
Seit den 1960er Jahren haben tausende tibetische Flüchtlinge in der Schweiz eine neue Heimat gefunden. Mit Schulen, Kulturvereinen und politischem Engagement bewahren sie ihre Identität und setzen sich für Tibet ein. Trotz erfolgreicher Integration bleibt ihr größtes Ziel: die Freiheit ihres Heimatlandes.
VON LOBSANG ZATUL
Die kleine Schweiz beheimatet die größte tibetische Gemeinschaft in Europa. Wie kam es dazu, wie haben so viele Tibeter*innen Aufnahme in der Schweiz gefunden?
Als 1959 die Weltöffentlichkeit von den tragischen Ereignissen in Tibet, von Not und Elend der Flüchtlinge in den Auffanglagern Indiens und Nepals vernahm, reagierte sie mit viel Sympathie und humanitären Maßnahmen. Die erschütternden Nachrichten aus Tibet fanden auch in der Schweiz einen starken Widerhall und lösten verschiedene Hilfsaktionen aus. Das Pestalozzidorf für Kinder in Trogen nahm im Herbst 1960 die ersten tibetischen Kinder in der Schweiz auf. Dieser ersten Gruppe folgten in den kommenden Jahren viele weitere. Bis 1968 wurden auf Initiative des Schweizer Unternehmers Dr. Charles Aeschimann 158 tibetische Kinder von Schweizer Familien aufgenommen. Der Schweizer Geologe Dr. Toni Hagen erlebte als IKKR-Delegierter in Nepal die Situation und Nöte der tibetischen Flüchtlinge hautnah mit.
Zurück in der Schweiz, gründete er 1960 mit Privatpersonen den „Verein Tibeter Heimstätten“. Dieser siedelte tibetische Flüchtlinge in Gruppen in der Schweiz an „zur Rettung von Leben und Gesundheit, zur Sicherung der Existenz durch eigenen Broterwerb, zur Bewahrung der tibetischen Kultur, Sprache und Religion und zur Förderung der beruflichen Ausbildung der jungen Generation“. Auf Antrag dieses Vereins bewilligten die Schweizer Behörden die Aufnahme von 1.000 tibetischen Flüchtlingen unter der Bedingung, dass die Betreuung und die finanziellen Mittel gewährleistet seien. Das Schweizerische Rote Kreuz übernahm die administrativen Aufgaben und die Betreuung der Aufgenommenen. So kamen die Tibeter*innen ab 1961 gruppenweise in der Schweiz an. Nachdem 1981 das Kontingent ausgeschöpft war, folgten viele Tibeter*innen im Rahmen von Familiennachzug, durch Heirat oder auf eigene Initiative. Mittlerweile leben über 8.000 Tibeter*innen in der Schweiz.
„Ich bewundere die Generation meiner Eltern dafür, jede widrige Lebensphase mit Gelassenheit und Heiterkeit zu meistern“
Ganz am Anfang war es für uns hier nicht einfach. Alles war neu, besonders für die ältere Generation war es eine große Herausforderung, sich ohne Sprachkenntnisse in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Die meisten Tibeter*innen fanden damals Hilfsarbeit vor allem in der Textil und Maschinenindustrie. Durch ihre bescheidene Art und Zuverlässigkeit waren sie bei den Arbeitgebern sehr beliebt. Ich bewundere die Generation meiner Eltern dafür, jede widrige Lebensphase mit Gelassenheit und Heiterkeit zu meistern
Es dauerte nicht lange, da konnten die meisten Tibeter* innen auf eigenen Beinen stehen. Gleichzeitig wuchs bei ihnen das Bedürfnis, in der Schweiz auch ein religiöses Zentrum zu haben. So wurde im Jahr 1968 unter der Schirmherrschaft Seiner Heiligkeit des 14. Dalai Lama das „Tibet-Institut“ in Rikon gegründet. Rikon nimmt drei Aufgaben wahr: Ihm obliegt die geistliche und seelsorgerische Betreuung der tibetischen Gemeinschaft, das Institut betreibt Wissenschaft in Tibetologie und Buddhismus und dient als lebendiger Ort zur Begegnung zwischen westlicher und fernöstlicher Welt.

Als mehr Kinder zu Jugendlichen heranwuchsen, wuchs auch der Wunsch nach Begegnungen und Gedankenaustausch untereinander. Dieses Bedürfnis führte dazu, dass 1970 der „Verein Tibeter Jugend in Europa“ gegründet wurde. Der VTJE dient als eine Plattform für junge Tibeter*innen aus ganz Europa, um sich untereinander zu vernetzen, auszutauschen und politisch, kulturell sowie sozial zu engagieren. Auf politischer Ebene setzt sich der VTJE für die Verbesserung der Menschenrechtslage in Tibet und für ein freies Tibet ein, darüber hinaus auch für den Erhalt und die Pflege der tibetischen Kultur. Im Jahr 1968 wurde die tibetische Volkstanzgruppe der Schweiz ins Leben gerufen. Bis heute pflegen ehrenamtliche Laiendarsteller*innen ein Repertoire aus Musikstücken, Volkstänzen, Gesängen und Ausschnitten aus der tibetischen Volksoper. Bei offiziellen Anlässen dürfen ihre Darbietungen nicht fehlen.
Um die Beziehung zwischen Schweizern und Tibetern zu fördern, wurde im Jahr 1983 die Gesellschaft für Schweizerisch- Tibetische Freundschaft (GSTF) gegründet. Die GSTF ist heute mit etwa 1.500 Mitgliedern die größte schweizerische Nichtregierungsorganisation, die sich für die gewaltlose Bewegung des tibetischen Volkes und seine buddhistische Kultur einsetzt. Die 1973 gegründete Tibeter Gemeinschaft in der Schweiz und Liechtenstein (TGSL) ist mit rund 7.500 Mitgliedern die größte tibetische Exilgemeinschaft in Europa. Ihre 20 regionalen Sektionen pflegen eigene Schulen, um tibetischen Kindern zusätzlich zum regulären Unterricht die tibetische Sprache, Schrift und Kultur zu vermitteln.
„Unser Kampf für ein freies Tibet geht weiter, so lange unsere Landsleute in Tibet die Freiheit nicht haben, zu sagen, was sie denken, zu praktizieren, was sie glauben, und zu lernen, was ihnen heilig ist.“
Daneben gibt es mittlerweile viele weitere Vereine und Institutionen, die das Leben der Tibeter-Gemeinschaft in der Schweiz bereichern. Viele Tibeter*innen besetzen inzwischen in diversen Branchen auch höhere Positionen oder führen eigene erfolgreiche Unternehmen. 64 Jahre nach der Ankunft der ersten Tibeter*innen in der Schweiz kann man mit Genugtuung behaupten, dass die ursprünglichen Ziele des „Vereins Tibeter Heimstätten“ mehrheitlich erreicht wurden. Aber das ist kein Grund, sich mit der gegenwärtigen Situation zufriedenzugeben. Unser Kampf für ein freies Tibet geht weiter, so lange unsere Landsleute in Tibet die Freiheit nicht haben, zu sagen, was sie denken, zu praktizieren, was sie glauben, und zu lernen, was ihnen heilig ist.
Dass wir Tibeter*innen in schwierigen Zeiten Aufnahme in der Schweiz gefunden haben, ist vor allem dem Engagement von Privatpersonen wie Dr. Toni Hagen zu verdanken. Deswegen möchte ich ihnen im Namen aller Tibeter*innen stellvertretend von Herzen danken.
Last modified: 18. März 2025