
Nach mehreren Monaten Wartezeit steht fest: Penpa Tsering ist der neue Präsident der Tibeter im Exil. Doch wer ist der Mann und welche politischen Ansichten vertritt er?
VON KLEMENS LUDWIG
Es begann am 3. Januar, ging am 11. April in die zweite Runde, und am 14. Mai wurde das Ergebnis verkündet. Die Rede ist von den Wahlen der Tibeter im Exil, die alle fünf Jahre aufgerufen sind, ein neues Parlament (Chitue) und einen neuen Regierungschef (Sikyong) zu wählen.
Bei der Wahl zum 45-köpfigen Parlament geht es weniger um Parteien und politische Programme als um Persönlichkeiten auf der Basis eines Proporzes nach geografischen und religiösen Kriterien. Die tibetische Verfassung im Exil möchte damit sicherstellen, dass alle Regionen, in denen Tibeter weltweit leben, und alle religiösen Schulen vertreten sind. Aus Europa kommen zwei Abgeordnete: Thupten Wangchen aus Spanien und Thupten Gyatso aus Frankreich vertreten zukünftig die Interessen der Tibeter in Europa.
Mehr noch als die Wahl zum Parlament ist die Wahl zum Ministerpräsidenten eine Persönlichkeitswahl. 2001 fand sie zum ersten Mal durch eine direkte Abstimmung statt. Der Mönchsgelehrte Samdhong Rinpoche wurde der erste von der tibetischen Bevölkerung im Exil gewählte Ministerpräsident; fünf Jahre später wurde er für eine zweite Amtszeit bestätigt, was der maximale Zeitraum ist. Die Wahl 2011 erbrachte eine Überraschung mit dem Sieg des als Außenseiter gestarteten Juristen Dr. Lobsang Sangay. Der in Darjeeling geborene Sangay lebte zu der Zeit in den USA und gehörte nicht zum Establishment im Exil. Inhaltlich bekannte er sich jedoch klar zum Mittleren Weg des Dalai Lama, der eine weitgehende Autonomie unter der chinesischen Fahne als Lösung für das Tibet-Problem vorsieht. Da sich der Dalai Lama gleichzeitig vom Amt als politisches Oberhaupt zurückgezogen hat, amtiert der Regierungschef als Sikyong, im englischen Sprachgebrauch offiziell President (Präsident), der tibetischen Exilregierung, der Zentralen Tibetischen Verwaltung (CTA).
Die Wahl gewann ein alter Bekannter, Penpa Tsering, der 53-jährige Sprecher des Parlaments im Exil, dem er seit 1996 angehört.
Die Wahl von 2016 – die Lobsang Sangay souverän gewann – brachte insofern eine Neuerung, da zum ersten Mal ein Kandidat antrat, der den Mittleren Weg des Dalai Lama ablehnt und sich ausdrücklich zur Unabhängigkeit als politische Perspektive für Tibet bekannte, der ehemalige politische Gefangene und Flüchtling Lukar Jam. Er erhielt in der ersten Runde knapp zehn Prozent der Stimmen, war aber auch persönlichen Anfeindungen ausgesetzt. Für die zweite, entscheidende Runde konnte er sich nicht qualifizieren.
In diesem Jahr hatten sich sieben Männer und eine Frau um das Amt des Sikyong beworben, so viele wie nie zuvor. Die Regularien sehen vor, dass die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen im ersten Wahlgang zur Stichwahl antreten. Schon das Ergebnis der ersten Runde verdeutlichte das Bedürfnis der tibetischen Exilbevölkerung nach Kontinuität. Es gewann ein alter Bekannter, auch was die Wahlen angeht: Penpa Tsering, der 53-jährige ehemalige Sprecher des Parlaments im Exil, dem er seit 1996 angehört. Er hatte bereits 2016 für das Amt kandidiert und es in den zweiten Wahlgang geschafft. Dort war er allerdings dem Amtsinhaber Lobsang Sangay deutlich unterlegen. Auf Platz zwei, und damit in die Endrunde, kam Kelsang Dorjee Aukatsang, ein enger Vertrauter von Lobsang Sangay und langjähriger Vertreter Tibets in Nordamerika. Die einzige Frau im Rennen, die ehemalige Innenministerin Dolma Gyari, erreichte den dritten Platz, verpasste damit aber den entscheidenden Wahlgang.
Die Stichwahl brachte keine weitere Überraschung; Penpa Tsering gewann die Wahl gegenüber Kelsang Dorjee Aukatsang mit einem recht knappen Vorsprung von 34.324 zu 28.907 Stimmen. Von den 83.080 registrierten Wählern und Wählerinnen beteiligten sich 77 Prozent an der Abstimmung.
Angesichts der harten Corona-Einschränkungen vor allem in Indien, wo natürlich die meisten Wähler registriert sind, zeigt die hohe Wahlbeteiligung die Verbundenheit der Menschen mit ihren politischen Institutionen. Ebenso demonstriert das Ergebnis das Bedürfnis nach Kontinuität, für das Penpa Tsering in den Augen der Tibeter noch mehr steht als der Sangay-Vertraute Aukatsang. Der neu gewählte Sikyong ist seit Jahrzehnten fester Bestandteil der politischen Führung in Dharamsala, was von Aukatsang in dem Maße nicht gesagt werden kann, der sich allerdings als Vertreter in Übersee profiliert hat. Das Renommee von Lobsang Sangay reichte jedoch nicht, um ihn ganz nach vorne zu bringen.

In ihren politischen Positionen unterscheiden sie sich kaum. Beide unterstützen uneingeschränkt den Mittleren Weg als politische Lösung. Daran dürfte sich auch in der zukünftigen Politik nichts ändern, selbst wenn es derzeit keinerlei Bewegung in der Tibet-Frage oder offizielle Kontakte zwischen Dharamsala und Peking gibt. Nicht nur in Sachen Tibet hat sich die Position Pekings unter Xi Jinping erheblich verhärtet. Sogar im Vorfeld der Olympischen Winterspiele im Februar 2022 sieht die KPCh offenbar keinerlei Anlass zumindest zu kosmetischen Zugeständnissen wie noch im Vorfeld der Sommerspiele von 2008, als es offizielle Treffen mit zwei Sondergesandten des Dalai Lama gab. Diese Gespräche waren auf Seiten der Tibeter mit großen Hoffnungen verbunden. Der damalige Regierungschef Samdhong Rinpoche rief sogar dazu auf, als Zeichen des guten Willens vorübergehend auf Demonstrationen gegenüber China zu verzichten, was sehr kontrovers diskutiert wurde. Nachdem das Olympische Feuer erloschen war, beendete Peking die Gespräche.
Bemerkenswert ist immerhin die internationale Reaktion. Sowohl aus Washington wie aus Taiwan kamen Glückwunschtelegramme. Das US-Außenministerium gratulierte Penpa Tsering in einer Twitter-Botschaft zu seiner Wahl und gab seiner Hoffnung Ausdruck, mit ihm und der gesamten CTA „weiterhin zum Wohl der globalen tibetischen Diaspora zusammenzuarbeiten“. Im Dezember 2020 hatte das US-Außenministerium den sogenannten “Tibetan Policy and Support Act” verabschiedet, der als Anerkennung des Sikyong sowie der CTA als Vertreter tibetischer Interessen betrachtet wird.
Eine andere bemerkenswerte Reaktion kam aus Taiwan. Außenminister Joseph Wu gratulierte Penpa Tsering in einem Brief vom 17. Mai zu seiner Wahl und kommentierte: „Das Ergebnis hat der Welt einmal mehr die ungebrochene Verpflichtung der Tibeter gezeigt, ein freies und demokratisches Tibet aufzubauen.“
Angesichts des anhaltenden Einsatzes für Selbstbestimmung seien „Taiwan und Tibet verlässliche Partner, um gemeinsame Werte wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte zu bewahren“. Schließlich betonte Außenminister Wu: „Unsere Freundschaft und Partnerschaft basiert auf gegenseitigem Respekt und Gleichheit. Unter Ihrer Führung sehe ich einer weiteren Zusammenarbeit mit Ihnen und Ihrer Verwaltung zur Vertiefung der engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Tibet und Taiwan entgegen.“
Mutige Worte eines Ministers, dessen Land unter der permanenten Bedrohung durch die VR China leidet.
Last modified: 16. August 2022