Der Journalist Andreas Hilmer fordert die Medien zum Umdenken auf – Gewalt dürfe nicht das einzige Kriterium für Berichterstattung sein. Vielmehr sollten Themen aus neuen Perspektiven recherchiert werden. Und Unrecht sei nie “zu Ende erzählt”.
VON ANDREAS HILMER
Wer in die Medien will, muss sich heutzutage was einfallen lassen. Vor allem mit Spektakel kommt man weit. Gewalt geht immer. Steinewerfer sind gut. Blut hilft viel. Ein nachdenkliches Paradox. Seit Jahren klappt das zuverlässig beispielsweise beim Palästinakonflikt. Auf Krawall folgt Leitartikel. Wenn aber in Madagaskar stumm gehungert wird, sind die Artikel kurz und selten. Wer friedlich oder stumm leidet, der landet hinten im Blatt oder findet gar nicht statt. Paradox und furchtbar, aber leider allzu wahr!
Lernkurve: Gewaltlosigkeit ist schlecht, Gewalt ist gut. Zumindest für die Beachtung in den meisten Medien. Wer brandschatzt im Kongo oder sich in Gelbwesten gegen die Pariser Polizei wehrt, kommt mit Foto ins Blatt; wer nicht zurückschlägt, gar friedfertig Ausgleich sucht, wie die Tibeter zumeist, wird sicherlich bewundert – findet aber immer weniger statt. Zu leise und zu wenig Neues? So sterben Tibet-Themen immer öfter in Schönheit den Redaktionstod. In den Medien herrscht ein systematisches Aufmerksamkeitsparadox. Und darunter leiden gerade Tibet-Themen immer mehr.
Die Welt ist komplex, viele Medien wollen aber gern einfache Lösungen bieten. Was aber, wenn bereits das Problem vielschichtig ist? Dann wird’s schwierig in den Redaktionen. Beispiel Tibet: Jahrzehntelange Unterdrückung, Umerziehung, Zwangssinisierung. Und als Stimme ein „sogar in den Medien verehrter, als heilig geschriebener Anführer fast ohne Feinde“, der Frieden sucht, Gewalt ausbremst, Verständnis hat. Ist der Dalai Lama inzwischen zu positiv für große Artikel? Noch dazu: Grausamkeiten werden von China inzwischen weniger sichtbar umgesetzt. Und es wurde schon oft berichtet. Zu wenige neue Aspekte also. Und dann diese Gewaltlosigkeit, die jeder kennt und jeder mag. Das alles ist schön, aber auserzählt?
Generell bleibt Neues immer kürzer spannend: Unrecht verjährt – je nach Blatt – in den Medien rasant, langweilt schnell, wenn nichts Neues passiert. Ein paradoxer Kreislauf. Als Burmas Mönche niedergeknüppelt wurden und sich wehrten, stieg die Nachfrage nach Berichterstattung fulminant. Auch Hongkongs Verteidigung seiner Freiheit lief anfangs gut in der Presse. Dann kam die Ermüdung.
Als sich die ersten Tibeter selbst verbrannten, waren sie Goldwährung der Medien: etwas Unbekanntes, sympathische Helden und oben drauf einige schaurige Aspekte. Wenn Helden sich allerdings treu bleiben, ihre Meinung und Haltung wiederholen, dann nutzen sie sich medial ab. Hund beißt Mann ist langweilig; Mann beißt Hund ist spannend – aber auch nur beim ersten Mal. So sind die meisten Medien. Und so sei eben der Mensch, sagen sie. Paradox.
Medien brauchen immer auch Symbole! Für die Nachrichtenökonomie sind starke Bilder Gold: Regenschirme in Hongkong, weiße leere Zettel in China, Kopftücher im Iran. Und Tibet? Jahrzehnte war der Dalai Lama eine mediale Lichtgestalt. Umschwärmt und zum „Gottkönig in Flip Flops“ hochgeschrieben. Und nachdem man ihm lange „bei der friedfertigen Gewaltlosigkeit zugeschaut und -gehört hatte“, war es schleichend genug mit Vorbild und schönen Reden. Ein Overkill an Friedfertigkeit! Trotz aller Repression bleibt es auf dem Dach der Welt so seit Jahrzehnten so schön friedlich. Keine Story, weil die Unterdrückung „more of the same“ ist.
Ich fordere, Medien neu zu denken! Ich möchte, dass Themen kein Verfallsdatum haben, dass ihnen auf den Grund gegangen wird. „11km“ nennt die Tagesschau – einer meiner Auftraggeber für mich als Journalist – ihren neuen Podcast. So tief will man bei den Themen graben! Dann man zu! Ich möchte also, dass bereits bekannte Themen immer neu und nachhaltig in den Blick genommen werden. Von unterschiedlichen Perspektiven. Und ohne die Fessel des Aufmerksamkeitsparadoxes. Denn Unrecht ist nie „zu Ende erzählt“. Und da ist Tibet noch immer ganz weit vorne. Leider.
Andreas Hilmer arbeitet seit 1985 vor allem als freier Journalist und Produzent für verschiedene Redaktionen der ARD und GEO, DIE ZEIT, Frankfurter Rundschau u.a. Er lehrt in Journalismus-Themen und Rhetorik. 1998, 2002 und 2007 übernahm er die Pressearbeit für Veranstaltungen mit dem Dalai Lama.
Last modified: 30. März 2023