
Im Februar 2022 ist China zum zweiten Mal nach knapp 14 Jahren Austragungsort Olympischer Spiele – und das vor dem Hintergrund immer abscheulicherer Menschenrechtsverletzungen. Ein Rückblick auf die Sommerspiele 2008 – aus eigener Anschauung des Autors vor Ort – und ein Ausblick auf die Winterspiele von Beijing.
VON VOLKER WIEDERSHEIM
„Im Rückblick wird man erkennen, dass die Spiele eine Zäsur in der Entwicklung Chinas bilden.“ Das hat Thomas Bach mir am Ende der Olympischen Sommerspiele von Beijing im Jahr 2008 in einem Interview in den Block diktiert. Die Prognose sollte sich in der Folge Buchstabe für Buchstabe so erfüllen. Aber ganz anders, als es Bach, der damalige Vizepräsident und heutige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, gemeint hatte.
China stand 2008 als Ausrichter der Olympischen Spiele in der Kritik wegen seiner fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in Tibet. In der internationalen Staatengemeinschaft aber richtete sich der Blick auf andere Fokuspunkte. Der militante Islamismus galt als die große Bedrohung der globalen Ordnung. Die schon damals offensichtliche Unterdrückung von Chinas Minderheiten wurde in der politischen Welt zur Kenntnis genommen, ohne dass auf politischer oder wirtschaftlicher Ebene nennenswerter und nachhaltiger Druck ausgeübt wurde. De facto hatte das Land Carte blanche, zu tun und zu lassen, was es wollte. Die USA und Europa richteten ihre Politik nach der Annahme aus, dass es schon irgendwie gelingen werde, die aufstrebende Supermacht in eine Phalanx der Vernünftigen einzugliedern.
Die politische Führung um Staats- und Parteichef Xi Jinping kennt keine Scheu und kein Erbarmen an drei Fronten:
1. Bei systematischen kulturellen und ethnischen Säuberungen im Landesinneren.
2. Bei völker- und menschenrechtsverletzenden Ausfällen in den beanspruchten Einflusszonen jenseits seiner Grenzen.
3. Bei der Manipulation der chinesischen Gesellschaft und dem Entfachen eines rassistischen Nationalismus mit den Mitteln der Propaganda und beispielloser Überwachung.
Im Februar 2022 ist Chinas Hauptstadt Beijing nach knapp 14 Jahren erneut Austragungsort. Die Olympischen Winterspiele vom 4. bis zum 20. Februar machen Beijing nun zur ersten Stadt überhaupt, die die Arena für Sommer- und Winterspiele bietet. Dieses allerdings nicht als ein freundlicher, weltoffener Gastgeber für ein friedliches Fest des Sports, sondern als ein arroganter Unrechts-, Unterdrückungs- und Schurkenstaat.
Der Versuch des Nachzeichnens und der Projektion wird uns am Ende zu dieser eigentlich unerhörten Fragestellung führen: Werden die kommenden Winterspiele von Beijing eines Tages in der historischen Rückschau als Parallele zu den Nazi-Spielen von 1936 in Berlin gelten?
Es geht um Haltungsfragen
In den Wochen bis zur Eröffnung der Winterspiele in Beijing, während der Wettkämpfe und noch eine vergleichsweise kurze Zeit danach wird die China-Debatte weit in die Gesellschaften der westlichen Welt hineingetragen werden, bevor sie für viele Menschen wieder zu einem fernen Thema wird: irgendwie auch wichtig, aber nicht so dringlich. Jedenfalls nicht so wie das Tempolimit auf der Autobahn und das Gendersternchen.

Tatsächlich aber ist abzusehen, dass rund um die Olympischen Winterspiele Korridore für die künftige diplomatische Kommunikation mit und die politische Haltung gegenüber China angedeutet und womöglich teilweise festgelegt werden. Dass Sport und Politik auf der internationalen Bühne trennbar seien, wird für aufmerksame Beobachter so klar wie selten widerlegt werden.
Wie sich Deutschland, seine Nachbarn in Europa, die USA, Kanada und Australien jetzt zu China verhalten, hat Implikationen und schafft Fakten für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Diese Spiele werden auf gewisse Weise eine Stunde null für die künftigen bilateralen und multilateralen Beziehungen und Kontakte der Staaten mit China sein.
Die EU muss China Grenzen aufzeigen, deren Überschreitung mit Kosten verbunden ist. Die eigenen Werte für kurzfristigen wirtschaftlichen Gewinn zu opfern, ist nur eine illusorische Option. Denn Chinas Perspektive setzt auf langfristige Dominanz.
Wer äußert sich kritisch? Wer äußert sich diplomatisch? Wer wirbt für den Gastgeber der Spiele in Beijing? In einem Staat mit einer solchen Überwachungsobsession wie China wird jedes offizielle Wort auf die Goldwaage gelegt, dokumentiert werden – und Konsequenzen haben. Muss die Politik klar Position bekennen? Wenige bejahen das schon jetzt so eindeutig wie Reinhard Bütikofer, Grünen-Abgeordneter im Europaparlament und Vordenker einer neuen gesamteuropäischen China-Strategie. Bütikofer veröffentlichte am 13. Juni 2021 in der Zeitung „Tagesspiegel“ einen Gastbeitrag mit neun Thesen zur künftigen Ausgestaltung einer Haltung gegenüber China. Darin heißt es: „Die EU muss der Realität ins Auge blicken und China Grenzen aufzeigen, deren Überschreitung mit Kosten verbunden ist. Duckmäuser zu spielen und die eigenen Werte für kurzfristigen wirtschaftlichen Gewinn zu opfern, ist nur eine illusorische Option. Denn Chinas Perspektive setzt nicht auf Partnerschaft, sondern auf langfristige Dominanz.“
Besondere Aufmerksamkeit verdient dieser Ansatz in Niedersachsen mit Blick auf den Volkswagen-Konzern. Dieser teilweise „volkseigene Betrieb“ (20 Prozent der Anteile, eine Sperrminorität, sind im Besitz des Landes und damit Eigentum und Verantwortung von dessen Bürgern) macht seit Jahren seine einträglichsten Geschäfte auf dem chinesischen Markt in mehreren Joint Ventures. Unter anderem auch mit Produktionsstätten in der Uiguren-Region Xinjiang. Kritische Anmerkungen zur Menschenrechtslage in China anlässlich der Olympischen Spiele von Niedersachsens Ministerpräsident und Volkswagen-Aufsichtsrat Stephan Weil (SPD) wären überraschend, ernsthaft rechnen wird damit jedoch niemand.
Gibt es Boykotte? Und was könnten sie bewirken?
Am 8. Juli 2021 hat das Europäische Parlament in Straßburg in einer nicht bindenden Resolution die Spitzen der EU, also etwa Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, zum Boykott der Spiele in Beijing aufgefordert. Das Ergebnis: 578 schlossen sich dem Votum an, 29 waren dagegen, 73 enthielten sich. Im Wortlaut geht es um das Ablehnen von „Einladungen für Regierungsvertreter und Diplomaten zur Teilnahme an den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking […], solange die chinesische Regierung keine nachweisbare Verbesserung der Menschenrechtslage in Hongkong, der uigurischen Region Xinjiang, Tibet, der Inneren Mongolei und anderswo in China nachweisen kann.“
Bereits im Mai 2021 hatte die einflussreiche demokratische US-Politikerin Nancy Pelosi einen ähnlichen Boykott gefordert. Auch die Parlamente in Kanada, Großbritannien und den Niederlanden haben in diesem Sinne entschieden. Es geht – wohlgemerkt – um einen politischen Boykott. Staatsoberhäupter und Regierungschefs sollen demnach der chinesischen Staatsführung die kalte Schulter zeigen.

Von einem Boykott der Sportler ist in der politischen Sphäre derzeit kaum die Rede, obwohl Hunderte Menschenrechtsgruppen und Aktivisten dieses fordern. Klar ist ihnen dabei: Solange einzelne Sportler boykottierten, würde das kaum etwas bewirken. Wenn jedoch ganze Länder ihre Teilnahme für Olympia 2022 absagten, wäre dies sehr wohl ein Gesichtsverlust für China.
Allerdings geht es dem Regime Xi Jinpings nicht nur um das Ansehen in der Welt, sondern vor allem um die Demonstration seiner Macht gegenüber den Bürgern des eigenen Landes. Durch Zensur und Propaganda hat die politische Führung alle Optionen, die ihr nützlichen Narrative vorzugeben. Insofern ist China nicht ganz so leicht durch eine Boykott-Drohung erpressbar.
Warum überhaupt schon wieder Beijing?
Bei der 128. Sitzung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) am 31. Juli 2015 in Kuala Lumpur fiel die Entscheidung mit knappem Vorsprung: 40 Stimmen für den letzten verbliebenen Mitbewerber Almaty in Kasachstan, 44 für Beijing und China. Schon das ist bezeichnend: Das IOC hat bei der Vergabe der Winterspiele 2022 die Wahl zwischen zwei De-facto-Diktaturen, einem autoritär geführten Ölstaat und einem der Papierform nach kommunistischen Überwachungsstaat.
Wer erinnert sich noch? Im November 2013 hatten die Bürger in München, Garmisch-Partenkirchen sowie in den Landkreisen Traunstein und Berchtesgaden darüber abzustimmen, ob sich Oberbayern als Austragungsort für eben diese Winterspiele 2022 bewerben sollte. Das Votum fiel in allen vier Teilabstimmungen abschlägig aus. Ludwig Hartmann, seinerzeit Chef der Grünen-Fraktion im bayerischen Landtag und Wortführer des Bündnisses NOlympia, sagte damals gegenüber der Zeitung Die Zeit: „Das Votum ist kein Zeichen gegen den Sport, aber gegen die Profitgier des IOC. Ich glaube, in ganz Deutschland sind Olympia-Bewerbungen mit dem heutigen Tag vom Tisch. Zuerst muss sich das IOC ändern. Nicht die Städte müssen sich dem IOC anpassen, sondern umgekehrt.“ Festzuhalten ist: Das IOC hat sich nicht geändert.
Die besondere Männerfreundschaft Bach – Xi
Warum sollte sich das Unternehmen Olympia auch ändern – gerade mit Blick auf Beijing? Schließlich hat sich zwischen dem deutschen IOC-Chef Thomas Bach, einstiger Olympia- Fechter und selbst betroffen vom Sportler-Boykott 1980 in Moskau wegen des russischen Einmarsches in Afghanistan, und Chinas Staatspräsident Xi Jinping seit Jahren eine bemerkenswerte Vertraulichkeit und Männerfreundschaft entwickelt. So besuchte der chinesische Staats- und Parteichef im Januar 2017 – unterwegs zur UNO nach Genf – gar Lausanne und ließ sich von Bach persönlich das dortige Olympia-Museum zeigen. Ein solches diplomatisches Event ist nicht zum Nulltarif zu haben.
Und deshalb lässt Bach auf Xi nichts kommen. Zumal dieser noch im Februar dieses Jahres – genau ein Jahr vor der geplanten Eröffnungsfeier – über die amtliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua (Neues China) verbreiten ließ: „China hat sich zum Ziel gesetzt, 300 Millionen seiner Bürger zu ermutigen, einen Wintersport anzufangen.“

Nach Bachs Wiederwahl als IOC-Chef im März dieses Jahres war Xi einer der ersten und prominentesten Gratulanten. Noch am gleichen Abend erklärte sich der oberste Olympionike, der in unangenehmen Interviews noch immer die Geschmeidigkeit eines Fechters beweist, im Interview bei den ARD-Tagesthemen: „Bei den Olympischen Spielen gelten die globalen sportlichen Regeln des Sports und des IOC. Und damit wollen wir ein Beispiel setzen, wie eine Welt ohne Diskriminierung funktionieren kann.“ Das IOC sei „keine Weltregierung, die hier Probleme lösen kann, die keine UN-Generalversammlung, kein Sicherheitsrat löst, kein Präsident dieser Welt. Wir können nicht unsere Regeln außerhalb des Kerns der Olympischen Spiele einem souveränen Staat überstülpen. Dort ist die Politik gefragt, dort muss die Politik ihre Möglichkeiten nutzen.“
Welche Haltung wird also das IOC gegenüber China in der Frage der Menschenrechte, zur Unterdrückung in Tibet, dem Vorwurf des Genozids in Xinjiang, zur De-facto-Übernahme der Justiz und Polizeigewalt in Hongkong und zur immer unverhohleneren Drohung einer militärischen Intervention in Taiwan zeigen? Keine.
Corona – und wie die Pandemie Beijing in die Hände spielt
Die Sommerspiele 2020 von Tokio in Japan wurden wegen der Corona-Sorgen um ein Jahr verschoben. Und selbst im Sommer 2021 ging es nur so: für die Hauptstadt der Ausnahmezustand verhängt, auf den Rängen kein Publikum, alle Stadien leer.
Beijing plant, das Olympia-Geschehen in mehreren Blasen, wie den Wettkampfstätten, dem Olympischen Dorf und dem Pressezentrum, hermetisch abzukapseln. Normale Besucher aus dem Ausland erhalten keine Eintrittskarten.
Droht in Beijing nun das Gleiche? Nach Lage der Dinge ist das nicht zu erwarten. Publikum wird zugelassen werden, allerdings nur aus China. Normale Besucher aus dem Ausland erhalten keine Eintrittskarten, vermutlich nicht einmal Visa für die Einreise. Beijing plant, das Olympia-Geschehen in mehreren Blasen, wie den Wettkampfstätten, dem Olympischen Dorf, dem internationalen Pressezentrum und einem eigens eingerichteten Transport-Netzwerk dazwischen, hermetisch abzukapseln. Die begründeten Notwendigkeiten in Zeiten der Pandemie liegen hier mit dem an Staatsparanoia grenzenden Kontroll- und Überwachungswahn praktisch deckungsgleich übereinander. Corona spielt der Staatsmacht in die Hände.
Welche Bilder bekommt die Welt zu sehen? Und welche China?
Im Sommer 2008 war China noch so etwas wie der talentierte, aber tapsige Praktikant des medialen Managements Olympischer Spiele. Wer erinnert sich noch? Das TV-Feuerwerk zur Eröffnungsfeier war Fake: 28 leuchtende Fußstapfen am nächtlichen Himmel sollten den Weg vom Platz des Himmlischen Friedens zum „Vogelnest“-Stadion markieren. In der weltweiten TV-Übertragung waren aber nur die letzten paar Böller davon echt gefilmt, der Rest war Computer Generated Imagery, zu Deutsch: Trickfilm. Man hatte Angst, sich durch eine nicht vorhersehbare Panne zu blamieren. Dann lieber gleich schwindeln. Dumm, dass es am Folgetag aufflog – unfreiwillige Komik.
Jegliche vermeintliche Live-Übertragung aus den Sportstätten warum acht Sekunden verzögert. Diese Spanne ließ den Zensoren immer genug Zeit, die Ausstrahlung unliebsamer Bilder zu verhindern. So bekam etwa das globale TV-Publikum nie zu sehen, wie im Herrenfußballspiel China – Belgien ein Spieler der Heimmannschaft seinem Gegner einen Tritt in die Kronjuwelen verpasste.

Auch das Publikum beherrschte Olympia 2008 nicht auf Anhieb. Zwar waren nach offizieller Darstellung praktisch alle Wettkämpfe ausverkauft, doch oft und vor allem dort, wo keine chinesischen Stars am Start waren, herrschte große Leere in den Arenen. Zudem mussten Opponenten und Gegner einheimischer Sportler bei erfolgreichen Aktionen und Siegen mit Buhrufen rechnen.
Nach wenigen Wettkampftagen reagierten die Organisatoren. Damit das Gastgeberland nicht in Verruf geriet, verbreitete die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua eine Meldung mit einer Anleitung für – so wörtlich – „zivilisierten Applaus.“ Und was Xinhua verbreitet, hat in China nicht Berichts-, sondern Befehlscharakter. Die Zeitungen des Landes sind praktisch durch ungeschriebene Gesetze zur Veröffentlichung verpflichtet. Das Publikum solle alle Wettbewerber und nicht nur Sieger und schon gar nicht ausschließlich Chinesen bejubeln, so hieß es weiter. Damit nämlich „demonstrierten die Zuschauer Kälte und fehlenden Respekt für die anderen Sportler.“
Sieben Regeln für „zivilisierten Applaus“
Die neue Jubelordnung stammte aus einem Forschungsinstitut der Universität des chinesischen Volkes, an der es laut Xinhua ein „Studienzentrum für die humanistische Olympiade“ gibt. Insgesamt umfasste der in den Zeitungen abgedruckte Leitfaden für das Publikum sieben Verhaltensregeln: neben dem zivilisierten Applaus zählten dazu Freundschaft, Respekt, Mitgefühl, Eleganz, Toleranz und „richtiges Benehmen.“
Im gleichen Zuge wurden Gruppen von Musterzuschauern in Marsch gesetzt, die mit gutem Beispiel vorangehen. Eine solche „schnelle Applaus-Eingreiftruppe“, fast 60 einheitlich gekleidete junge Männer und Frauen, saß da in geschlossener Formation auf den ansonsten weitgehend leeren Rängen am Centre Court der Tennisarena. Dort unterstützte die Gruppe im Studentenalter mit unverkennbar einstudierten Klatsch-Choreographien und Sprechchören immer beide Spieler eines Matches. Zuerst hieß es „Na-Dar, go! Na-Dar, go!“ (Vorwärts, Nadal!) in einer Spielpause, und in der nächsten folgte im Sinne der Gerechtigkeit für Nadals italienischen Gegner Potito Starace in radebrechender Chinesisch-Adaption das „Si-Ta-La-Jie! Si-Ta-La-Jie!“ Das Match hatte übrigens tatsächlich Applaus verdient. Rafael Nadal, damals Weltklasse, musste gegen Starace, seinerzeit Nummer 67 der Weltrangliste, alles geben, um schließlich mit 2:1 Sätzen zu gewinnen. Am Nachmittag desselben Tages wurden die Beifalls-Bataillone auch bei den Kanu-Zwischenläufen und an den folgenden Tagen an vielen weiteren Wettkampforten gesehen.
Derartige Putzigkeiten dürfte es im Februar bei den Winterspielen kaum noch geben. Der ernste Kern ist: China produziert Bilder nicht nach journalistischen Grundsätzen, sondern nach propagandistischen. Wie das draußen in der Welt ankommt, ist weit weniger wichtig, als wie es nach innen wirkt. Bei der Ausrichtung der Spiele wird es 2022 wie auch schon 2008 nicht um Werbung in der Welt gehen, sondern um die Demonstration von Überlegenheit im Inneren – als Ausgleich für demokratische Legitimation der Regierung.

Alles, was stört, wird unterbunden, ausgeblendet und Verfolgt
Konnten Journalisten 2008 in Beijing frei ihrer Arbeit nachgehen? Jein. Tatsächlich war es den wenigen ausländischen Chinesisch sprechenden Reportern möglich, sich in Beijing frei zu bewegen. Doch wurde die Arbeit im Internationalen Pressezentrum mit 1.200 Arbeitsplätzen etwa durch plumpe Internetzensur eingeschränkt. Wer etwa bei Wikipedia nach „Amnesty International“, „Falun Gong“, „Dalai Lama“ oder „Tibet“ suchte, dem zeigte der Webbrowser diese Meldung an: „Die Netzwerkverbindung wurde während des Verbindungsaufbaus unterbrochen. Bitte versuchen Sie es nochmals.“ Das Gleiche übrigens beim Aufruf der Seite www.tibet-initiative.de – wir hatten das damals natürlich ausprobiert.
Es gab 2008 in Beijing übrigens noch eigens ausgewiesene „Protest Parks“ für politische Demonstrationen. Allerdings mussten diese bei den Behörden beantragt und genehmigt werden. Es gab nur wenige Anträge. Und keine Genehmigungen. 2022 sind keine „Protest Parks“ geplant.
Wie wird Deutschland die Spiele wahrnehmen?
Die politisch-moralischen Debatten um internationale Sportgroßveranstaltungen sind in Deutschland ein kurzlebiges Phänomen. In den Tagen vor der Eröffnung wird es darum gehen: Welche deutschen Politiker fahren hin? Wie halten es die anderen Staaten? Zur Eröffnung der Spiele von 2008 hatte sich Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, war als Ministerpräsident Niedersachsens auch mal Volkswagen-Aufsichtsrat) auf den Weg nach Beijing gemacht. USPräsident George W. Busch verfolgte das spektakuläre Basketballspiel seines „Dream Teams II“ gegen Gastgeber China an der Seite von dessen damaligem Präsidenten Hu Jintao.
Bei den Winterspielen 2014 verzichtete der damalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck auf die Visite im russischen Sotschi. Russland stand gerade wegen seiner schwulen- und lesbenfeindlichen Gesetzgebung erheblich in der Kritik der westlichen Welt. US-Amtskollege Barack Obama tat es Gauck gleich. Es war wohl schlau: Ein Foto an der Seite von Wladimir Putin hätte zwei Wochen später nicht gut ausgesehen. Da schickte der russische Präsident seine Soldaten auf die ukrainische Krim – eine völkerrechtswidrige Annexion, bis heute.
Xi und seine Regierung haben kein friedliches Sportfest der Völker im Sinn. Es geht letztlich darum, die Spiele zu nutzen, um eine Nation in immer tieferen Nationalismus zu treiben.
Sobald die Wettbewerbe laufen, ändern sich aber erfahrungsgemäß Fokus und Tonfall deutscher Olympia-Reporter. Dann geht es um Jubel und Tränen, dann werden Medaillen gesammelt und Fragen gestellt wie „Warum hat es heute nicht gereicht?“ und „Haben Sie Ihren Sieg überhaupt schon richtig realisiert?“ Das Politische rückt dann schnell hinter das Emotionale in die Unschärfe des Bildhintergrunds. Tibet, Xinjiang, die Innere Mongolei, Hongkong und Taiwan – nur spektakuläre Protestaktionen könnten dann noch einmal für gesteigerte Aufmerksamkeit sorgen. Das Gros der Sportreporter ebenso wie das breitere deutsche Publikum daheim zählt dann doch lieber Medaillen als Menschenrechtsverstöße. Es ist nun mal so: Deutscher Sportjournalismus kann „Gold, Silber, Bronze“- und „1:0“-Berichterstattung. Die Versuche, bei Olympischen Spielen eine Art Sportreporter-Auslandsjournal zu machen, führen praktisch immer zu Peinlichkeiten.
Fazit
„Die Geschichte wiederholt sich nicht, doch ihr Echo ist zu hören.“ Auf diese Formel hat der Journalist Sean Ingle des britischen Guardian schon im März dieses Jahres die Fragestellung verdichtet, ob sich in Beijing 2022 der olympische Sündenfall von Berlin 1936 wiederholen könnte.
Auch Xi Jinping und seine Regierung haben kein friedliches Sportfest der Völker aller Länder im Sinn. Es geht letztlich darum, die Spiele zu nutzen, um eine Nation in immer tieferen Nationalismus zu treiben. Das wahre Drama ist dabei einerseits, dass ein Regime dieses betreibt, und zugleich andererseits, dass die Propaganda bei den Bürgern Chinas überwiegend verfängt.
Weit vorausgreifend stellt sich die Frage, ob auch Chinas Eltern und Großeltern sich eines Tages mit Blick auf die Unterdrückung und den Genozid der Minderheiten ihren Kindern und Enkeln erklären müssen: Habt ihr wirklich nichts gewusst? Was habt ihr dagegen unternommen?

Volker Wiedersheim ist Redakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ). Er hat von 1985 bis 1989 an der Universität Bonn und 1990/91 an der Cheng Kung University in Tainan/Taiwan Chinesisch studiert und kennt China von zahlreichen ausgedehnten Reisen, 1994 auch durch Tibet, Qinghai, Gansu und die Innere Mongolei. 2008 berichtete er für die HAZ aus Beijing von den Olympischen Sommerspielen.
Last modified: 16. August 2022