NZZ-China-Korrespondent Matthias Müller erzählt von seinen Reisen nach Tibet: Dort begegnete er einstudierten Aussagen von Tibetern, aber auch Menschen, die sich differenzierter äußern. Ein Interview über den Spagat von Tibetern zwischen positiver Sicht auf Armutsbekämpfung und gleichzeitiger Verehrung des Dalai Lama.
VON KLEMENS LUDWIG
Brennpunkt Tibet: Herr Müller, das Programm zur Armutsbekämpfung zählt – nach eigener Einschätzung – zu den wichtigsten Aufgaben und Erfolgsgeschichten der Kommunistischen Partei. Ist das glaubwürdig, und was wurde bisher erreicht?
Matthias Müller: Ich halte das für glaubwürdig, vor allem, weil es ein besonderes Anliegen von Staats- und Parteichef Xi Jinping ist. Man kann Xi für sehr vieles kritisieren, aber die Bekämpfung der Armut treibt ihn wirklich um. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass Armut nicht schön ist, denn bekanntlich ist seine Familie – Kommunisten der ersten Stunde – während der Kulturrevolution in Ungnade gefallen. Seinem Vater wurde mangelnde Loyalität gegenüber Mao vorgeworfen. Dadurch hat Xi als Heranwachsender bittere Armut am eigenen Leibe erfahren, und das hat ihn geprägt.
Menschenrechtsgruppen und speziell Tibet-Unterstützer betrachten das Programm jedoch ambivalent – um es vorsichtig auszudrücken. Sie sehen darin eine subtile Maßnahme, die Sinisierung voranzutreiben oder generell den Machtanspruch von Staat und Partei durchzusetzen. Sie sind viel in China und auch in Tibet herumgekommen, wie schätzen Sie diese Vorbehalte ein?
Zunächst mal möchte ich betonen, dass die entsprechenden Programme einige Erfolge verzeichnen. Die Armut im Lande wurde zweifellos reduziert, und das wissen die Menschen, die davon betroffen sind, zu schätzen. Das schließt die Vorbehalte aber nicht aus. Was meine Reise jüngst durch Tibet angeht, so müssen Sie die Umstände beachten. Ich habe Lhasa, Shigatse und Nyingchi nahe der indischen Grenze besucht. In der Nähe des Flughafens von Lhasa gibt es die Neubausiedlung Sen Buri, in der ehemalige Nomaden angesiedelt werden, ein Vorzeigeprojekt der Armutsbekämpfung. Aber natürlich konnte ich mich in dem Rahmen nicht frei bewegen. Die Reisen waren komplett durch das Informationsbüro der Pekinger Zentralregierung organisiert.
Dennoch, was war der äußere Eindruck, und was haben Sie vielleicht hinter den Kulissen wahrgenommen?
Die Antworten während der Interviews wirkten einstudiert und folgten immer den gleichen Stereotypen. Es wurde gesagt, was gesagt werden musste, wie viel einfacher das Leben jetzt sei, was die KP für Großartiges geleistet habe und wie dankbar sie dafür seien. Dazu kam, dass die Menschen in den Siedlungen kein Wort Chinesisch sprachen, ich war also auf die offiziellen Übersetzer angewiesen und konnte nicht überprüfen, wie authentisch die Übersetzung war. Eine Szene war besonders eindrucksvoll: In einem Rehabilitationszentrum habe ich Rheumapatienten getroffen. Darunter war ein alter Tibeter ohne Chinesischkenntnisse, der sich die Reden von Xi Jinping auf Tibetisch anhörte. Er meinte zu mir: „Ich glaube nur an die Wissenschaft und die Kommunistische Partei Chinas“. Das roch schon ein wenig nach Gehirnwäsche. Jüngere Menschen in den Projekten, zum Beispiel eine etwa 30-jährige Tibeterin, haben mir erklärt, sie seien hier wegen ihrer Kinder, die es einmal besser haben sollten.
Im alten Tibet lebten bekanntlich etwa 60 Prozent der Bevölkerung als Nomaden. Sie waren das Rückgrat der Gesellschaft. Der Vorwurf an diese Programme lautet, damit solle der tibetischen Kultur das Rückgrat gebrochen werden. Teilen Sie die Sicht?
Nur bedingt. Das Nomadendasein ist ein extrem hartes. Werfen wir zunächst einen Blick über die Grenze in die Mongolei. Ich bin dort häufig, weil mich das Land und seine Kultur sehr faszinieren. Dort gibt es keinerlei staatliche Zwangsmaßnahmen gegen die Nomaden – und dennoch lösen sich die Strukturen immer mehr auf. Viele verlassen ihre Herden und ziehen in den Umkreis von Ulan Bator; übrigens großenteils in sehr erbärmliche Siedlungen. Dass es eine Zerstörung der nomadischen Gemeinschaften gibt, ist unbestritten, aber die würde mit und ohne die KP stattfinden. Die Anziehung der Moderne, der digitalen Welt und der sozialen Medien, ist enorm hoch. Das hat längst auch die Nomaden erfasst, und viele, vor allem Jüngere, wollen einfach daran teilhaben, statt bei minus 30 Grad im Winter für ihre Herden zu sorgen. Man sollte die Nomadenkultur nicht romantisieren.
Haben Sie den Eindruck, dass durch diese Sogwirkung auch das Tibetische verschwindet, also die Sinisierung vorangetrieben wird?
Auch das kann man nicht so einfach beantworten. Ich habe auf meinen Reisen, so kontrolliert sie auch waren, immer wieder erlebt, wie stark der Stolz auf die tibetische Identität ist. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einem jungen Tibeter vor sechs Jahren, den ich gefragt habe, ob er sich mehr als Chinese oder als Tibeter gefühlt habe. „Natürlich bin ich Tibeter“, lautete die Antwort. Aber es gibt eine subtile Entwicklung, die von der KP wohlwollend betrachtet wird. Die chinesische Kultur gibt den Ton an. Die chinesische Sprache ist unverzichtbar, wenn es die Menschen einmal besser haben wollen. Das hinterlässt Spuren bei der zukünftigen Generation. Und auch wenn es in der kommunistischen Ideologie keine offizielle Diskriminierung der Minderheiten gibt, findet sie statt. Viele KP-Funktionäre schauen despektierlich auf die Minderheiten hinunter, mit einer Attitude wie „Seid mal etwas dankbarer für das, was wir für euch getan haben“.
Die Sprache ist schon lange ein Instrument der Sinisierung. Wie gestaltet sich die aktuelle Politik im Moment?
Unter den Nomaden gibt es kaum jemanden, der auch nur ein wenig Chinesisch spricht, egal ob Kinder, Erwachsene oder Alte. In Kindergärten und Primarschulen werden daher einzelne Unterrichtsstunden in Tibetisch angeboten, Chinesisch aber in den Hauptfächern. Die Kinder lernen sehr schnell Chinesisch, und wenn sie in der Schule und im Leben weiterkommen wollen, bleibt ihnen nur Chinesisch. Das beeinflusst letztlich auch ihr Denken.
Zur Armutsbekämpfung zählen auch Infrastruktur- und Baumaßnahmen. Daran mangelt es nicht, auch nicht in den Gebieten der Minderheiten. Wie sind die Auswirkungen auf die tibetische Gesellschaft?
Die Infrastrukturmaßnahmen sind beeindruckend, und sie sind für die Regierung die Basis bei der Armutsbekämpfung. Erst wenn die Infrastruktur steht, macht es Sinn, Fabriken zu bauen oder andere Arbeitsplätze zu schaffen. Bald soll es auch eine Eisenbahnstrecke von Sichuan nach Lhasa geben, wofür 320 Milliarden Yuan bewilligt worden sind (Anmerkung der Redaktion: ca. 40 Mrd. Euro). In Lhasa selbst ist die Urbanisierung unübersehbar, die Stadt ist voller Baustellen. In der öffentlichen Darstellung herrscht offiziell Zweisprachigkeit, aber die chinesischen Bezeichnungen sind immer viel größer. Damit wird auf den ersten Blick deutlich, welche Kultur die dominierende ist.
Gibt es denn überhaupt noch Tibeter in Lhasa oder Umgebung?
Man sieht sie natürlich noch bei den Tempeln in der Altstadt, aber insgesamt ist Lhasa inzwischen eine chinesische Stadt. Anders ist es im Umland. Ein paar Autostunden Richtung Norden gibt es noch rein tibetische Siedlungen. Sie sind sehr beliebte Ziele für chinesische Touristen, denen dort tibetische Kultur versprochen wird: Tänze, Essen… Es ist schwer zu beurteilen, ob es sich dabei um Karneval, um Komödie handelt oder ob die authentische tibetische Kultur präsentiert wird. Das ist jedenfalls eine Form der Kulturförderung, die von der KP durchaus unterstützt wird.
Tibet-Freunde verweisen darauf, dass der Dalai Lama nach wie vor ausgesprochen populär ist und es nach dem Aufstand von 2008 sowie den weit verbreiteten Selbstverbrennungen nun eine subtile Form des Widerstands gibt, die Lhakar genannt wird, „Weißer Mittwoch“. An einem Mittwoch wurde der Dalai Lama geboren, und so wird an dem Tag das Tibetische ganz besonders hervorgehoben. Können Sie das bestätigen?
Von Lhakar habe ich auf meinen Reisen nichts mitbekommen, aber die Popularität des Dalai Lama kann ich bestätigen, selbst unter denen, die für die Regierung arbeiten. Vor allem außerhalb von Zentraltibet, etwa in Qinghai (Anm.: tibetisch Amdo) finden Sie in den Tempeln hinter den Vorhängen und in den Hinterräumen zahlreiche Bilder des Dalai Lama. Auf einer dieser Reisen ist es mir passiert, dass meine offizielle Begleiterin, eine Tibeterin, mich in einem unbeobachteten Moment eher verschämt gefragt hat, ob ich den Dalai Lama schon einmal gesehen hätte. Ich bin nur nicht ganz sicher, ob das für die jüngere Generation, die in der digitalen Welt aufwächst, noch ebenso gilt. In den letzten zehn Jahren hat sich unglaublich viel verändert, die Lebensverhältnisse haben sich mehr und mehr angeglichen, ausgerichtet an der chinesischen Kultur, versteht sich. Da geht viel an Kulturgut verloren.
Noch einmal zurück zu Xi, dem nachgesagt wird, er habe eine Machtfülle, die nur mit der von Mao und Deng vergleichbar ist. In Sachen Überwachung und Verfolgung vermeintlicher Gegner hat er den härtesten Kurs seit der Kulturrevolution eingeschlagen. Vielen Beobachtern gelten die Erfahrungen während der Kulturrevolution als Erklärung für Xis Kontrollwahn. Um nie wieder in eine machtlose Position zu kommen, will er alles kontrollieren. Teilen Sie diese Sicht, und was bedeutet das für Tibet?
Ja, durchaus. Xi ist in gewisser Weise das Gegenkonzept zu Mao, der seine Herrschaft dadurch abgesichert und verteidigt hat, indem er Chaos gestiftet hat. Xi sichert sie durch die totale Kontrolle ab. Ich muss allerdings sagen, dass die Zahl der Überwachungskameras in Lhasa nicht größer ist als in Peking oder Shanghai. In der Altstadt am Barkhor sind es ein paar mehr, aber insgesamt bewegt es sich im chinesischen Rahmen und ist in keiner Weise mit Kashgar vergleichbar, wo die Überwachung viel lückenloser ist. Ich bin auch überzeugt davon, dass Xi seine eigene Propaganda vom „Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften“ selbst glaubt. Damit steht er allerdings ziemlich allein. Von der jüngeren Generation, selbst in seiner Umgebung, glaubt niemand mehr daran. Es geht um Reichtum und Wohlstand.
Den, nach Ihren Erfahrungen, auch die Tibeter möchten?
In der Tat, das ist mein Eindruck, zumindest von der jüngeren Generation.
Dr. Matthias Müller (geb. 1969) studierte Volkswirtschaftslehre in Tübingen, unterbrochen durch einen Besuch der Universität von Guadalajara in Mexiko. Anschließend war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Bernhard Herz an der Universität Bayreuth. Nach der Promotion zog es ihn nach Berlin, um für die Frankfurter Allgemeine Zeitung über die Bundespolitik zu berichten. Parallel dazu war er Dozent für Volkswirtschaftslehre an zwei Fachhochschulen in Berlin. Seit 2010 schreibt er für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ). Die ersten Jahre verbrachte er in der Zentrale in Zürich, bevor es ihn im Februar 2015 nach Peking zog. Von dort berichtet er über China, die Mongolei sowie Nordkorea.
Last modified: 5. September 2022