In den letzten Jahren erfuhr die Welt auf schmerzliche Weise, dass sich alle möglichen Dinge als Waffe einsetzen lassen: Handel, Migration, Informationen, Öl, Gas oder seltene Erden. Ein zunehmend als geopolitisches Machtmittel eingesetztes Gut ist Wasser. Als Land, das den „Wasserspeicher Asiens“ beherrscht, verfügt China über immense Macht. Die Zukunft des Kontinents wird davon abhängen, ob Peking dazu bereit ist, das Wasser Tibets nicht als Waffe einzusetzen.
VON MAREK FELTEN
Bereits Sextus Julius Frontinus (40–103 n. Chr.), der das Fundament des römischen Aquädukt Systems legte, schrieb über den Nutzen von Wasser als Kriegswaffe, etwa durch Kontamination von Trinkwasser oder die Umleitung von Flussläufen.
Ein aktuelles Beispiel liefert der Angriffskrieg gegen die Ukraine: Am 6. Juni 2023 detonierte an der Wehranlage des ukrainischen Kachowka-Staudammes (zu dem Zeitpunkt unter russischer Kontrolle) eine Sprengladung, die großflächige Überschwemmungen auslöste. Unzählige Menschen kamen ums Leben, zehntausende Häuser, Fischgründe und Ackerland wurden zerstört, das Trinkwasser kontaminiert. Das Absenken des Grundwasserspiegels bedrohte auch die Kühlung des größten Kernkraftwerks Europas, Saporischschja.
Beim Durchmarsch durch Syrien und Irak eroberte der Islamische Staat (IS) neben Ölfeldern und Raffinerien auch Staudämme an den Flüssen Euphrat und Tigris, was ihm die Macht über Millionen von Menschen gab. Auch der Iran soll bei seinem hybriden Krieg gegen den Westen auf die Wasserwaffe setzen: Laut Untersuchung der amerikanischen Umweltschutzbehörde haben Hacker der iranischen Nationalgarde mehrmals versucht, in die amerikanische Wasserversorgung einzudringen.
1938 zerstörte die Nationalrevolutionäre Armee Chinas in der Provinz Henan Deiche des Gelben Flusses, wodurch riesige Teile des Landes unter Wasser gesetzt wurden, um die anrückenden japanischen Truppen zu behindern. Die Flutung, die bis 1947 anhielt, tötete fast eine Million Menschen. Es war die größte menschengemachte Umweltkatastrophe der Geschichte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden solche Taktiken nach der Genfer Konvention verboten und von zahlreichen Nationen geächtet. Das Beispiel des Kachowka-Staudammes zeigt jedoch, dass deren Wiederholung alles andere als ausgeschlossen ist. Und mit weltweit zunehmendem Wasserverbrauch und abnehmender Wasserversorgung steigt die Bedeutung von Wasser als taktischer Ressource beträchtlich.
Asien geht sauberes Wasser aus
In Asien wird der Zugang zu Frischwasser von mehreren Entwicklungen belastet: Bei rasch wachsender Stadtbevölkerung kann die bestehende Infrastruktur – Reservoirs, Aufbereitungsanlagen, Verteilungssysteme usw. – nur mit großem Aufwand skaliert werden. Dadurch steigt das Risiko, dass sich Millionen von Menschen ohne Wasserversorgung wiederfinden.
In Großstädten, die meistens in unmittelbarer Nähe großer Flüsse gebaut wurden, nimmt auch die Gefahr großer Überschwemmungen mit verheerenden sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Folgen zu. Der Aufstieg von Millionen von Menschen in die Mittelschicht hat deren Konsumgewohnheiten grundlegend transformiert. Mit dem Wohlstand steigt das Bedürfnis nach Fleisch, Wohnraum, Reisen und Individualverkehr, was weiteren Druck auf die knappen Wasserreserven und die fragile Infrastruktur ausübt.
Laut einem Bericht der Asian Development Bank sind über 75 Prozent Asiens von Wasserunsicherheit betroffen. Abwässer aus Städten, der Landwirtschaft und der Industrie haben zur Verschmutzung von 80 Prozent der Flüsse geführt. Die Länder, in denen 90 Prozent der Bevölkerung Asiens leben, stehen bereits heute an der Schwelle einer Wasserkrise.
Allein in Südasien sind laut eines Berichts von UNICEF rund 350 Millionen Minderjährige von akuter Wasserknappheit bedroht. Laut Weltbank könnte diese Zahl im Jahr 2050 auf 1,7 Milliarden ansteigen.
In Asien, dem Kontinent mit der größten Grundwassernutzung, nehmen die Grundwasservorräte durch Expansion der Landwirtschaft, die Umstellung auf wasserintensivere Nutzpflanzen und eine unnachhaltige Bewässerung an vielen Orten ab. Wenn einem Grundwasserkörper zu viel Wasser entnommen wird, steigt dessen Salzkonzentration, was ihn für Menschen unbrauchbar macht. Besonders drängend sind die Probleme in China, das nicht nur die zweitgrößte Bevölkerung der Welt, sondern auch die Quellen der meisten großen Flüsse beherbergt.
Rund 90 Prozent des chinesischen Grundwassers sind so verschmutzt, dass sie nicht als Trinkwasser genutzt werden können, 50 Prozent sind selbst für die landwirtschaftliche und industrielle Nutzung ungeeignet. 70 Prozent der Flüsse, Seen und Reservoirs gelten als kontaminiert. Unzureichende Klärung fördert die Verbreitung wasserbezogener Erreger bzw. Krankheiten wie Salmonellen, Cholera oder Typhus.
In den letzten 30 Jahren hat China rund 30.000 Flüsse verloren. Jährlich sterben dort 100.000 Menschen an schmutzigem Wasser.
Laut einer Studie von 2019 kostet schmutziges Wasser in China jedes Jahr 100.000 Menschenleben und rund 50 Milliarden USD (1,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts) an wirtschaftlichem Verlust. In den letzten 30 Jahren hat das Land rund 30.000 Flüsse verloren. Große Flüsse wie der Jangtse, an deren Ufern die großen Städte liegen, versiegen immer häufiger, bevor sie ihre Mündung erreichen. Das bedroht die Landwirtschaft, die Kühlung von Kohle-, Nuklear- und Wasserkraftwerken, treibt die Preise von Gütern in die Höhe, weil der günstige Transport mittels Schiffen entfällt, und verändert sogar das regionale Klima.
Wer die Bedeutung von Wasser für China verstehen will, muss in die Vergangenheit des Landes abtauchen. Bereits älteste Mythen verknüpfen politische Macht mit der Beherrschung des Wassers.
Mao Zedong leitete 1958 den Großen Sprung mit dem Bau von Staudämmen und anderen Wasserbauprojekten ein. Vizepräsident Deng Zihui versprach in einem Entwicklungsplan die Klärung des Gelben Flusses, also die Erfüllung der alten Prophezeiung. Wann immer Mao eine seiner mörderischen Kampagnen begann, demonstrierte er seine Stärkedurch das Baden in großen Flüssen. Und noch Xi Jinping versprach seinem Volk „Klares Wasser und grüne Hügel“, während sein Staat zum Dammbauer nicht nur Chinas sondern der Welt aufstieg
Der deutsche Sinologe Karl Wittfogel (1896–1988) sah einen direkten Zusammenhang zwischen der Geografie Chinas, dem Wasserbau und der besonderen Staatsform, die er „hydraulische Despotie“ nannte. Danach lägen die Ursprünge des autoritären chinesischen Staates in den räumlich ungleich verteilten Wasserquellen (wasserreicher Süden, arider Norden). Das machte eine zentralisierte und strenge Planung wasserbaulicher Maßnahmen notwendig.
Der Bau von Kanälen, Brunnen, Dämmen und Deichen benötigte große Mengen an Arbeitskraft, Material, Expertisen und Geld, was eine zentrale Steuerung erforderte. Hier lassen sich Parallelen zum heutigen China erkennen, das jede nicht-staatliche Form politischer Organisation gnadenlos zerschlägt. Indem der Staat das Wasser kontrolliert, so Wittfogel, kontrolliert er die Bevölkerung. Wirtschaftswissenschaftler der Universität Kopenhagen veröffentlichten 2015 eine Studie, die nicht nur eine statistische Beziehung zwischen Gesellschaften mit hohem „Bewässerungspotential“ und autoritären Staatsformen belegt, sondern zeigt, dass hydraulische Gesellschaften auch langfristig eine Demokratisierung erschweren. In Chinas hydraulischer Despotie von heute leben die Mythen der Vorzeit fort. Damit sei nicht gesagt, dass China bloß Opfer seiner Erzählungen und seiner Geografie ist, sondern, dass auch kulturelle, psychologische und materielle Eigenschaften seine Politik prägen.
Autoritärer Umgang mit Wasser
Die Kontinuität des von Wittfogel beschriebenen autoritären Staates lässt sich auch an drei weiteren Dimensionen erkennen: der Dimension der wasserbaulichen Projekte, der Kooperation mit Anrainern und dem Umgang mit Kritik. Gelegentlich wirkt es, als wolle Peking es mit den Taten des mythischen Kaisers aufnehmen, so gewaltig sind seine Wasserprojekte. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) hat seit ihrer Machtübernahme 1949 alle Anstrengungen unternommen, um die Flüsse, Seen und Reservoirs des Landes in den Dienst des Staates zu stellen. Das Süd-Nord-Wassertransferprojekt ist das größte wasserbauliche Vorhaben der Geschichte. Auf zwei Routen wird Wasser aus dem Süden des Landes in den bevölkerungsreichen und ariden Norden (44 Prozent Chinas besteht aus wüstenähnlichen Regionen) geleitet. Ein dritter Kanal soll den Drei-Schluchten-Damm einbeziehen.
Dieses Projekt, das sich bereits Mao gewünscht hatte, steht seit Langem in der Kritik, weil es Ackerland zerstört und den Süden mit Wasserknappheit straft. Hunderttausende mussten zum Teil mit Gewalt umgesiedelt werden, ein Großteil des Wassers verdunstet auf dem Weg nach Peking. Die Umweltforscherin Judith Shapiro spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Kampf gegen die Natur“, der die Überlegenheit des kommunistischen Systems beweisen soll und wenig Rücksicht auf die Bevölkerung oder abweichende Expertenmeinungen nimmt.
Internationale Konflikte
Als es 2017 in Doklam zu einer 73-tägigen militärischen Auseinandersetzung mit indischen Soldaten kam, stellte China den Austausch von Wasserinformationen über den Brahmaputra ein und verschärfte damit eine bereits konfliktträchtige Situation. Vor allem das Dämmen transnationaler Flüsse wird von den südlichen Nachbarn mit Sorge gesehen.
Gegenwärtig heizt der geplante Megadamm am tibetischen Yarlung Tsangpo (indisch: Brahmaputra) den Konflikt an. Die Wasserpolitik Pekings könnte bei ihrer sehr beschränkten Zusammenarbeit mit Indien zu einem „Wettrüsten“ führen. Indien hat bereits angekündigt, verstärkt Dämme zu bauen, was wiederum die Wassersicherheit des weiter flussabwärts gelegenen Bangladeschs bedroht. Auch die Wasserversorgung Thailands ist im hohen Maße vom Goodwill Chinas abhängig. Während einer großen Dürre im Jahr 2019 veröffentlichten US-Forscher Bildmaterial, das bewies, dass China Wasser am Oberlauf des Mekong zurückhielt. Die Regierung in Peking wies die Vorwürfe zurück, hielt aber weiterhin detaillierte Informationen über Wasserverbrauch, Bauprojekte und Niederschläge unter Verschluss. In Bezug auf Wasser handelt China nicht anders als Saudi-Arabien, das seine Ölreserven als Staatsgeheimnis hütet.
So autoritär und intransparent sich China nach außen gibt, so repressiv ist es nach innen. In den letzten Jahrzehnten gab es in Tibet immer wieder Proteste gegen den Bau von Staudämmen, gegen Zwangsumsiedlungen oder die Kontamination von Seen und Flüssen durch Bergbau, Industrie und Landwirtschaft.
Die Namen von Umweltschützern wie A-Nya Sengdra, Dorjee Daktal oder Kelsang Choklang, die bis heute in Haft sitzen, sind der breiten Öffentlichkeit zumeist unbekannt. China ist extrem restriktiv gegenüber ausländischen Medien und darum bemüht, Informationen über die Niederschlagung von Protesten oder über politische Gefangene zu unterdrücken. Dass die Welt im Februar dieses Jahres von Massenfestnahmen und Polizeigewalt im osttibetischen Derge in der Präfektur Kardze erfuhrt, ist eine Seltenheit. Der Sender Radio Free Asia veröffentlichte Filmaufnahmen, die die brutale Verhaftung von rund 1000 Menschen zeigten, darunter viele Mönche. Grund der Proteste war der geplante Bau eines Staudammes und die angekündigte Zerstörung mehrerer Dörfer und historischer Klöster.
Fazit
Der chinesische Wasserbau zeichnet sich durch megalomanische Großprojekte, Abwehr von Kritik und Intransparenz aus. Wasser gilt als Treibstoff für die Wirtschaft und folglich als Macht des Staates. Dass die Wasserfrage auch eine historische und mythische Dimension hat, macht ihre Lösung umso schwieriger. Gegenüber flussabwärts gelegenen Ländern tritt China als wenig kooperationsbereiter Wasserhegemon auf, der die Ressourcen Tibets als alleiniges Eigentum betrachtet. Interessen und Lebensgewohnheiten der tibetischen Bevölkerung haben für die staatlichen Behörden nur wenig Bedeutung.
Weite Teile Asiens leiden unter Dürren, Überschwemmungen, Knappheit an sauberem Wasser und einer überlasteten Infrastruktur. Die sehr ungleiche räumliche Verteilung von Wasser und Chinas geringe Kooperationsbereitschaft vergrößern das Risiko eines Konflikts dramatisch. Wer Wasser als Machtmittel einsetzt, riskiert das Leben von Millionen. Wenn der Wasserspeicher eines Kontinents in den Händen einer Partei liegt, die immer mehr Konflikte schürt, massiv militärisch aufrüstet und eine aggressive Propaganda betreibt, müssen sämtliche Alarmglocken läuten.
Marek Felten studierte Geografie und Geografische Entwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin. Neben seiner Tätigkeit als Übersetzer und Lektor arbeitet er seit 2022 als Kampagnenreferent der Tibet Initiative. Marek Felten leitet auch die aktuelle Blue-Tibet-Kampagne, die sich mit der Wasserproblematik in Süd- und Ostasien beschäftigt.
Last modified: 3. September 2024