
Der Dalai Lama und seine tibetischen Mitflüchtlinge heben sich als Gemeinschaft von einer Vielzahl anderer Flüchtlingsgruppen in der ganzen Welt ab. Ihnen ist es gelungen, ihre nationale Identität wiederzubeleben und sich im Exil zu organisieren.
VON VIJAY KRANTI
Als Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, 1959 aus den Fängen der chinesischen Armee von Tibet nach Indien floh, war er ein 24-jähriger Mönch. Er hatte alle verbliebenen Befugnisse und Privilegien verloren, die ihm die chinesische Volksregierung als entthrontem Mönchsherrscher des besetzten Tibets im Jahr 1951 zugestanden hatte. Weder er noch einer der ihn begleitenden tibetischen Beamten hatten Erfahrung in der internationalen Politik. Die rund 80.000 Tibeter, die ihm ins Exil folgten, waren in einem noch schlechteren Zustand. Traumatisiert durch die von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und der Volksbefreiungsarmee entfesselten Gewalt und der anstrengenden Reise über schneebedeckte hohe Pässe, waren sie kaum in der Lage, für sich oder ihr Oberhaupt eine „Bereicherung“ zu sein.
In den ersten Jahren des Exils starben Hunderte dieser mittel- und obdachlosen Flüchtlinge in ihren Baracken an Erschöpfung, den Klimaveränderungen, Cholera und anderen Krankheiten. Kaum einer war in der Lage, in einer völlig fremden Welt auch nur die nächste Mahlzeit zu verdienen. Es war sicherlich keine beneidenswerte Position, aus der der Dalai Lama es mit seinem kriegerischen kommunistischen Gegner aufnehmen sollte. Die erste Herausforderung bestand darin, eine sichere und friedliche Unterkunft für die Flüchtlinge zu organisieren und eine Ära des Wiederaufbaus mit den ihm zur Verfügung stehenden Arbeitskräften einzuleiten. Die andere Herausforderung bestand darin, die Unterstützung einer wenig enthusiastischen Völkergemeinschaft zu gewinnen. Doch dank der Vision des Dalai Lama, seiner organisatorischen Fähigkeiten und des Vertrauens der anderen in ihn ist seine tibetische Diaspora heute recht erfolgreich darin, sich einen respektablen Platz in einer halb freundlichen, halb gleichgültigen Welt zu verschaffen.
Dalai Lama
Auch auf persönlicher Ebene verdient der 75-jährige Weg des Dalai Lama selbst unter bekannten politischen und sozialen Persönlichkeiten der jüngeren Geschichte Hochachtung. Er steht an der Spitze der heutigen Staatsmänner und gesellschaftlichen Führer. Ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis, dem Magsaysay Award, der Congressional Gold Medal des US-Kongresses und zahllosen anderen Ehrungen internationaler Institutionen, Parlamente und Regierungen, hat sich der Dalai Lama als einzigartiger Staatsmann und spirituelles Oberhaupt erwiesen, der über alle Glaubensrichtungen, Nationalitäten und politischen Ideologien hinweg eine breite Akzeptanz und Achtung genießt.
Rehabilitation
Auch die tibetische Flüchtlingsgemeinschaft hat sich so entwickelt, dass sie sich als eine der erfolgreichsten Flüchtlingsgeschichten der modernen Welt präsentieren kann. Insgesamt leben heute etwa 150.000 Tibeter im Exil: Fast 100.000 in Indien und etwa 20.000 in Nepal und Bhutan, der Rest ist über den ganzen Globus verstreut – ein Großteil lebt in der Schweiz, den USA, Kanada und einigen anderen westlichen Ländern.

Dank einer gut durchdachten Rehabilitationspolitik für die tibetischen Flüchtlinge, die von Pandit Jawahar Lal Nehru, dem früheren indischen Premierminister, initiiert wurde, sind die meisten tibetischen Flüchtlinge in Indien in etwa 35 gut organisierten Siedlungen in Karnataka, Himachal Pradesh, Ladakh, Kaschmir, Uttarakhand, Westbengalen, Arunachal Pradesh, Odisha, Chhattisgarh, Maharashtra und einigen anderen indischen Bundesstaaten untergebracht. Es gibt zehn ähnliche Siedlungen in Nepal und fünf in Bhutan. Der größte Teil der Flüchtlinge in Indien wurde in Karnataka, dem früheren Bundesstaat Mysore in Südindien, an Orten wie Bylakuppe, Mundgod, Kollegal und Hunsoor angesiedelt.
Der verstorbene S. Nijlingappa, der Oberste Minister des ehemaligen Bundesstaates Mysore, spielte eine historische Rolle bei der Wiedereingliederung der tibetischen Flüchtlinge in Indien. Er stellte ihnen in Mysore große Dschungellandflächen zur Verfügung. Auch Himachal Pradesh leistete einen bemerkenswerten Beitrag in dieser Richtung: Der Bundesstaat beherbergt den Dalai Lama und die tibetische Exilregierung in Dharamshala und stellt Land und andere Einrichtungen für tibetische Siedlungen in Orten wie Shimla, Bir, Paonta Sahib, Chauntra, Pandoh, Purwala, Manali, Palanpur und Dalhousie zur Verfügung. Auch im ehemals ungeteilten Bundesstaat Uttar Pradesh (heute Uttarakhand) lebt eine beträchtliche Anzahl tibetischer Flüchtlinge in Siedlungen von Dehradun, Herbertpur und Mussoorie. Ebenso hat die großzügige finanzielle und materielle Unterstützung zahlreicher Hilfsorganisationen und Einzelpersonen aus westlichen Ländern dazu beigetragen, die Tibeter dorthin zu bringen, wo sie heute sind.
Die tibetische Siedlung Chandragiri in Odisha nimmt aufgrund der persönlichen Initiativen des (verstorbenen) ehemaligen Ministerpräsidenten dieses Bundesstaates, Biju Patnaik, in dieser Liste einen Ehrenplatz ein. Bevor er Ministerpräsident wurde, war Patnaik Pilot der indischen Luftwaffe und bildete tibetische Guerillakrieger zu einer spezialisierten Eliteeinheit der indischen Armee in Form der „Special Frontier Force“ (SFF) aus. Die SFF, eher als „Establishment-22“ oder kurz „Two-Two“ bekannt, spielte eine entscheidende Rolle im Befreiungskrieg von Bangla Desh im Jahr 1971. Und im Jahr 2020 erregte sie die Herzen ganz Indiens, als die „Two-Two“-Jungs den Spieß gegen die aggressive chinesische Armee in Ladakh umdrehten, indem sie strategische Anhöhen besetzten, die die chinesische PLA übersehen hatte.
Wirtschaft
Die tibetischen Siedlungen in Indien, eingerichtet als exklusive tibetische Minizonen, genießen eine relativ große kulturelle und wirtschaftliche Autonomie, die von der indischen Zentralregierung und den Regierungen der jeweiligen Bundesstaaten gewährt wird. Dies half den Tibetern, ihre Sprache, ihre Religion, ihre Bildung, ihr Kunsthandwerk, ihre geistlichen und weltlichen Künste und ihre regionalen sozialen Praktiken zu bewahren. Zugang zu ausgedehnten landwirtschaftlichen Flächen und die Einrichtung genossenschaftlicher Handwerkszentren erweisen sich ebenfalls als Segen für die tibetischen Flüchtlinge, da sie so ihren Lebensunterhalt verdienen können.
„Die Einrichtung genossenschaftlicher Handwerkszentren erweisen sich ebenfalls als Segen für die tibetischen Flüchtlinge, da sie so ihren Lebensunterhalt verdienen können.“
Die Genossenschaften tibetischer Flüchtlingsgemeinschaften sind eine Erfolgsgeschichte in Indien, wo die Genossenschaftsbewegung zwar auf nationaler Ebene eingeführt wurde, aber aufgrund von Korruption mit vielen Problemen zu kämpfen hat. Die tibetischen Siedlungen gehören zu den seltenen Gemeinschaften in Indien, in denen Genossenschaften nicht nur erfolgreich funktionieren, sondern die betroffenen tibetischen Gruppen und Gemeinschaften auch wirtschaftlich emanzipiert haben. Von der Landwirtschaft, der Vermarktung von Agrarprodukten bis hin zu Milchgenossenschaften und Handwerkszentren hat die Gemeinschaft unter Beweis gestellt, organisiert und diszipliniert zu arbeiten. Persönliche unternehmerische Fähigkeiten und Geschäftssinn auf individueller und familiärer Ebene, eine Eigenschaft, für die die Tibeter bekannt sind, haben dieser Flüchtlingsgemeinschaft zu einer verlässlichen finanziellen Autonomie und Wohlstand verholfen.
Höhere Bildung und Ausbildung
Über Jahrzehnte etablierten sich in den tibetischen Siedlungen Klöster als Zentren höherer Bildung in verschiedenen Ausrichtungen des tibetischen Mahayana-Buddhismus. Das von tibetischen Gelehrten gegründete und geleitete Zentralinstitut für Höhere Tibetische Studien (CITHS) in Sarnath bei Varanasi wurde in Indien zu einem führenden Studienzentrum auf dem Gebiet der Philosophie und Religion. Aufgrund seiner Leistungen in Bildung und Forschung wurde das CITHS von der indischen University Grant Commission als „deemed university“ (anerkannte Universität) bestätigt. Daneben gründeten tibetische Gelehrte mehr als zwei ähnliche „deemed universities“, darunter eine in Leh in Ladakh und eine in Gangtok in Sikkim. Tibetische Bildungszentren in Karnataka und Himachal Pradesh ziehen Gelehrte und Forscher aus vielen Ländern der Welt an. Einer der vielen bemerkenswerten Beiträge des CITHS ist seine Wiederbelebung verlorener indischer Literatur.
Das Institut hat mehr als 100 klassische Sanskrit-Manuskripte wieder zum Leben erweckt, die indische Gelehrte u.a. aufgrund des Vandalismus der Moguln in Nalanda (Anm.: im 5. Jahrhundert gegründete größte buddhistische Universität Indiens, heute eine Ruinenstätte) als endgültig verloren aufgegeben hatten. Diese Bücher hatten in Tibet als Übersetzungen von tibetischen Gelehrten überlebt, die in Nalanda studiert hatten. Tibetische Flüchtlingsgelehrte hatten sie auf ihrer Flucht aus Tibet nach Indien mitgebracht. Heute gibt es in Indien und einigen anderen Ländern etwa 230 hochrangige Klöster und Institutionen, die durch tibetische Flüchtlingsgelehrte wieder zum Leben erweckt worden sind. Ein Grund für die Erfolgsgeschichte der tibetischen Diaspora ist ihr Bildungssystem, das inzwischen zwei Generationen gebildeter Tibeter hervorgebracht hat. Sie verwalten nun das gesamte tibetische System im Exil.
Der indische Premierminister Nehru hatte gleich beim ersten Treffen mit dem Dalai Lama im Jahr 1959 in Mussoorie die Einrichtung einer „Zentralen tibetischen Schulverwaltung“ initiiert, um den tibetischen Kindern eine moderne und traditionelle Bildung zu ermöglichen. Heute gibt es 62 tibetische Schulen mit mehr als 15.000 Schülern und über 2.000 Lehrern und Mitarbeitern in Indien und Nepal. Sie haben die tibetische Diaspora zu einer stolzen Gemeinschaft mit einem Alphabetisierungsgrad von über 90 Prozent gemacht.
Wiederbelebung des Mahayana-Buddhismus
Auch auf religiöser Ebene hat die tibetische Diaspora eine große Rolle dabei gespielt, dem Mahayana-Buddhismus, der in der jüngeren Geschichte an Popularität verloren hatte, neues Leben einzuhauchen. Obwohl Chinas gewaltsame Übernahme von Tibet und die Flucht des Dalai Lama ins indische Exil die unglücklichste Entwicklung der modernen Geschichte Tibets war, erwies sie sich im Verborgenen für den Mahayana-Buddha-Dharma als Segen. Dank der Popularität des Dalai Lama auf internationaler Ebene und seiner Reisen durch die Welt haben Hunderte von buddhistischen Lern- und Praxiszentren mit Millionen von nicht-tibetischen Anhängern den tibetischen Buddhismus heute sehr bekannt gemacht.
„Die Erfolgsgeschichte des tibetischen Volkes wirkt noch beeindruckender, wenn man bedenkt, dass diese Institutionen von Menschen aufgebaut wurden, die all ihren weltlichen Besitz verloren hatten und inmitten der chinesischen Gräueltaten aus ihrem Vaterland fliehen mussten.“
Kunst und Handwerk
Auch zur Ausbildung in traditioneller tibetischer Kunst, Volkskunst, traditioneller Musik, darstellenden Künsten und tibetischer Medizin hat die tibetische Flüchtlingsgemeinschaft ein Netz von hochrangigen Zentren aufgebaut. Diese Leistungen der kleinen tibetischen Flüchtlingsgemeinschaft in Indien haben Indien zum größten Reservoir authentischer tibetischer Kultur in der Welt gemacht. Ein wesentlicher Grund für die Erfolgsgeschichte der tibetischen Diaspora ist die Vision des Dalai Lama für das künftige Tibet und seine Fähigkeit, die Flüchtlinge zu organisieren.

Er erkennt die Talente der überlebenden tibetischen Künstler, Handwerker und Gelehrten und ermutigt sie, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten an die jüngere Generation weiterzugeben. Die Erfolgsgeschichte des tibetischen Volkes wirkt noch beeindruckender, wenn man bedenkt, dass diese Institutionen von Menschen aufgebaut wurden, die all ihren weltlichen Besitz verloren hatten und inmitten der chinesischen Gräueltaten aus ihrem Vaterland fliehen mussten.
Die „Momo“-Revolution
Es gibt Bereiche, in denen sich die tibetische Flüchtlingsgemeinschaft einen Namen gemacht und einen besonderen Platz in den Herzen ihrer indischen Gastgeber gewonnen hat: nämlich beim Einzelhandel mit Wolle, Fast Food, Medizin und Bildung. In den Wintermonaten gibt es in den meisten indischen Städten einen „tibetischen Markt“, auf dem zumeist Frauen Unmengen gestrickter und anderer Wollkleidung zu attraktiven Preisen verkaufen.
In Indien ist Tibet auch durch die allgegenwärtigen Momos, die köstlichen Teigtaschen, zu einem Begriff geworden. Als die Tibeter nach Indien kamen, wurde Momo zum Synonym für Tibet. Studenten und Familien genossen Momos als exotisches und preiswertes Essen in kleinen tibetischen „Dhabas“ (Imbissbuden am Straßenrand). Heute sind Momos fester Bestandteil normaler indischer Dhabas. Auch mit der tibetischen Medizin konnte man die Herzen der einfachen Inder gewinnen. In vielen Städten Indiens ist eine Kette von „Men-Tsee-Khang“-Kliniken entstanden, die umgangssprachlich als „Tibetische Medizinische Zentren“ bekannt sind.

Zahlreiche indische Patienten kommen in diese Zentren, um Beschwerden behandeln zu lassen, die von einfachen Haut- und Verdauungsproblemen bis hin zu komplizierten Krankheiten wie Arthritis und Krebs reichen. Die Zentren sind für ihre kostengünstige und wirksame Behandlung bekannt und werden von tibetischen Ärzten geleitet, die am „Tibetan Medical and Astro Institute of HH the Dalai Lama“ in Dharamshala ausgebildet worden sind.
Die Arzneimittel aus diesem Institut und andere Kräuterrezepturen sind heute auf der Exportliste der tibetischen Gemeinschaft ebenso wichtig wie tibetische Teppiche, Metallarbeiten, Thangkas (religiöse Malereien) und Nudeln. Das große Netz tibetischer Schulen in tibetischen Siedlungen ist auch für die Kinder aus den umliegenden indischen Gemeinden ein Segen. Nachdem die Zahl der Flüchtlinge aus Tibet in den letzten Jahren drastisch zurückgegangen ist, hat die Zahl der indischen Schüler in den tibetischen Schulen merklich zugenommen. Auch die tibetischen Klöster und Hochschulen nehmen Studenten aus den indischen Himalaya-Grenzstaaten, Europa, Amerika, der Mongolei, Russland, Vietnam usw. auf.
Die große Verlagsgemeinschaft
Die Liebe der tibetischen Gemeinschaft zu Musik, Tanz, Theater und zur Literatur hat sich erhalten und die winzige Diaspora einzigartig gemacht. Um die Menge veröffentlichter Musikalben und Literatur – von populärer Literatur bis hin zu philosophischen Werken –, die von tibetischen Künstlern, Schriftstellern, Philosophen und Forschern in den vergangenen 65 Jahren hervorgebracht wurden, können uns sogar viele unabhängige Nationen beneiden.
Neue Technologien
Auch die Flexibilität und Geschicklichkeit des tibetischen Volkes bei der Übernahme neuerer Technologietrends ist herausragend. Ich erinnere mich, wie die Entwicklung einer tibetischen Schreibmaschine eines enthusiastischen Teams von Tibetern Mitte der 1970er Jahre in Dharamshala als epochale Entwicklung gefeiert wurde.
Ich staune immer wieder, wie schnell sich die Gemeinschaft neue und komplexe Technologien wie die Computer- und Informationstechnologie aneignet, u.a. die Perfektion junger Tibeter, die das Tibet Action Institute in Dharamshala leiten und eine wirksame Firewall gegen die äußerst einfallsreiche chinesische Armee digitaler Eindringlinge betreiben. Jüngstes Beispiel für die tibetische Vielseitigkeit im Bereich der digitalen Technologien ist das „Monlam IT Research Centre“, das mit vier primären maschinellen Lernmodellen, dem maschinellen Übersetzungsmodell, dem OCR-Modell, dem Speech-to-Text- und dem Text-to-Speech-Modell, bemerkenswerte Erfolge erzielt hat.
„Ich staune immer wieder, wie schnell sich die Gemeinschaft neue und komplexe Technologien wie die Computer- und Informationstechnologie aneignet“
Dieses Projekt, das Geshe Monlam, ein dynamischer Lama, entwickelt hat, hat eine praktische Brücke zwischen Tibetisch und anderen Weltsprachen geschlagen. Es steht bereits weltweit zur Verfügung, um Texte zwischen dem Tibetischen und anderen Sprachen auszutauschen. Neben der tibetischen Schriftart „Monlam“ zur Verwendung von Computern in tibetischer Sprache hat der Mönchsgelehrte auch ein umfangreiches „Großes Tibetisches Wörterbuch Monlam“ in 223 Bänden entwickelt.
Demokratisches System
Das tibetische politische System hat sich von einer feudalen Theokratie zu einer modernen Demokratie entwickelt, die durch einen gewählten „Sikyong“, den Präsidenten, und das „Chitue“, das Parlament, funktioniert. Beide werden von der tibetischen Gemeinschaft, die über mehr als zwanzig Länder auf allen Kontinenten verstreut ist, in geheimer Wahl gewählt. Alle drei Säulen des tibetischen Systems, die Exekutive, Legislative und Judikative, verfügen über unabhängige Befugnisse, um das politische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Schon bald nach seiner Flucht nahm der Dalai Lama eine revolutionäre Änderung des tibetischen Regierungssystems vor.
Am 12. September 1960 definierte er die tibetische Verfassung auf Grundlage demokratischer Werte neu – im Gegensatz zum bisher vorherrschenden theokratischen und feudalen System – und hat später weitere demokratische Reformen eingeführt. Der Prozess erreichte 2011 seinen Höhepunkt, als er alle politischen Befugnisse an die tibetische Exekutive unter Führung des „Sikyong“ übertrug.
„Alle drei Säulen des tibetischen Systems, die Exekutive, Legislative und Judikative, verfügen über unabhängige Befugnisse, um das politische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.“
Auch bei den einzelnen Flüchtlingsgemeinschaften gibt es eine zweite legislative Ebene mit derzeit 38 lokalen Versammlungen. Die Central Tibetan Administration, kurz CTA, wie sichdie tibetische Exilregierung (Tibetan Government-in-Exile) selbst nennt, hat ihren Sitz in Gangchen Kyishong, kurz Gang-Kyi, in Dharamshala. Gang-Kyi ist ein Gebäudekomplex, der sich an den Berghängen entlang erstreckt und in dem alle wichtigen Büros der Exilregierung untergebracht sind.
Dazu gehören das Parlamentsgebäude, das Kabinettssekretariat und die Oberste Justizkommission sowie die Büros der Ministerien für Inneres, Religion und Kultur, Gesundheit, Finanzen, Information und internationale Beziehungen, Bildung und Sicherheit. Jedes Ministerium wird von einem Kalon (Minister) geleitet, der vom Sikyong ausgewählt und vom Parlament bestätigt wird. Dort untergebracht sind auch die „Library for Tibetan Works and Archives“, die Bibliothek für tibetische Werke und Archive, das „Men-Tsee-Khang“, auch „Tibetan Medical and Astro Institute“, das tibetische medizinische und astrologische Institut, das Delek-Krankenhaus und der Tempel des Staatsorakels Nechung.
Die Regierung unterhält außerdem zwölf Missionen oder Vertretungen in Neu-Delhi, New York, Paris, Brüssel, Taipeh, Tokio, Genf, London, Canberra, Moskau und Pretoria. Auf Druck von Peking wurde das Vertretungsbüro des Dalai Lama in Kathmandu 2007 von König Gyanendra geschlossen. Eine Reihe von Aktionsgruppen in der tibetischen Diaspora betreiben politische Bildung und diverse Aktivitäten. Der Tibetan Youth Congress (TYC) ist die größte und populärste politische Gruppe unter ihnen. Andere bekannte Gruppen in der NGO Szene sind die Tibetan Women‘s Association (TWA), Gu-Chu-Sum, die Organisation ehemaliger politischer Gefangener, die Tibetan Freedom Movement und das Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD).

Daneben sind in den letzten Jahren weltweit Hunderte von aktiven Tibet-Unterstützungsgruppen entstanden. Einige, wie die „International Campaign For Tibet“ (ICT), „Students for a free Tibet“ (SFT) und „Friends of Tibet“ (FOT), haben sich zu internationalen Bewegungen entwickelt. Die jüngste Verabschiedung des „Tibet Policy Act“ durch den US-Kongress und die anschließende Unterzeichnung durch den US-Präsidenten, um ihn zu einem Gesetz zu machen, sind ein historischer Schritt für Tibets Kampf um Gerechtigkeit und Unabhängigkeit.
Gleichzeitig haben Parlamente weltweit, einschließlich des Europäischen Parlaments, des US-Kongresses und zahlreicher anderer Parlamente, über 100 Entschlüsse verabschiedet, in denen sie dem Dalai Lama und den Tibetern ihre Unterstützung zum Ausdruck bringen und China in Bezug auf Tibet kritisieren. Jedes Jahr am 10. März, dem Jahrestag des Aufstandes des tibetischen Volkes gegen die chinesische Besatzung von 1959, hissen Hunderte von Stadtverwaltungen in Europa, insbesondere in Deutschland, auf offiziellen Gebäuden die tibetische Nationalflagge, um ihre Solidarität mit dem tibetischen Volk zu bekunden. Kein Wunder, dass die tibetische Flüchtlingsgemeinschaft einen Platz in der Liste der erfolgreichsten Flüchtlingsgeschichten der modernen Weltgeschichte verdient hat.
Last modified: 12. Mai 2025