
Tibetisches Theater mit Regisseur Harry Fuhrmann: Der Deutsche reist seit mehreren Jahren regelmäßig nach Indien, um mit Tibeterinnen und Tibetern Theaterarbeit zu machen. Das ist voller Herausforderungen – für Harry Fuhrmann, aber auch für die Tibeter.
VON AKO KIDLI
Phantasie ist heilsam. Das ist das Besondere am Theater. „Man kann Bomben werfen, die Zeit zurückdrehen und es noch einmal mit anderen Mitteln versuchen.“ Das Zitat stammt vom tibetischen Poeten Bhuchung D. Sonam, der mit 10 Jahren nach Nordindien ins Exil gegangen ist. Zusammen mit anderen Künstlern und Intellektuellen sucht der Poet nach Wegen, um auf die Zerstörung der tibetischen Kultur durch die chinesische Regierung aufmerksam zu machen. Seit vielen Jahren setzt sich auch der Berliner Regisseur und Schauspieler Harry Fuhrmann für die Bewahrung und Weiterentwicklung der tibetischen Kultur, insbesondere des tibetischen Theaters, ein. Zwischen 2015 und 2019 reiste er mit Unterstützung der Schwetzinger Tibethilfe sowie der Deutschen Tibethilfe viermal nach McLeod Ganj in Nordindien, um tibetischen Künstlern Schauspielworkshops am Tibetan Institute of Performing Arts (TIPA) zu geben. Seine Reiseberichte dienen als Grundlage für diesen Artikel.
In McLeod Ganj, etwa 500 km nördlich von Neu-Delhi, befinden sich der Hauptsitz der tibetischen Exilregierung sowie der Tempel des Dalai Lama. Dieser Vorort von Dharamsala wird aufgrund seiner großen Bevölkerung von Tibetern auch „Little Lhasa“ oder „Dhasa“ genannt. Das dort ansässige Tibetan Institute of Performing Arts (TIPA) wurde 1959 vom Dalai Lama nach seiner Flucht aus China gegründet. Bevor Harry Fuhrmann mit seiner Workshop- Reihe anfing, wurden am Institut tibetische Oper, Gesang, Tänze und Musik gelehrt. Theaterstücke wurden zwar auch immer wieder gespielt, es gab jedoch weder eine gezielte Schauspielausbildung noch Workshops, die methodisch eine schauspielerische Grundlage geschaffen hätten. Was bei den Tibetern unseren Theaterstücken am nächsten kommt, ist die tibetische Oper. Die beiden populärsten Stile heißen Ache Lhamo und Namthar. Ache Lhamo diente ursprünglich dazu, belehrende Geschichten aus Buddhas Leben vorzutragen. Als Gründer dieses Volkstheaters mit Maskenkostümen gilt der tibetische Heilige Thangtong Gyalpo, der zu Beginn des 15. Jahrhunderts die Erzählungen auf verschiedene Rollen verteilte. In den Ache-Lhamo-Aufführungen singen die Hauptakteure in einem schnellen, rezitativen Stil und werden vom Chor unterstützt, der die Verse wiederaufnimmt. Hinzu kommen Tänzer sowie Trommeln und Becken, die den Fortgang der Handlung untermalen.
Da die tibetischen Künstler eher gewohnt waren, in der Gruppe auf der Bühne zu stehen, bestanden die ersten Probenschritte darin, den Ausdruck von Individualität zu fördern.
Namthar, der zweite populäre Stil der tibetischen Oper, wurde im 18. Jahrhundert in der Provinz Gansu entwickelt. Bei dieser Kunstform begegnet man je nach den Erfordernissen der Handlung bekannten Volksliedern und Tänzen. Begleitet wird die Aufführung von der Bambusflöte, einem Hackbrett, der Stachelfidel und nicht zuletzt von Trommeln und Becken. In tibetischen Aufführungen wird viel gesprochen, aber wenig gehandelt. Alles wird durch den Text erklärt, vieles wird behauptet, aber nur wenig erlebt. „Zudem sind die Künstler sehr schüchtern“, erzählt Harry Fuhrmann nach seinem ersten 10-tägigen Schauspielworkshop am TIPA. „Sie sind es gewöhnt, in der Gruppe, aber nicht als Individuum auf der Bühne zu stehen.“ „First you do, then I do“: Nach diesem Motto nehmen die 12 Senior und Intermediate Artists im Alter von 24 bis 31 Jahren am Workshop teil. Sie tun sich ein wenig schwer, selbst kreativ zu werden, Verantwortung zu übernehmen und künstlerische Entscheidungen zu treffen. Sich auf der Bühne in die Augen gucken, über Gefühle sprechen oder sich Konflikten stellen, all das ist neu für die Künstler des TIPA. So macht Harry Fuhrmann die Förderung bzw. den Ausdruck von Individualität zu einem der zentralen Aspekte seines Unterrichts.
„Natürlich waren auch zu Beginn meiner Workshops einige große Talente dabei“, unterstreicht zugleich der Berliner Regisseur und Schauspieler und schwärmt von den tibetischen Künstlern am TIPA. Umso mehr freut es ihn, bei vielen die Lust am Spielen geweckt und ihnen Mut gemacht zu haben, etwas zu riskieren und sich schauspielerisch weiterzuentwickeln. Die Neugierde der Workshop-Teilnehmer und die Bereitschaft, sich auf die Übungen einzulassen, hätten ihn sehr beeindruckt. Dass der neue Ansatz von künstlerischer Arbeit gut ankommt, zeigt sich auch ein Jahr später. In der Tat sind 2016 bereits 40 Künstlerinnen und Künstler beim Schauspielworkshop von Harry Fuhrmann dabei, der den Fokus diesmal auf Vertrauensübungen und Improvisationen legt. Erarbeitet werden soll außerdem ein Theaterstück, das von der systematischen Zerstörung der tibetischen Kultur durch die chinesische Regierung erzählt. „China zerstört diese wunderbare Kultur, ignoriert sie, verbietet sie, überflutet sie mit chinesischer Moderne und lässt ihr keinen Raum. Die Welt liegt vor China auf den Knien und nimmt diese Zerstörung billigend in Kauf, denn im Kapitalismus geht es um Geld und nicht um den Erhalt einer Kultur und die Bewahrung von Menschenrechten“, betont Harry Fuhrmann.

Die Situation in Tibet ist in der Tat sehr angespannt: Die Grenzen des Landes werden streng überwacht, sodass die Tibeter nicht ausreisen können. Auch werden die tibetischen Familien regelmäßig gezählt: Sollte jemand fehlen, droht der gesamten Familie eine Strafe. Es ist verboten, den Dalai Lama zu erwähnen oder Bilder von ihm zu verbreiten. Es gibt weder Religion- noch Pressefreiheit im Land, Menschenrechtsorganisationen prangern zudem außergerichtliche Hinrichtungen und das Verschwinden von Menschen an. Viele Mönche und Laien haben in den vergangenen Jahren bereits die Selbstverbrennung als ultimative Form des Protestes gewählt. So wird beim dritten Schauspielworkshop ein Jahr später weiter an der Idee eines aufklärenden Theaterstückes gearbeitet: Neben der Situation der Tibeter im Land soll auch die Situation der Tibeter im Exil gezeigt werden und wie schwer es für letztere ist, außerhalb der Heimat ihre Kultur weiterzuleben. Insbesondere für jene, die im Exil geboren werden, bedeutet es eine Herausforderung, den Bezug zum Ursprungsland zu bewahren. Mittels kleiner Übungen und szenischer Aufgaben sollen die Workshop-Teilnehmer dieses Mal lernen, auf der Bühne eigene Entscheidungen zu treffen. Hierzu hilft die Beantwortung der W-Fragen, wie etwa: „Wer bin ich? Wann spielt die Szene und warum handelt meine Figur?“ Auch die Partnerbeziehung auf der Bühne steht immer mehr im Fokus, sprich die Künstler sollen auf den Partner eingehen, mit ihm spielen, versuchen, ihn zu verändern.
„China zerstört diese wunderbare Kultur, ignoriert sie, verbietet sie, überflutet sie mit chinesischer Moderne und lässt ihr keinen Raum.“
Beim vierten Workshop 2018 arbeiten die Schauspielschüler, die sich in den vergangenen Jahren extrem weiterentwickelt haben, schließlich mit Auszügen aus nepalesischen und tibetischen Kurzgeschichten. Harry Fuhrmann inszeniert dabei ein Theaterstück nach der Kurzgeschichte „The Valley of the Black Foxes“ des tibetischen Autors Tsering Dondrup, das vermitteln soll, wie die chinesische Regierung die Nomaden aus der Steppe vertreibt, um an die Rohstoffe heranzukommen und die Menschen leichter kontrollieren zu können. Die Arbeit mit Texten und die Aufführung der Stücke ist für alle Workshop-Teilnehmer ein großer Schritt, der Hoffnung macht. Zuversichtlich stimmt nicht zuletzt auch die Errichtung einer neuen, modernen „Theatre Hall“ am TIPA. Der Veranstaltungssaal, in dem unter anderem Stücke des Instituts aufgeführt werden sollen, fasst 500 Plätze. So wird ein geschützter Raum geschaffen, in dem die Kreativität und die Phantasie wachsen können. Um Wunden nicht nur ein Stück zu heilen, sondern sie auch sichtbar zu machen. Indem man sich mit ihnen beschäftigt, sie in die eigene Kultur integriert und diese in die Welt hinausträgt. Damit Tibet mit all seinem kulturellen Reichtum wahrgenommen, verstanden und in seiner Einzigartigkeit bewahrt wird.
Last modified: 16. August 2022