
Hip-Hop ist wichtiges Mittel für junge Tibeterinnen und Tibeter, um sich auszudrücken. Mit ihrer Musik sind sie erfolgreich – in und außerhalb Tibets. Und auch politische Themen spielen eine wichtige Rolle.
VON TENZIN NAMGYEL
In der kulturspezifischen Agenda des 14. Dalai Lama liegt wahrscheinlich der Schlüssel zu dem, was wir vierzig Jahre später als eine besonders erfolgreiche Flüchtlingsgemeinschaft betrachten. Bereits im ersten Jahr nach seiner Flucht reformierte er Tibets klösterliche Institutionen im Exil und rief weitere ins Leben, darunter auch das Tibetan Institute of Performing Arts (TIPA), das in der Nähe seines Wohnsitzes in Dharamsala, Nordindien, angesiedelt wurde. Das Institut lehrt traditionelle tibetische Musik und Tanz und gibt das Wissen, das sonst verloren ginge, weiter an nachfolgende Generationen.
Junge, oft im Exil aufgewachsene Tibeterinnen und Tibeter identifizieren sich zum einen mit den traditionellen tibetischen Klängen, unterliegen aber auch dem Einfluss westlicher Musikstile. Schon in den 1980ern kombinierten sie westliche Rock’n’Roll-Musik mit tibetischen Texten, ohne die Community oder den politischen Kampf abzulehnen. Obwohl jene tibetische Musik in konservativen Kreisen kritisiert wird, weil sie vermeintlich zu westlich, zu sehr nach Bollywood oder zu chinesisch klingt, waren viele junge Tibeter und Tibeterinnen bereit, ihre eigenen Wege zu gehen. Dies blieb kein exilspezifisches Phänomen, sondern betrifft heute auch die tibetische Jugend in Tibet.
Die zeitgenössische tibetische Musikszene ist auf den ersten Blick ein wilder Mix aus generischen Popkultur-Repliken, angetrieben von einer Vielzahl neuer Künstler, die aus dem Nichts aufzutauchen scheinen, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden. Während so genannte gestandene Musiker im Exil ihr Geld mit Live-Auftritten in der tibetischen Diaspora verdienen, müssen junge Künstler in Tibet um ihr Überleben kämpfen. Hier mangelt es zwar nicht an jungen Talenten für tibetische Musik, es gibt aber keinen Markt und nicht genug Unterstützung, um sie auf Dauer zu erhalten.
Die typischen Themen der Hip-Hop-Kultur: Identität, Realness und Widerstand. Vielleicht ist es genau dieser Ansatz, der in den letzten zehn Jahren immer mehr Tibeter dazu motivierte, Rap als ihren bevorzugten musikalischen Ausdruck zu wählen.
Trotz der harten Bedingungen für tibetische Exilmusik gibt es erfrischende Entwicklungen. Eine Welle von Hip-Hop-Musikvideoproduktionen von tibetischen Künstlern ist auf dem Vormarsch. Sie verbreiten ihre Musik auf YouTube und anderen sozialen Medien.
Ein Startpunkt dieser Bewegung war ein YouTube-Video, das von jungen Tibetern in der Schweiz gemacht wurde und sich 2011 wie ein Lauffeuer im Internet verbreitete. Es war das Rap-Debüt des jungen Tibeters Karma Emchi aka (alias) Shapaley. Der „Shapale Song“ hat inzwischen über 300.000 Klicks und Kultstatus in der tibetischen Rap-Szene. Mit seiner Liebe zu Old School Beats und humorvollen Texten eroberte Karma Emchi nicht nur die Herzen der Tibeterinnen und Tibeter, sondern machte auch den tibetischen Rap international salonfähig. Seine Themen drehen sich um die tibetische Identität, was sie ausmacht und wie sie ihn persönlich prägt.
Identität, Realness und Widerstand gehören zu den typischen Themen der Hip-Hop-Kultur, welche sich vor allem während der Bürgerrechtsbewegung und des „Black Power Movement“ in den Texten der Afroamerikaner manifestierten. Der Kampf gegen die weiße Vorherrschaft inspirierte sie zu einer Gegenkultur, in der es darum geht, stolz zu sein auf die Herkunft und die Identität, mit der man geboren wurde, anstatt sich zu verstecken. Vielleicht ist es genau dieser Ansatz und Gedanke, der in den letzten zehn Jahren immer mehr Tibeter dazu motivierte, Rap als ihren bevorzugten musikalischen Ausdruck zu wählen. In einem Interview mit Kunsang Kelden für den Online-Blog Lhakar Diaries bezieht sich der in New York lebende tibetische Rapper Tenzin Wangchuk aka Exiled Prophet genau auf diese Geschichte der Unterdrückung und des Widerstands als seine persönliche Inspiration.

„Die Gründer des Hip-Hops versuchten die von unterdrückerischen Institutionen gesetzten Grenzen zu überwinden, und schufen ein Gefühl von Frieden, Liebe, Einheit, Wissen und Ermächtigung. Ihre Texte erzählten Geschichten über Stolz und Identität; von der Überwindung von Barrieren, indem sie sich mit einem gemeinsamen Ziel und in Respekt zusammenschließen. Ich denke, das ist etwas, mit dem sich Tibeter wirklich identifizieren können“, so Tenzin Wangchuck aka Exiled Prophet 2017 für Lhakar Diaries.
Der Zusammenschluss scheint zu gelingen. Tenzin Wangchuk und Shapaley arbeiteten gemeinsam an einem Musikvideo zum Song „Tsampa“. Es ist das dritte Video von Shapaley, das viral ging. Inzwischen gibt es eine Feature-Version des Videos, an der sich ein weiterer tibetischer Rapper beteiligt hat. Der in Delhi lebende Tenzin Namsel aka Tnammy fügte dem „Tsampa“-Rap eine weitere Strophe hinzu und machte damit eine Kollaboration über drei Kontinente hinweg komplett.
Tsampa – das tibetische Wort für ein Gericht aus gerösteter Gerste, angerührt mit Butter und Tee oder Wasser – hat eine historische Bedeutung, die nicht jeder kennt. Tsering Shakya, Professor an der Universität von British Columbia, schrieb in einem Essay über die ersten zwanzig Jahre der chinesischen Besatzung Folgendes:
„Tibeter sind unterschiedlich in Sprache, Bräuchen, Gewohnheiten – es gibt eine große Vielfalt innerhalb der einzelnen tibetischen Gruppen. Als die chinesische Armee 1950 in die Region einmarschierte, fehlte den Tibetern daher zunächst eine einigende Kraft. Tsampa – das in ganz Tibet gegessen wird – wurde zu dieser Kraft. Denn als tibetische Widerstandsführer versuchten, die Tibeter in einer einzigen Identität zu vereinen, nahmen sie Tsampa als Symbol.“

Der Tibet-Spiegel, die 1956 meistgelesene Wochenzeitung Tibets, rief die „Tsampa-Esser“ dazu auf, ihren Geist zu vereinen und sich aufzulehnen, wie es dann auch zwei Jahre später am 10. März geschah. Tsampa diente dazu, Dialekt, Geschlecht und Religion zu transzendieren und die Tibeter der verschiedenen Regionen zu einen.
Auch der tibetische Rapper Lhundrub Gyatso aka Uncle Buddhist veröffentlichte einen Song mit dem Titel „Tsampa“. Er gehört zu einer Gruppe von Rappern aus der tibetischen Region Amdo, die derzeit die Musikszene in China aufmischen. In seinen Texten setzt er sich vor allem mit der sich schnell wandelnden ländlichen Gesellschaft und dem Großstadtleben auseinander. Dabei repräsentiert er selbst eine Generation von in Tibet lebenden Tibetern, die auf kreative Weise moderne und traditionelle Elemente miteinander verbinden. Sie wollen den kulturellen Remix zulassen, ihre Identität innerhalb der ihnen gesetzten Rahmenbedingungen neu erfinden, um diese so am Leben zu erhalten. Zu ihnen gehören auch Interpreten wie Danzeng, KOG und Dawa 9teen. Aufgewachsen in Chinas als rückständig verurteilten abgelegenen ländlichen Regionen, ist Hip-Hop Teil ihrer Selbstermächtigung geworden, indem sie sich Vorurteile aneignen, um sie wiederum außer Kraft zu setzen.
Mit der in den Niederlanden aufgewachsenen tibetischen Rapperin Tenzin Seldon aka Tib-Chick sind es seit wenigen Jahren nicht nur die Männer, die ihre Stimmen erheben. Mit ihren provokanten Texten und dem frechen Stil mischt sie die Karten neu und eröffnet der internationalen tibetischen Gemeinde neue Dimensionen der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen. Zwar bezeichnet sie sich nach westlichen Parametern selbst nicht als Feministin, doch in ihren Tracks verhandelt sie auch „typisch“ feministische Inhalte.
Themen wie Feminismus und Rassismus finden also über den Hip-Hop ihren Weg in die globalen tibetischen Gemeinschaften und starten dort Diskurse über Frauenbilder oder Diskriminierung. Der Fluss der Entwicklungen, die neuen Themen, all das scheint die Gemeinschaft am Leben zu halten. Meine Stimmung ist erwartungsvoll. Was wird wohl noch in den nächsten Jahren auf uns zukommen?
Last modified: 16. August 2022