Obwohl in Xinjiang und Tibet die Unterdrückung noch nie gesehene Ausmaße annimmt, handeln die EU und Deutschland nicht. Das muss sich ändern. Es braucht Sanktionen und wirksame Lieferketten-Kontrollen.
VON GYDE JENSEN
Seit über einem Jahr wissen wir, dass die chinesische Regierung Uiguren in Xinjiang zu Hunderttausenden in Lagern interniert. Mehr als eine halbe Million Uiguren werden zur Zwangsarbeit auf den Baumwollfeldern von Xinjiang genötigt: Diese modernen Arbeitssklaven produzieren ein Fünftel der weltweiten Baumwolle. Uigurinnen werden zwangssterilisiert und zur Abtreibung gezwungen. Das, was in Xinjiang passiert, ist ein kultureller und demografischer Genozid. Längst sind diese Zwangsarbeitslager auch nicht mehr auf Xinjiang beschränkt: Inzwischen sollen über 500.000 Tibeter in Lagern interniert sein. Und trotzdem haben es die Europäische Union und die deutsche Bundesregierung bisher nicht geschafft, mit konkreten politischen Entscheidungen der chinesischen Regierung zu zeigen, dass sie das nicht einfach hinnehmen. Das ist beschämend für einen Staatenverbund, der sich bestimmten Werten und einer an diesen Werten ausgerichteten Außenpolitik verpflichtet hat.
Statt zu handeln, versuchen die EU und die Bundesregierung, das Thema auszusitzen: Die EU verweist auf ein Lieferkettengesetz, das die Kommission momentan erarbeitet und in den nächsten Wochen vorstellen will. Die Bundesregierung kommt in ihren Verhandlungen rund um ein nationales Lieferkettengesetz nur mühsam voran. Durch die einheitliche EU-Gesetzgebung würde es ohnehin obsolet werden. Dass diese Debatte im Falle Xinjiang nur eine Ausrede ist, zeigen Länder wie die USA und das Vereinigte Königreich, die schon längst auf die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang reagiert haben: mit Importstopps für Textilien aus Xinjiang, Strafzahlungen für Unternehmen, die von Zwangsarbeit profitieren, Exportverboten für Technologien und Produkte, die zur Massenüberwachung von chinesischen Minderheiten eingesetzt werden und damit schwerste Menschenrechtsverletzungen ermöglichen. Und schließlich mit personenbezogenen Sanktionen gegen Offizielle der Kommunistischen Partei. Seit Anfang Dezember hat die EU einen Mechanismus, um genau solche Sanktionen zu verhängen. Doch der blieb bisher ungenutzt. Stattdessen hat die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft das Investitionsabkommen mit der Volksrepublik zu einer Unzeit durchverhandelt und damit nicht nur Xi Jinping einen großen Gefallen getan, sondern sich selbst einen Maulkorb angelegt, bis die Details des Vertrags ausgearbeitet sind.
Bis die EU und die Bundesregierung endlich handeln, müssen wir also vorerst auf unsere Verbündeten setzen und an die Unternehmen appellieren, ihrer enormen Verantwortung in dieser globalisierten Welt gerecht zu werden. Sie sollten spätestens jetzt ihre Lieferketten proaktiv untersuchen und im Zweifel umstellen. Denn inzwischen sollte jeder Pekings Strategie durchschaut haben: Indem Xi Jinping ausländische Unternehmen und Milliarden Konsumenten auf der ganzen Welt quasi zu Profiteuren schwerster Menschenrechtsverletzungen macht, behält er die Kontrolle und schützt sich vor zu offensiver Kritik. Wir dürfen dabei nicht länger mitspielen.
Gyde Jensen, 31, ist Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und menschenrechtspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion. Sie ist Mitglied der 2020 gegründeten Interparliamentary Alliance on China (IPAC). Gyde Jensen hat internationale Politik studiert. Vor ihrem Einzug in den Deutschen Bundestag arbeitete sie als Referentin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Last modified: 16. August 2022