Tenzin Tsundue ist tibetischer Dichter und Aktivist. Er spricht über seinen Einsatz für die Freiheit Tibets, das Leben im Exil und die Macht der Poesie als Widerstandsform. Im Interview erzählt er von seinem Gefängnis-Aufenthalt in China und wie er auf Gewaltfreiheit blickt.
VON ANJA OECK
Als im Exil lebender Tibeter, Dichter und politischer Aktivist für die Freiheit Tibets bist du prädestiniert, über den Protest gegen Unterdrückung und Aggression zu sprechen.
Ich begann früh als Aktivist und spät als Schriftsteller. Es fühlt sich für mich so an, als ob ich in einem Krieg geboren wurde und der Kampf eine natürliche Erziehung war, ein Teil des Lebens und keine Pflicht oder Last. Schon früh sah ich unser Leben als Flüchtlinge als große Chance, frühzeitig zu reifen, schnell zu lernen und bereit zu sein, der Sache Tibets zu dienen. Aktivismus bedeutet, durch eigene Anstrengungen Veränderungen herbeizuführen, anstatt auf Glücksfälle oder die Unterstützung anderer zu warten.
Heute hat die internationale Handels- und Lieferkettenabhängigkeit von China die meisten westlichen Länder dazu gebracht, Chinas Plünderung der natürlichen Ressourcen Tibets blind zu unterstützen und dabei die Menschen zu unterdrücken und Freiheitskämpfer zu töten. Der Genozid in Tibet wird stillschweigend als „Konflikt“ hingenommen. Chinas Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und zahllosen Menschenrechtsverletzungen in Tibet, Ostturkestan und der Süd-Mongolei werden brutal unterdrückt und dauern seit 75 Jahren an. Was in der Ukraine und in Palästina geschieht, sind erklärte Kriege, und die Meinungen und Haltungen der Menschen sind gespalten und widersprüchlich. Poesie ist zivil, nicht unbedingt friedlich.
Erzähle uns kurz von deinem Leben und wie es zu dem kam, was du heute tust.
Ich wuchs in einer tibetischen Flüchtlingsschule in einem kleinen Dorf namens Pathlikuhl im Apple Valley von Kullu im nordindischen Bundesstaat Himachal Pradesh auf. Nach der chinesischen Invasion flüchteten meine Eltern und folgten dem Dalai Lama ins Exil. Einen Großteil meiner Schulzeit verbrachte ich auf dem Campus der Apple Valley School. Ich lernte, mich selbst zu versorgen, zu organisieren und zu disziplinieren, um effektiver und unabhängiger zu sein. In der Schule bestand mein Idealismus darin, dass uns alle unterstützen würden, wenn wir die Welt auf unser Leid aufmerksam machen würden. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich erkannte, dass jeder über die militärische Invasion und Besetzung Tibets Bescheid wusste und die Ungerechtigkeiten kannte. Die eigenen nationalen Interessen waren jedoch wichtiger, manchmal sogar auf unsere Kosten.
Ich wollte immer schon für Tibet arbeiten, und als ich in der fünften Klasse war, versprach ich mir, mein Leben nach der Schule Tibet zu widmen. Im College erkannte ich, dass Aktivismus im Exil nicht ausreichte. Also ging ich nach Tibet, um dort an der Bewegung teilzunehmen. Ich schaffte es, die Grenze nach Tibet zu überqueren, und entkam nur knapp der indischen Grenzsicherung. In Tibet wurde ich von der chinesischen Polizei verhaftet und mit verbundenen Augen in ein Gefängnis gebracht. Nach drei Monaten, weil sie ihre Anschuldigungen an mich nicht nachweisen konnten, warfen sie mich raus.
Damals beschloss ich, mich weiterhin vom Exil aus für Tibets einzusetzen. Ich begann, meine Gedichte in Buchform zu veröffentlichen und zu verkaufen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Dieses Einkommen ermöglicht mir zum Beispiel die Verwirklichung meines Lebenstraums, nämlich Tibet zu befreien. Als Aktivist war ich im Gefängnis, wurde geschlagen, gefoltert, und mir wurden Essen und Schlaf entzogen. Doch das waren die besten Lektionen fürs Leben, um stark und einfallsreich zu werden. Mein Schreiben half mir nicht nur, mich zu ernähren, sondern auch eine starke Stimme für die Sache Tibets zu werden. Es sind jetzt dreißig Jahre vergangen, seit ich die Schule beendet und mich der Bewegung angeschlossen habe. Wir sind noch weit davon entfernt, unser Land zu befreien, aber wir haben schon einen langen Weg zurückgelegt und blicken nicht zurück. In der Ferne wartet nur noch das freie Tibet auf uns.
Was sind die richtigen Mittel, um gegen Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Krieg vorzugehen?
Eine Sache, die ich als Aktivist auf brutale Weise gelernt habe, ist, dass es den sogenannten Weltfrieden nicht gibt, sondern nur gemeinsame Interessen. Sogar Nobelpreise werden aus nationalen und internationalen Interessen vergeben. Als Aktivist muss man die verschiedenen Dynamiken der Machtverhältnisse der Aggressoren mit ihren Partnern und Gegnern verstehen und dort ansetzen, wo es wehtut. Konflikte wie die in der Ukraine und Tibet haben die Meinungen und Positionen der Welt gespalten. Im Falle Tibets ist das globale Mitgefühl auf der Seite des Dalai Lama und Tibets, aber die wirtschaftliche und politische Macht liegt immer noch bei China.
Während die militärische Besetzung in Palästina und in der Ukraine Gewalt hervorgerufen haben und die internationale Gemeinschaft nicht nur Sympathie zeigt, sondern auch militärische Unterstützung leistet, wurde der Steinwurfprotest in den Straßen von Lhasa im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 in Peking von den internationalen Medien als „Gewalt“ bezeichnet und der Dalai Lama unter Druck gesetzt, den tibetischen Aufstand zu stoppen. Beide Fälle haben so viel Mitgefühl und Unterstützung hervorgerufen, dass sie zu globalen Symbolen des Widerstands gegen fremde Besatzung geworden sind. Doch aufgrund der komplexen Matrix könnte jede unerwünschte Eskalation die Konflikte in einen Weltkrieg führen.
Wie empfindest du die Situation in Taiwan in Bezug auf China?
Taiwan beanspruchte früher ganz China für sich, und bis 1971 akzeptierte ein Großteil der Welt diesen Anspruch. Heute ist Taiwan eine neue Welt, ein unabhängiges Land, ohne dies sagen zu müssen. Seine Integrität wird durch subtile Diplomatie aufrechterhalten. Nach 75 Jahren der Trennung ist Taiwan heute nicht mehr chinesisch, sondern zelebriert die multikulturelle Demokratie. Ich war zweimal dort und wünschte mir immer, die Chinesen wären genauso freundlich, höflich und liberal. Die Volksrepublik China mag mehr Waffen und Geld haben, aber ohne Freiheit sind diese Ressourcen eher eine Belastung für ihre Zukunft. Taiwan ist ein glückliches Land, und das ist seine Zukunft.
Was sind die Grenzen des friedlichen Widerstandes? Gibt es Situationen, in denen es gerechtfertigt oder sogar verpflichtend ist, härtere Formen des Protests zu finden?
Es gab eine Zeit in der Geschichte, als Patrioten schworen, „alles“ für die Sache ihres Landes zu tun, und es gibt auch heute noch viele solche mutigen Männer und Frauen in der Welt. Mit der Entwicklung der Zivilisation müssen wir die Menschlichkeit als Kernprinzip über unsere Werte, die auf Kultur oder Glauben basieren, stellen. Für mich bedeutet es, mein ganzes Leben der gewaltfreien Freiheitsbewegung unseres Landes zu widmen, Tag für Tag zu leben und nichts anderes zu tun als zu protestieren und zu schreiben. Das ist meine buddhistische Praxis. Ich bin nicht religiös und glaube nicht an Rituale, aber ein Leben in meinem Land und Mitgefühl sind universelle Werte.
Ein weiterer wichtiger Punkt, den ich hier zum Ausdruck bringen möchte, ist die Überzeugung, dass es im Leben wichtig ist, sein Leben zu leben und nicht aufzugeben. Jeden Tag zu arbeiten, ist bedeutungsvoller, als sein Leben plötzlich zu beenden. Ich glaube, dass kein Argument groß genug ist, um einem anderen das Leben zu nehmen. Deshalb werde ich Terroristen niemals zustimmen, egal wie gerechtfertigt ihre Sache ist. Und noch etwas: Man darf nicht das Leben eines anderen nehmen, um sein eigenes zu leben.
Du hast auch eine künstlerische Seite und schreibst wunderschöne Gedichte. Was ist dein größtes Anliegen beim Schreiben, falls es eines gibt?
Lesen, schreiben, Widerstand leisten. So wird ein Intellektueller aktiv. Aber ich neige oft dazu, mehr auf die Dringlichkeit des Aktivismus zu hören, und ertappe mich oft dabei, dass ich in den nächsten Zug oder Bus springe und direkt in den Aktionsmodus … zum Widerstand wechsle. Kunst – mit all ihren exhibitionistischen Reizen – appelliert immer noch an die Sympathie, die Unterstützung und die Kooperation anderer. Ein Gedicht kann nichts gegen einen Mann mit einer Waffe ausrichten, aber für einen Leser kann Poesie alles verändern. Ich habe ein Mantra für die Poesie formuliert: „Poesie berührt das Herz und verändert den Geist.“ Aber oft kann ich die Inspiration nicht hören, und wenn ich sie zur Kenntnis nehme, haben sich die Worte bereits verflüchtigt und sind in das Meer der Alphabete zurückgekehrt. Ich fürchte, die Fähigkeit zu schreiben zu verlieren und befürchte, dass ich am Ende nur noch einen Stift in der Hand halte, um damit zu unterschreiben.
Wir würden gern eines deiner Gedichte veröffentlichen. Welches würdest du für diese Zeit empfeheln? Erzähle uns bitte etwas über seinen Hintergrund, wann und wie es entstanden ist.
Ich möchte mein Gedicht „Wenn es in Dharamshala regnet“ mit euch teilen. Dieses Gedicht entstand in meinem gemieteten Zimmer während eines heftigen Regengusses, der in meinem Bungalow aus britischer Zeit eine ziemliche Verwüstung anrichtete. Dharamshala zeigt sich in der Regenzeit von seiner besten Seite. Die Menschen kommen nicht wegen des Regens hierher, sondern wegen der Zeit dazwischen, wenn der Regen stoppt und der Himmel klar und blau ist. Von der Höhe des McLeod Ganj-Sporns aus kann man das gesamte Kangra-Tal in feinsten grünen Details sehen.
Man kann sogar das kleine Haus erkennen, das einen Hauch von Rauch in das grüne Feld pustet. Dharamshala hat die zweithöchste Niederschlagsmenge aller indischen Städte. Es beginnt Ende Juni zu regnen und hält im Juli, August und September an. Dieses Gedicht ist meine Hommage an Dharamshala, unseren Durchgangsort, den Ort unseres Kampfes und unserer Hoffnung.
Was würdest du jungen Tibetern – sei es in Tibet oder im Exil – empfehlen?
Unsere einzigartige Kultur und Identität sind der Hauptgrund, warum China es auch nach 75 Jahren Herrschaft nicht geschafft hat, uns zu verändern. Je mehr unsere Existenz bedroht ist, desto stärker treten wir hervor. Die Tibeter waren Krieger, die ein Reich im Herzen Asiens führten und Teile der Mongolei, Chinas und des Himalayas beherrschten, bis der Buddhismus dem Sieg und Erfolg eine neue Bedeutung gab. Seitdem hat unsere Kriegskultur eine neue Praxis angenommen, eine, die gibt und nicht nimmt. Aber im Namen des Buddhismus gibt es viele Missstände.
Junge Tibeter, die stolz auf ihr Erbe sind, müssen lernen, sich vom Aberglauben, von blindem Glauben sowie Stammesdenken und Knechtschaft zu befreien. Es ist nicht schwer, in diese tückischen Gefilde zu geraten. Wie alle anderen Jugendlichen auf der Welt werden auch tibetische Jugendliche belächelt oder als nicht traditionell genug angesehen. Jede neue Generation leistet ihren Beitrag mit neuem Wissen und einer neuen Perspektive, und das muss so bleiben.
Penpa Tsering hat kürzlich mit dem französischen Präsidenten Macron die Situation in Tibet besprochen, bevor Xi Jinping Europa besuchte. Während seines Besuches organisierten Tibeter Proteste in Frankreich und Ungarn. Bist du hoffnungsvoll, dass die internationale Aufmerksamkeit für Tibet wieder zunimmt?
Es war eine gute Entscheidung von Präsident Macron, sich mit unserem Sikyong nur wenige Tage vor seinem Treffen mit Xi Jinping zu treffen. Vielleicht ist dies ein guter Anfang dafür, dass Tibet in den bilateralen und multilateralen Beziehungen der westlichen Länder zu China Bedeutung gewinnt.
Seit Chinas Instrumentalisierung des Handels und der Lieferkettenabhängigkeit haben sich die westlichen Länder vom Regime Xi Jinpings abgekoppelt und das Risiko verringert. In diesem Jahr meldete sich eine Rekordzahl von 126 Ländern, um auf der Tagung des UN-Menschenrechtsrats in Genf bei der allgemeinen Überprüfung Chinas auf dortige Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen.
Wenn China morgen ein Problem mit dem Westen hätte, würde Tibet die größte Rolle spielen, da es ein Viertel der 9,6 Millionen Quadratkilometer Chinas ausmacht und unter den drei anderen von China besetzten Ländern oft als Fackelträger der Revolution gilt.
Vielen Dank, Tenzin, für dieses Interview.
Tenzin Tsundue (geboren 1975) stammt aus einer tibetischen Flüchtlingsfamilie und ist Poet, Schriftsteller und Aktivist. Für sein Werk „My Kind of Exile“ erhielt er 2001 den erstmals vergebenen Outlook-Picador Award für Sachbücher. Insgesamt veröffentlichte er fünf Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Tsundues Schriften sind weltweit in verschiedenen Publikationen erschienen, darunter Pen International und The Times of India. Friedlicher Protest & Schreiben sind sein Leben.
Last modified: 6. September 2024