lama wurde von ihnen als Reaktionär verschrien. Schon bei seinem ersten Gastgeber, Papst Paul VI., konnte er viele beruhigen, er war nicht der Teufel in Mönchskutte. In Schweden waren das Tibet-Komitee und die christliche Organisation IM für den Besuch verantwortlich, und so hatte ich viele Aufgaben. Etwa 100 junge Tibeter machten damals eine Ausbildung in Skandinavien. Sie erzeugten viel Enthusiasmus und waren auch ein Farbtupfer durch ihre tibetische Kleidung.
Wo und wie lange blieb der Dalai Lama in Deutschland, wen traf er damals?
Nun darf man nicht vergessen, dass vor 50 Jahren der Dalai Lama ziemlich unbekannt war, so wie das Tibet-Problem allgemein. Der Dalai Lama verbrachte fünf Tage in Deutschland – aber ohne einen einzigen öffentlichen Auftritt! Schwer zu glauben, aber es gab nicht genug Interesse damals. In Bonn, Köln und München traf er sich mit Kardinal Frings und Kardinal Höffner, mit Wissenschaftlern, Unterstützern und mit Tibetern.

Auch seine erste Reise in die USA hast du mitorganisiert. Berichte doch davon.
Sein erster Besuch in den USA fand 1979 statt, die Regierung hatte sich viele Jahre geweigert, ihm ein Visum zu geben aus Rücksicht auf die Beziehungen zu China – Richard Nixon hatte ja 1972 offizielle Kontakte zwischen beiden Ländern aufgenommen. Sieben Wochen lang tourte der Dalai Lama quer durch das Land. Ich gehörte seiner Entourage an und konnte ihn aus nächster Nähe beobachten. Was mich immer beeindruckte, war, dass er im Privaten genauso war wie im öffentlichen Raum. Da war kein Unterschied, kein Schauspiel für die Öffentlichkeit.
„Das größte Verdienst ist das Leben S. H. des Dalai Lama selbst. Er steht für Dialog, für Humanität, für Toleranz, für Frieden und Versöhnung.“
Das Interesse für ihn, allgemein und politisch, war in den USA deutlich größer als sechs Jahre zuvor in Europa. In Anspielung auf das Musical „Hello Dolly“ betitelte die New York Times die Reportage auf der ersten Seite „Hello Dalai“. Kongressabgeordnete beider Parteien trafen sich ohne Scheu mit ihm. Er konnte sogar eine Pressekonferenz in einem Raum des Kongresses bestreiten. In Los Angeles waren einige Hopi-Indianer eingetroffen, geleitet von Grandfather David. Sie waren noch nie außerhalb ihres Reservats gewesen, waren aber jetzt 24 Stunden in einem alten Auto nach Kalifornien gefahren. Sie kannten eine alte Weissagung, die besagte: Wenn es den Hopis schlechter gehe, werde ein gelber Mann aus dem Osten kommen und sie zur Rettung führen. Dieser Mann war natürlich der Dalai Lama! Er war ungemein fasziniert von ihrer Geschichte.
1989 erhielt der Dalai Lama den Friedensnobelpreis. Hast du in irgendeiner Weise dabei mitgewirkt? Bist du bei der Verleihung in Oslo mit dabei gewesen?
Die Arbeiten für den Nobelpreis begannen Jahre vorher. Schon 1986 nahm Lodi Gyari, zu der Zeit Mitglied des Exilparlamentes, Kontakt mit mir auf und stellte die Idee vor, den Dalai Lama als Kandidaten für den Preis zu präsentieren. Es haben nur sehr eingeschränkte Personengruppen Vorschlagsrecht: ehemalige Preisträger, Regierungs und Parlamentsmitglieder, Professoren gewisser Fächer etc. Solche Personen hatten wir in unseren Reihen nicht, so dass wir mutmaßlich sympathisch eingestellte Personen ausfindig machen mussten, um sie zu überzeugen, einen Nominierungsvorschlag beim Preiskomitee in Oslo einzureichen. Fredrick Hyde-Chambers übernahm diese Aufgabe in Großbritannien, Michael van Walt und ich in Kontinentaleuropa und andere Leute in Indien und den USA. Es war eine zähe Sache, denn die Ausreden, warum man nicht konnte, waren häufig mutlos und weitschweifend. Unzählige Telefonate und Briefe, damals gab es ja keine elektronischen Korrespondenzmöglichkeiten, waren notwendig. Petra Kelly war bekannt als Tibet-Fan, und mit ihr hatte ich viele nächtliche Telefonate. Sie war hin- und hergerissen, denn eigentlich wollte sie gern, aber hatte als Prinzip nur Frauen zu fördern. Aber sie half trotzdem weiter auf andere Weise.
„Es war ein Erlebnis, das unmöglich übertroffen werden kann, so emotional, so tiefgreifend zu feiern mit Menschen aus der ganzen Welt.“
Im Oktober 1987 kam dann die Entscheidung für Präsident Oscar Arias aus Costa Rica, der später den Dalai Lama bei mehreren Gelegenheiten treffen sollte. Große Enttäuschung, aber die Arbeit ging weiter. „Never give up“, wie der Dalai Lama sagt. Auch 1988 nichts, nun Anzeichen für ein Aufgeben. Aber Lodi beschwor uns, es noch einmal zu versuchen. 1989 gab es heftige Proteste in Tibet und im Juni auch das Tian’anmen-Massaker in Peking, und diese Katastrophen warfen viel Licht auf die Brutalität des chinesischen Regimes. Vielleicht hat das geholfen. Im Oktober arbeitete ich wie immer in meinem Uni-Labor, hörte dabei die Nachrichten, und da kam die Meldung: Friedensnobelpreis für den Dalai Lama!
Ich weiß noch, wie ich zunächst einige Minuten weiterarbeitete, bis es mich traf wie ein Blitz – es hat geklappt! Ich wurde so überwältigt, dass ich auf den Stuhl niedersank und die Tränen nicht zurückhalten konnte. Die Preisverleihung war auch ein Fest. Die Universitätsaula war vollbesetzt, und der Sekretär des Preiskomitees fragte verwundert: „Wieso kommen all diese Leute?“ Am Abend zogen Tibet-Freunde eine Runde durch die eiskalte Nacht mit Fackeln und tibetischen Fahnen, und als wir am Hotel des Dalai Lama vorbeikamen, blieben wir stehen, bis der Dalai Lama auf dem Balkon erschien und uns zuwinkte. Da wir hartnäckig waren, kam er plötzlich herunter und feierte zusammen mit uns. Es war ein Erlebnis, das unmöglich übertroffen werden kann, so emotional, so tiefgreifend zu feiern mit Menschen aus der ganzen Welt.
Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises machte der Dalai Lama Station in Berlin. Was kannst du davon berichten?
Ein besonderes Ereignis war der Besuch des Dalai Lama in Ost-Berlin. Damals existierte noch die DDR. Am 6. Dezember konnte der Dalai Lama für zwei Stunden in den Osten, wobei er den Checkpoint Charlie passieren musste. Im Dietrich-Bonhoeffer-Haus traf er dann DDR-Bürgerrechtler und auch Petra Kelly und Gert Bastian.

In Deutschland hast du dich für den Dalai Lama eingesetzt, und zwar an deiner Universität.
Der Dalai Lama hat fast 100 Ehrendoktorwürden von Universitäten weltweit bekommen, aber vor 20 Jahren noch keine von einer deutschen! Das klang beschämend, und so keimte der Gedanke: Kann man auch als Chemiker etwas machen? Der Fachbereich Chemie und Pharmazie der Universität Münster hat eine Ehrendoktorordnung, die es erlaubt, auch Nicht-Chemikern diese Würde zu erteilen. Voraussetzung: „außergewöhnliche Verdienste“. Der katholische Theologe Prof. Hubert Wolf schrieb in seinem Gutachten: „Das größte Verdienst ist aber das Leben S.H. des Dalai Lama selbst. Die Begegnung von Naturwissenschaft und Buddhismus ist zu seinem Lebensinhalt geworden. Er steht für Dialog, für Humanität, für Toleranz, für Frieden und Versöhnung – nicht zuletzt, weil er eine tiefe religiöse Überzeugung und spirituell- meditative Versicherung mit naturwissenschaftlichen Einsichten verbindet.“ Der 2007 frisch promovierte Doktor der Chemie erzählte in seiner Dankesrede von seinem Interesse an der Natur schon als Kind im Potala-Palast und wie er mit einem Fernglas z.B. den Mond betrachtet hatte und durch die Schatten die Schlussfolgerung gezogen hatte, dass auf dem Mond Berge vorhanden waren. Die ganze Veranstaltung ist immer noch auf YouTube zu sehen.
Wie sieht dein Engagement für Tibet seit deiner Emeritierung aus seit du am 1. Juli aus dem Vorstand von ICT Deutschland ausgeschieden bist?
Seit Jahren schon suche ich alle Presseberichte zum Thema Tibet zusammen und verschicke sie als „Tibet-Nachrichten“ per E-Mail an eine Reihe von Interessierten. Bei der ICT Deutschland (International Campaign for Tibet) bin ich zwar aus dem Vorstand ausgeschieden, aber zum Ehrenvorstand ernannt worden. Als solcher werde ich auch weiterhin für Tibet aktiv sein. Ich bin doch kein Aussteiger!
Last modified: 12. Mai 2025