
Tibet ist eine der ärmsten Regionen der Welt. Im Vergleich mit chinesischen Provinzen liegt Tibet bei der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung auf einem der letzten Plätze. Wie erklärt sich das? Taugen die Armutsbekämpfungs-Programme der chinesischen Regierung? Oder sind sie nur Deckmantel für ganz andere Ziele?
VON TENZYN ZÖCHBAUER, IRIS LEHMANN, ANJA OECK
Hungersnöte und damit verbunden große Armut vor allem der Landbevölkerung durchziehen die Geschichte Chinas. Verursacht wurden sie einerseits durch die geografischen Bedingungen des Landes, also vor allem Dürren und gewaltige Überschwemmungen der Flüsse, aber auch durch Misswirtschaft. In Tibet hingegen ist aus der Zeit vor der Besetzung 1950 keine einzige Hungersnot überliefert. Die Tibeter bewirtschafteten ihr Land auf dem Hochplateau gemäß ihren Möglichkeiten: als Bauern in den Flusstälern und als Nomaden in den höher gelegenen Regionen. Weit verbreitete Armut scheint es nicht gegeben zu haben.
Nach der Flucht des Dalai Lama 1959 nach Indien wurden jedoch auch alle Tibeter inklusive der Nomaden gezwungen, in „Volkskommunen“ zu leben. Statt Gerste mussten die Bauern den bei den Chinesen bevorzugten, aber für die Höhenlagen ungeeigneten Weizen anbauen, und ein Großteil der Ernten wurde von der chinesischen Armee konfisziert oder nach China abtransportiert. So kam es nun auch in Tibet zu Hungersnöten mit Zehntausenden von Toten. Als Mao 1976 starb, zählte China noch immer zu den ärmsten Ländern der Welt.
Armutsüberwindung seit 1978
Mit der von Deng Xiaoping im Dezember 1978 gestarteten Reform- und Öffnungspolitik wurden vor allem die Küstenregionen und das tiefer gelegene, überwiegend von Han-Chinesen bewohnte Land wirtschaftlich entwickelt und damit urbanisiert. Die Gebirgsregionen und die besetzten Gebiete Tibet und Ostturkestan (chin. Xinjiang) konnten davon nur teilweise profitieren. Prof. Wang Sangui vom Institut für „Armutsüberwindung“ der Renmin-Universität in Peking kommentierte am 21.03.2019 in „China Heute“, dass sich jede politische Führung seit 1978 an „entwicklungsorientierter Armutsüberwindung“ betätigte. Bis 2010 seien dadurch rund 700 Millionen Menschen „aus der absoluten Armut befreit“ worden. Ein Blick auf die nachfolgende Karte von 2016 veranschaulicht die ungleiche Verteilung des Pro-Kopf-Einkommens.

Zunehmende Schere zwischen Arm und Reich
Die Kluft zwischen Arm und Reich führt auch in China zu Problemen und bei der politischen Führung zur Besorgnis. Not, Hunger und zu große Ungleichheit könnten zur Entmachtung der herrschenden Politiker führen, in China genauso wie anderswo auf der Welt. Stand 2017 gab es in China ca. 373 Milliardäre, davon 43 Aktionäre bei Alibaba, eine wachsende Mittelschicht, aber auch Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze lebten.
Die Armut auf dem Land und die Verlockungen der Großstädte ziehen vor allem jüngere Leute in die Städte, wo sie allerdings nur bedingt Chancen auf ein besseres Leben haben. Laut Spiegel vom 24.08.2020 zählte die chinesische Regierung Ende 2019 knapp 300 Millionen Binnenmigranten, sogenannte „Wanderarbeiter“, die oft weitgehend rechtlos und schlecht bezahlt ein tristes Dasein fristen. Aus diesem Grund hat Chinas Regierung erneut politische Maßnahmen ergriffen. Die noch existierenden Armen macht sie in entlegenen Regionen aus. Forscher Wang Sangui schreibt: „Diese Armutsgebiete werden meist vor allem von nationalen Minderheiten bewohnt.“
Chinas Propaganda der Beseitigung von Armut
Seit 2014 verfolgt die chinesische Regierung also besondere Strategien, extreme Armut in ihrem Land zu beseitigen. Bis Ende 2020 sollte dieses ehrgeizige Ziel erreicht sein, und genau das feiert die Spitze des Landes derzeit. Offiziell gibt es dank der Partei und ihrem Führer Xi Jinping seit Ende 2020 in China keine extreme Armut mehr. Zum 100-jährigen Jubiläum der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Juli 2021 soll Armut in China sogar komplett eliminiert sein und vor der ganzen Welt als ein Zeichen für den Erfolg ihrer Regierungsform gesetzt werden.
Erstmals im November 2013 sprach der chinesische Staatspräsident Xi Jinping bei einer Inspektionsreise in die Autonome Präfektur Xiangxi in der zentralchinesischen Provinz Hunan seinen Plan an, strategisch gegen Armut vorgehen zu wollen. Die Dorfgemeinschaften der Bergregion galten als arm, ihre Menschen sicherten ihr karges Leben mit dem Anbau von Orangen, Grapefruits und Kiwis. Xi versprach ihnen bei seiner Stippvisite die Förderung der Obstindustrie und modernere Technologien, forderte die Menschen jedoch im gleichen Atemzug auf, härter zu arbeiten.
Xi versprach den Menschen bei einer Stippvisite die Förderung der Obstindustrie und modernere Technologien, forderte die Menschen jedoch im gleichen Atemzug auf, härter zu arbeiten.
Im Mai 2014 wurde das Konzept der gezielten staatlichen Armutsbekämpfung dann offiziell verabschiedet. Wie Reuters 2015 berichtete, verkündete Hong Tianyun, Vizechef des Bereichs Armutsbekämpfung, innerhalb von sechs Jahren allen verbliebenen 70 Millionen Menschen, die bis dato immer noch unter der Armutsgrenze lebten, aus ihrer Notlage herauszuhelfen. Als arm gilt in China, wer über ein jährliches Einkommen von unter 4000 Yuan verfügt, was ungefähr 550 Euro entspricht. Und das waren laut Statista im Jahr 2000 in China 49,8 Prozent der Bevölkerung. 2014 lebten noch 7,2 und 2019 nur noch 0,6 Prozent der Menschen unterhalb dieser Armutsgrenze.
Umsetzung nach chinesischem Masterplan
Laut des schwedischen Institutes for Security and Development Policy (ISDP) folgt Präsident Xis Strategie zur staatlichen Armutsbekämpfung einer Fünf-Säulen-Politik, basierend auf 1. industrieller Entwicklung, 2. Umsiedlung, 3. Öko-Kompensation, 4. Bildung und 5. sozialer Sicherheit. Dazu wird mit verordneten institutionellen Systemen gearbeitet, u.a. mit Registrierung, Investitionen und Unterstützung, mit sozialer Mobilisierung und einer Rundum-Überwachung sowie entsprechenden Bewertungssystemen.
Entwicklung auf dem Land
Armutsbekämpfung betrieb Peking durch einen gigantischen Ausbau der Infrastruktur. Neue Straßen, Wassersysteme, Anschluss an Schulen, zudem eine Gesundheitsversorgung waren Leistungen, die das Leben vieler Menschen verbesserten und höchst willkommen waren. Der Ausbau von Straßen und Bahntrassen bedeutete eine Anbindung an Wirtschaftszentren und machte abgelegene Regionen leichter erreichbar, u.a. auch für Touristen.

In modernen Zeiten heißt dies aber genauso die Vernetzung durch Telefon und Internet. Man beschleunigte die Entwicklung eines „Internet Plus“ auf dem Land, woran sich der chinesische Internetgigant Alibaba mit ländlichen E-Commerce-Zentren, sogenannten Taobao-Dörfern, beteiligte. Dies förderte den Online-Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten und lokalen Spezialitäten, ermöglichte es also Menschen abseits der Städte, Existenzen als Händler aufzubauen. Im Jahr 2015 gab es in China 780 Taobao-Dörfer mit 200.000 Online-Shop-Besitzern und insgesamt über einer Million Beschäftigter. Dadurch ermutigt, benannte Alibaba weitere 2.100 Taobao-Dörfer, die 2017 am Programm teilnehmen sollten.
Umsiedlung
Schlüsselstrategie der staatlichen Politik von Armutsbekämpfung war jedoch das Programm zur Umsiedlung von Landbewohnern. Rund zehn Millionen Menschen der ländlichen Bevölkerung aus abgelegenen oder ökologisch fragilen Regionen sollten zwischen 2016 und 2020 mithilfe von Förderungen in großstadtnahe Gebiete umgesiedelt werden, soweit die Beschreibung des 2007 in Stockholm gegründeten ISDP. Danach bekommt jeder eine Urkunde, auf der steht „Offiziell nicht mehr arm“. In den neuen, modernen Häusern beispielsweise in Xujiashan (Provinz Sichuan) hängen mindestens zwei Plakate, auf denen Staatschef Xi allein oder zusammen mit seiner Frau Peng Liyuan zu sehen ist: „Die Kommunistische Partei ist gut. Danke an Xi Jinping.“ Hier spätestens stellt sich die Frage nach dem Wie bei der Umsetzung solcher Masterpläne. Konnten die Strategien in so kurzer Zeit wirklich vorbildlich umgesetzt werden, wie es trockene Statistiken glauben machen können? Oder musste dazu mit Zwang und Vertreibung nachgeholfen werden?
Jenseits der Propaganda – einige Gegenstimmen
Nicht jeder teilt den Enthusiasmus der chinesischen Regierung. Selbst in Vorzeigegebieten wie dem Ort um eine der größten Talsperren, Lianghekou („Mündung zweier Flüsse“), in der Provinz Sichuan waren Dorfbewohner über die Umsiedlung frustriert. Reportern der Los Angeles Times, die an einer organisierten Reise teilgenommen hatten, erzählten sie von ihren Schwierigkeiten, beispielsweise neue Arbeit zu finden, um die höheren Lebenshaltungskosten in ihren neuen Häusern zu bezahlen. Manche Menschen wären deswegen lieber in ihren Heimatdörfern geblieben. Sie wären dann aber von der Regierung gedrängt worden, ihre Häuser zu verlassen, und das mit Methoden wie beispielsweise Zerstörung der Häuser, Abschaltung des Stroms oder Ausgrenzung aus der restlichen Dorfgemeinschaft.
Manche Menschen wären lieber in ihren Heimatdörfern geblieben. Die Regierung drängte sie, ihre Häuser zu verlassen – und das mit Methoden wie beispielsweise Zerstörung der Häuser, Abschaltung des Stroms oder Ausgrenzung aus der restlichen Dorfgemeinschaft.
Zwei Beispiele: Liu Zhu’an, 39 Jahre, wurde umgesiedelt, kam aber nach Lianghekou zurück, um beim Bau eines Hotels 19 Dollar pro Tag zu verdienen. Er wurde angewiesen, nicht mit Journalisten zu sprechen, sagte er der Los Angeles Times, aber: „Was können wir tun, selbst wenn wir nicht umziehen wollen? Haben wir eine Wahl? Mein Leben ist das gleiche. Ich war vorher Tagelöhner und bin es jetzt immer noch.“
Lei Wei Xiu hat nun zwei Zimmer inklusive Einbauküche und Balkon. Dank massiver Subventionen der Zentralregierung kaufte sie die Wohnung für umgerechnet 1.300 Euro von geliehenem Geld. Dem ARD-Weltspiegel berichtete sie: „Vorher in den Bergen habe ich Gemüse angebaut und Feuerholz geschlagen, Geld brauchte ich nicht. In der Stadt zu leben, heißt Ausgaben für Gas und viele andere Lebenshaltungskosten.“ Geld verdient Lei Wei Xiu jetzt in einer Textilfabrik – von der Partei vermittelt. Wie glücklich sie über die Umsiedlung ist? Offen sprechen kann sie nicht.
Kreditvergabe
Kredite chinesischer Banken, die sich an der staatlichen Bekämpfung der Armut bis 2020 beteiligten, flossen, wie die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua berichtet, zu gut einem Drittel in Infrastrukturprojekte ländlicher Regionen, ein weiteres Drittel ging an landwirtschaftliche Betriebe. Dazu kamen Kredite für die Umsiedlung von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze lebten, für Tourismus, Umweltschutzprojekte und Bildungsvorhaben.
Zu den Umsiedlungskrediten sagte Prof. Scott Rozelle der Stanford University in einer Online-Veranstaltung von MERICS im Oktober 2020, dass es sich dabei kaum um eine nachhaltige Strategie handeln könne. Menschen wären in China gezwungen, Kredite aufzunehmen, um moderne Wohnungen beziehen zu können. Und es sei größtenteils unsicher, ob sie diese Kredite jemals wieder zurückzahlen könnten. Ähnliche Kritik kam im November auch aus Hongkong von der South China Morning Post: Menschen würden nur durch staatliche Gelder im Sinne von Geldgeschenken aus der Armut geholt. Daran schließt sich die Frage an: Was passiert, wenn dieses Geld aufgebraucht ist und die Menschen immer noch kein eigenes Einkommen haben?
Kontrolle
Was staatliche Kontrolle unter der KPCh bedeuten kann und mit welcher Radikalität dabei agiert wird, wissen wir bisher gesichert nur aus Berichten über Ostturkestan (Xinjiang), wo die Regierung im Kampf gegen den Islam mehr als eine Million Menschen zur Sinisierung in Arbeitslagern gefangen hält. Ehemalige Insassen berichten von Folter, Vergewaltigungen und totaler Überwachung. Lange hat die chinesische Führung die Existenz dieser Lager geleugnet, inzwischen spricht sie beschönigend von „Berufsbildungszentren“.

Nun könnte man einwenden, die genannten Gegenstimmen wären Einzelschicksale, die im Großen und Ganzen nicht weiter ins Gewicht fielen, oder in Tibet sähe die Situation anders aus. Dass dem nicht so ist, dokumentieren erste bekannt gewordene Berichte, die sich umfassender mit dem Thema auseinandersetzen, wie der im September 2020 veröffentlichte Artikel des unabhängigen deutschen China-Forschers Adrian Zenz. Für die „Jamestown Foundation“ in Washington, D.C., weist Zenz seine Aussagen anhand von Regierungspapieren, Satellitenbildern und staatlichen Medienberichten nach, die ebenso von der Nachrichtenagentur Reuters unabhängig recherchiert und bestätigt wurden.
Systematische Zwangsmaßnahmen gegen Tibeter
Um vollständige Armutsbekämpfung in China zu erreichen, spielt die Autonome Region Tibet eine wichtige Rolle. Viele Bauern und Nomaden haben dort zwar kein fixes Einkommen, aber sie versorgen sich seit Jahrhunderten selbst. Die traditionelle Lebensweise der Tibeter war für die KPCh seit jeher ein Dorn im Auge, denn sie durchkreuzte ihren totalitären Herrschaftsanspruch. Nomaden im weitläufigen Hochland lassen sich schwerer kontrollieren als Lohnarbeiter in Städten. Und selbst nach siebzig Jahren Besatzung verehren die Menschen in Tibet ungebrochen den Dalai Lama. Deswegen richten sich die Zwangsmaßnahmen vor allem gegen die ländliche tibetische Bevölkerung.
Denn gegen Ausbildung allein und auf freiwilliger Basis hätten diese Menschen sicher nichts einzuwenden, die Programme in Tibet gehen allerdings einher mit Zwang und politischer Indoktrination. Zenz sieht deutliche Parallelen zwischen den Methoden in Ostturkestan und Tibet. Und die sogenannte Berufsausbildung und eine Umsiedlung hängen für Tibeter meist miteinander zusammen. Zenz geht davon aus, dass allein in den vergangenen vier Jahren mehr als 250.000 Tibeter umgesiedelt wurden. Familien werden dabei zunehmend unter Druck gesetzt, ihre Äcker und Herden an staatliche Genossenschaften abzutreten.
Forscher Adrian Zenz geht davon aus, dass allein in den vergangenen vier Jahren mehr als 250.000 Tibeter umgesiedelt wurden.
Dass es der chinesischen Regierung nicht um gleichberechtigte Ausbildung geht, sondern bereits das Schulsystem die Diskriminierung fördert und tibetische Kinder bei der Bildung im Vergleich mit chinesischen benachteiligt, dafür sprechen folgende Fakten und Zahlen: Noch 2019 gab es in Tibet eine hohe Rate an Analphabeten, nämlich 33,11 Prozent. Nur wenige tibetische Kinder bekommen die Chance, eine höhere Schule zu besuchen. Und selbst Absolventen der Oberschule haben nur Berufschancen, wenn sie fließend Chinesisch sprechen. Laut offiziellen Angaben machen Kinder der chinesischen Immigranten in Tibet 3,7 Prozent aller Jugendlichen aus, besetzen jedoch 35 Prozent aller Plätze an höheren Schulen. Quellen aus Lhasa beziffern die tatsächliche Zahl sogar auf 60 Prozent. Die Diskriminierung erlaubt chinesischen Behörden unter dem Vorwand, Tibeter seien nicht qualifiziert genug, chinesischen Siedlern bei der Beschäftigung Vorrang zu gewähren.
Bereits in der Grundschule findet der Unterricht offenbar nur noch auf Chinesisch statt. Das benachteiligt Kinder, die von Haus aus nur Tibetisch sprechen. Sinnvoll wäre es dagegen, wenn die Kinder – solange Tibet von China besetzt ist – beide Sprachen, Tibetisch und Chinesisch, in der Schule lernen würden.
Seit 2019 wurde in Tibet nach den Recherchen von Zenz das umfangreichste und aufwendigste staatliche Programm zur Berufsausbildung sowie für den Transfer „überschüssiger ländlicher Arbeitskräfte“ durchgesetzt, das es in Tibet je gegeben habe. Allein in den ersten Monaten 2020 wurden danach mehr als eine halbe Million Tibeter zur Ausbildung in neu aus dem Boden gestampfte Zentren einkaserniert. Die Menschen treten in Armeekleidung zum Dienst an, denn die KPCh setzt, um jeglichen Widerstand gleich von vornherein zu brechen, auf militärischen Drill. Zwar werden die Tibeter in diesen Zentren meist nicht dauerhaft interniert, ideologisch werden sie jedoch genauso bearbeitet wie die Lagerinsassen in Xinjiang.

Nach ihrer „Ausbildung“ bleiben viele ihren Familien entrissen, denn sie müssen in anderen Landesteilen im Straßen- und Bergbau, in Fabriken, Wäschereien, Restaurants oder Kantinen zu Niedriglöhnen arbeiten. Damit würden „schlechte Arbeitsdisziplin“ und „rückständiges Denken“ der Tibeter verbessert, heißt es in staatlichen Dokumenten, die Zenz ausgewertet hat. 2020 seien knapp 50.000 Tibeter auf Arbeitsstellen innerhalb der Autonomen Region sowie einige tausend weitere in andere Landesteile Chinas an neue Arbeitsstellen verteilt worden. Von Unternehmen können diese entrechteten Arbeiter bei der kommunistischen Führung regelrecht bestellt werden.
Dorjee Tseten, Geschäftsführer des in New York ansässigen Vereins „Students for a Free Tibet“, sagte im Dezember bei Radio Free Asia: „Linderung der Armut ist ein Euphemismus für ein Zwangsarbeitsprogramm. Menschen in sogenannte Trainingslager zu zwingen, ist keine Verringerung der Armut.“ Intention der KPCh sei vielmehr, Tibet in größerem Ausmaß leichter überwachen und kontrollieren zu können. Tibeter sollten danach aus ihren Herkunftsorten entfernt werden, um ihren Lebenswandel besser bestimmen und ihren Widerstand gegenüber der Regierung brechen zu können. Sie haben oft keine Wahl, wo sie arbeiten möchten, sondern werden weggeschickt, wenn es gut geht, wenigstens innerhalb von Tibet, manchmal aber auch irgendwohin in China. Das entspricht auch den Recherchen von Zenz.
Von selbstbestimmter Ausbildungs- und Berufswahl kann dabei wohl kaum die Rede sein. „Einige der offiziellen Direktiven betonen zwar, dass die Kampagne auf freiwilliger Beteiligung basiert, aber es gibt viele Anzeichen für die systemische Präsenz von Zwangselementen in dem ganzen Prozess“, schreibt Zenz. Sein Fazit: „In einem System, wo der Übergang zwischen Sicherheitsmaßnahmen und Armutsbekämpfung fließend ist, ist kaum zu sagen, wo Zwang aufhört und wo freiwillige Initiativen auf lokaler Ebene beginnen.“ Allein schon die benutzte Terminologie mache strikte staatliche Kontrolle deutlich: Alles läuft „vereinheitlicht“ ab, von der Zuordnung der Ausgebildeten zum Arbeitgeber bis zur Abfahrt zur Arbeitsstelle. Zenz bestätigt damit, was schon lange beklagt wird: Wenn diese Art Politik weitergeführt würde, führe dies wahrscheinlich zum langfristigen Verlust des sprachlichen, kulturellen und spirituellen Erbes in Tibet. Und das scheint auch beabsichtigt zu sein.
Tibeter verteidigen ihre Kultur
Trotz allem ist China bei der Armutsbekämpfung in Tibet nicht pauschal erfolgreich. Selbst wenn sich die chinesische Regierung nun als großer Retter einer „rückständigen“ Bevölkerung aufspielt, welcher Tibetern endlich Arbeitsmoral einflöße, so glaubt und akzeptiert nicht jeder diese Geschichte. Mutige Tibeter wehren sich immer wieder, um die tibetische Sprache und Kultur zu erhalten.
„In einem System, wo der Übergang zwischen Sicherheitsmaßnahmen und Armutsbekämpfung fließend ist, ist kaum zu sagen, wo Zwang aufhört und wo freiwillige Initiativen auf lokaler Ebene beginnen.“
Adrian Zenz
Mit welcher Gewalt dann verfahren wird, zeigt die wahren Absichten des chinesischen Systems: Vor allem Schriftsteller, Sänger und Künstler, die für Gerechtigkeit, Bildung, Kunst, den Erhalt von Kultur und Natur sowie die Sicherung der Arbeitsplätze gekämpft haben, wurden als Separatisten verhaftet und verurteilt oder verschwanden spurlos. Um ihre tibetische Identität zu erhalten, führten sie in den letzten Jahren besonders intensiv den Kampf um Sprachrechte.
Die chinesischen Behörden gingen hart dagegen vor: Informell organisierte Sprachkurse wurden als „illegale Vereinigungen“ betrachtet, Lehrer inhaftiert, so ein Bericht von RFA. Nur aufgrund seines öffentlichen Einsatzes für den Erhalt der tibetischen Sprache und seines Mutes, sich an internationale Medien (New York Times) zu wenden, wurde der Menschenrechtsverteidiger Tashi Wangchuk im Mai 2018 wegen „Anstiftung zum Separatismus“ zu einer 5-jährigen Haftstrafe verurteilt.
Fazit
All dies lässt davon ausgehen, dass bei der chinesischen Armutsbekämpfung das Wohl und der Wille Einzelner kaum im Vordergrund stehen, sondern eher der Erfolg der Partei und deren kontrollierte Systemwandlung. In Tibet kann unter diesem Vorwand verändert und beseitigt werden, was der KPCh schon lange missfällt. Tibetern das Leben vom Wohnort inklusive Wohnung über die Ausbildung bis hin zum Beruf vorzugeben, ist ein tiefer Einschnitt in deren traditionelle Lebensweise und die tibetische Kultur.
Zwangsumsiedlungen von Menschen in die Nähe größerer Städte verhelfen eher dazu, all jene Tibeter zu überwachen, die der Regierung bisher entkommen sind. Tibeter unter Drill zu Billigarbeitern auszubilden, dient eher der Indoktrination als wirklicher Hilfe. Diese Niedriglohnarbeiter dann chinaweit in beliebige Regionen zu verschicken, untergräbt ihren Zusammenhalt auf zweifache Weise: Die Tibeter sind so überall in der Minderheit – in den neuen Regionen und in ihrem eigenen Land. Die Schulen komplettieren das raffinierte System: Unterricht nur noch auf Chinesisch marginalisiert über kurz oder lang die tibetische Sprache und muss insofern als gezielter Angriff verstanden werden. Ergo: All diese Faktoren zusammen sind ein weiterer Versuch, die einzigartige tibetische Kultur und damit die Identität der Tibeter durch Sinisierung auszulöschen und mit totaler Kontrolle ihren tief verankerten Widerstandsgedanken für immer zu brechen.
Last modified: 18. August 2022