
Vom Exil in Sikkim bis auf die Bühnen der Welt: Ein tibetischer Künstler erzählt, wie ihn Musik mit der Vergangenheit, der Natur und seiner kulturellen Verantwortung verbindet. Tibetische Klänge als Bewahrung einer bedrohten Kultur – spirituell, lebendig und voller Bedeutung.
VON ANJA OECK
Da Du nicht aus einer Musikerfamilie stammst, erzähl uns doch zuerst, wie Du zur Musik gekommen bist.
Meine Eltern flohen aus Tibet, und so wurde ich im Exil in Sikkim, Indien, geboren. Dann kamen wir alle nach Dharamsala, wo die Exilregierung neu gegründet worden war. Damals wurden Kinder gesammelt, um sie in Schulen in Indien zu schicken, und meine Mutter kam damals, so um 1967/1968 herum, nach Dharamsala. Damals half sie beim Aufbau der Library of Tibetan Works and Archives (Bibliothek für tibetische Werke und Archive) in Dharamsala. Jemand schlug vor, mich wie die anderen Kinder in die Schule zu schicken, aber sie verstand nichts von all dem. Als sie schließlich versuchte, mich zur Schule zu schicken, waren alle Schulen überfüllt. Dann berichtete ein Freund meiner Mutter, dass es eine Schule mit Kunst und Musik als Schwerpunkt gab.
Sie hieß damals noch Tibetan Music, Dance and Drama Society, bald aber Tibetan Institute of Performing Arts (TIPA). Und so schickte sie mich zu dieser Schule in Dharamsala. Bei TIPA habe ich meine ganze Ausbildung erhalten. Dort lernte ich Kunst- und Musikprogramme, Volkslieder, die auch zeitgenössischen Tanz enthielten. Das hat mich zu dem geformt, der ich heute bin, obwohl ich mich damals nicht wirklich für Musik oder darstellende Kunst interessierte. Aber ich stehe auch heute noch in Kontakt mit den Leuten der Schule, treffe mich mit den Direktoren und gebe ihnen Ratschläge
Was bedeutet Dir die tibetische Musik persönlich, und was ist Dein Anliegen damit?
Für mich bedeutet Musik eine Art Fortsetzung des Geistes, des Klanges, eine Art Fortsetzung der Kultur und auch der Energie aus der Vergangenheit. Und für mich ist es natürlich ein Mittel. Man muss seine Fähigkeiten entwickeln und viel üben. Und am Ende, wenn ich vor dem Publikum auftrete, möchte ich ihnen einfach das Gefühl geben, dass sie mit der Vergangenheit verbunden sind, mit unserer alten Lebensweise. Diese Art von Musik ist sehr spirituell, in Verbindung mit der Natur und um jedem Glück und Schutz zu wünschen, auch unserer Umwelt.
Es handelt sich bei der Musik, die ich spiele, um eine bedrohte Kultur, und mir ist es wichtig, diese reiche Aufführungskultur lebendig zu halten. Sie ist bedroht, weil die Situation innerhalb Tibets schlimm ist und die Situation außerhalb Tibets schlimm ist, weil die kommunistische Regierung alles beeinflusst. Und im Westen verlieren wir die Tradition, weil wir so viele andere Möglichkeiten haben.

So fühle ich, dass es für mich als Künstler wichtig ist, das und auch die Geschichte der tibetischen Kultur zu bewahren. Ich habe das Gefühl, dass ich dafür verantwortlich bin. Indem ich mich den täglichen Aktivitäten, also dem Forschen, Aufnehmen und Aufführen von Musik, widme und jüngere tibetische Künstler ermutige und inspiriere, dies weiter zu tun, halte ich einen Teil der tibetischen Kultur am Leben.
Deine Stimme und Musik waren im IMAX-Film „Everest“ und einigen Filmen über Tibet zu hören. Wie kam es dazu, und gibt es aktuelle Filmprojekte?
Als ich in Kalifornien lebte, machten mich einige Freunde mit der Filmproduktion „Everest“ bekannt. Ich wurde gefilmt, sie luden mich ein, ein paar Gesangs- und Musikaufnahmen zu machen, und so wurde ich ausgewählt. Ich glaube, George Harrison von den Beatles war auch daran beteiligt. Ich habe ihn nicht getroffen, aber er hat mitgearbeitet. Im Moment habe ich nicht viel zu tun, außer Recording, also aufzunehmen. Aber es gibt bald einen Dokumentarfilm aus der Schweiz. Er wird Mola heißen und kommt demnächst heraus. Dafür habe ich einige Musik gemacht.
2017 hast Du ein Projekt zum Erhalt von tibetischer Musik begonnen. Arbeitest Du noch daran? Und in dem Zusammenhang: Was ist der Unterschied zwischen traditioneller tibetischer Musik und der Musik, die heutzutage von Tibetern komponiert wird?
Das Projekt besteht darin, traditionelle tibetische Musik hauptsächlich aus Lhasa aufzuzeichnen. Wir haben ein Repertoire, das ich damals bei TIPA studiert habe, und ich habe den Drang, es aufzunehmen. So möchte ich die Lieder erhalten, weil sie bisher nicht dokumentiert wurden. Und ja, ich habe 2017 damit begonnen und mache immer noch weiter. Bis jetzt habe ich etwa 63 Stücke aufgenommen, traditionelle Lieder, aber das Projekt ist noch nicht abgeschlossen. Ich denke, es wird noch etwas Zeit, vielleicht ein, zwei Jahre, brauchen. Ich wünsche mir, dass ich 108 Stücke archivieren kann, das ist unsere Glückszahl. Einige der Lieder und ein Teil der Musik, die wir im Exil nicht in unserem Repertoire hatten, habe ich kürzlich in Tibet recherchiert. Vielleicht muss ich später noch ein paar von ihnen komponieren.
Es sind Nangmas und Toeshey, das sind die Namen dieser Kunstgattungen. Der Unterschied liegt meiner Meinung nach darin, dass die traditionelle Musik eine alte Tradition weitergibt. Die Lieder wurden von Generation zu Generation und an Studenten weitergegeben. Und die neue, die zeitgenössische Musik fühlt sich wirklich so an, als sei sie von der Vergangenheit abgekoppelt. Die Musiker orientieren sich einfach an dem, was gerade angesagt ist, also an Hip-Hop oder Popmusik. Sie werden im Wesentlichen von der modernen Musik beeinflusst, so entsteht eine Abkopplung von der traditionellen Musik. Und das ist eine meiner Aufgaben: jüngere Musiker dazu zu bringen, sich traditionelle Musik anzuhören, damit sie eine bessere Basis, musikalische Wurzeln bekommen, die ihre Musik bereichern.
Ist die junge Generation, die in Indien, Kanada oder wo auch immer auf der Welt geboren ist und die nie die Chance hatte, Tibet zu besuchen, überhaupt in der Lage, die ursprüngliche tibetische Kultur in all ihren Aspekten zu erhalten?
Im Vergleich zu meiner Kindheit hat sich das Kulturbewusstsein ein wenig verbessert. Als ich aufwuchs, gab es viel Nachlässigkeit. Viele Kinder waren sehr stark von Bollywood- Filmen und westlichen Dingen beeinflusst. Die meisten Eltern versuchten vergeblich, die jüngere Generation für die Tradition zu begeistern. Aber heutzutage werden die Kinder, die von meiner Generation geboren werden, so erzogen, dass sie einige Werte unserer Kultur sehen können.
So kommen diese Kinder mit traditioneller Musik in Berührung, und auch die Eltern erkennen deren Bedeutung, vor allem diejenigen, die in den Westen gehen. Sie finden es ein bisschen wichtiger, ihre eigene Kultur weiterzugeben, also setzen sie ihre Kinder dem aus. So gibt es heute also Kinder, die traditionelle Musik, Lieder und Tänze lernen, und das ist eine Verbesserung. Gleichzeitig vollzieht sich der kulturelle Wandel sehr schnell. Und ja, uns läuft die Zeit etwas davon, aber es gibt Hoffnung.
Last modified: 9. Mai 2025