
Der Dalai Lama kehrte nach vier Jahren erstmals wieder nach Zürich zurück – live und nicht per Zoom. Sein Besuch war für die anwesenden Tibeter und Unterstützer ein bewegender Moment der Hoffnung und Verbundenheit.
VON CHRISTOF SPITZ
Hoher und leider selten gewordener Besuch in Zürich: Am 25. August veranstaltete die tibetische Gemeinschaft in der Schweiz und Liechtenstein ein Langlebensritual für den Dalai Lama. Nicht per Zoom, Seine Heiligkeit war in Zürich live dabei. Was für ein Erlebnis, den Dalai Lama nach langer Zeit wiederzusehen! Sein letzter Besuch in Zürich war 2019. Viel ist in der Zwischenzeit geschehen: Die Corona-Pandemie verhinderte das Reisen, und mittlerweile ist der Dalai Lama mit seinen 89 Jahren fast nur noch in Indien unterwegs. Die vielen regelmäßigen Auftritte aus seinem Sitz in Dharamsala via Zoom und auf Streaming-Plattformen sind mit einer Präsenz-Veranstaltung nicht zu vergleichen.
Nach Informationen der Tibeter waren 15.000 Zuschauer ins Hallenstadion gekommen, die meisten von ihnen Tibeterinnen und Tibeter. Es hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass ein Event mit dem Dalai Lama geplant sei. Dieser hatte sich in den USA erfolgreich einer Knie-Operation unterzogen und machte einen Zwischenstopp in der Schweiz, bevor er nach Indien weiterflog. Das Interesse an der Veranstaltung war so groß, dass sogar Karten hinter der Bühne angeboten wurden – für Menschen, die dem Dalai Lama einfach nahe sein wollten, auch wenn sie ihn nur über eine Videoleinwand sehen konnten. Viel Zeit hatten die Organisatoren nicht gehabt, dieses Mammutereignis zu organisieren.

Da halfen die tiefe Hingabe, der Enthusiasmus und das Organisationstalent der Tibeter in der Schweiz. Die Bühne war sehr schön dekoriert, im Hintergrund hingen riesige Thangkas des Buddha Shakyamuni, des Avalokiteshvara und der Weißen Tara. Denn es war kein gewöhnlicher Vortrag: Die Unterweisung war eingebettet in ein gekürztes traditionelles Langlebensritual. Eingerahmt wurde das Ritual von Darbietungen der Tashi-Shölpa-Tänzer. Thinley Chukki, die Repräsentantin des Tibet-Büros in Genf, begrüßte den Dalai Lama und erklärte, dass die Tibeter weltweit nach wie vor ihr Bestes gäben, um den Konflikt zwischen China und Tibet nach dem Vorbild Seiner Heiligkeit zu lösen. Sie drückte den Wunsch aller Tibeter aus: „Mögen Sie noch einmal nach Tibet zurückkehren, Ihren Platz auf dem Löwenthron im Potala-Palast einnehmen und von dort aus Belehrungen geben können.
Der Buddhismus ist Teil unseres Lebens
Tibetische Mönche aus der Schweiz vollzogen dann verschiedene Rituale. Sie brachten ein Mandala dar und begannen mit einer Zeremonie, in der um ein langes Leben des Lamas gebeten wird. Das Gebet stammte von den Tutoren des Dalai Lama, Ling Rinpoche und Trijang Rinpoche. Seine Heiligkeit hielt eine circa 20-minütige Rede, die die Essenz seiner Gedanken und Lehren enthielt. Ins Zentrum stellte er das Mitgefühl, das Wirken zum Wohle aller lebenden Wesen. An die Tibeter gerichtet, hob er die große Bedeutung des Buddhismus für die tibetische Kultur hervor: „Wir Tibeter sind von der Lehre des Buddha durchdrungen. Wir haben einen unerschütterlichen Glauben daran, der damit beginnt, dass wir als Kinder den Vers für die Zufluchtnahme und die Kultivierung des altruistischen Strebens nach dem Erwachen rezitieren sowie das Mantra Om mani padme hum des Bodhisattvas des Mitgefühls oder Om a ra pa tsa na dhi des Bodhisattvas der Weisheit.“ Er zeigte sich dankbar, dass auch er schon als Kind die Gelegenheit gehabt habe, die buddhistischen Lehren zu studieren und zu praktizieren. „Seit der Einführung des Buddhismus aus Indien ab dem 7. Jahrhundert in der Zeit der Könige Songtsen Gampo und Trisong Detsen ist der Buddhismus Teil unseres Lebens. Es ist Teil ihres gütigen Vermächtnisses, dass wir heute einen so ausgeprägten Glauben haben.“
Im Laufe der Jahre, gerade auch nach seiner Flucht aus Tibet, habe er festgestellt, dass einige Lehren eine wissenschaftliche Grundlage hätten. „Heutzutage kommen sogar Wissenschaftler zu mir“, so der Dalai Lama, „die sich für die buddhistischen Lehren über Gewaltlosigkeit und Mitgefühl interessieren.“ Früher hätten Menschen außerhalb Tibets nicht viel über den tibetischen Buddhismus gewusst, aber inzwischen hätten sich immer mehr dafür interessiert. Auf besonders starkes Interesse stießen die Erklärungen über die Funktionsweise des Bewusstseins und der Emotionen sowie die Möglichkeiten, positive Eigenschaften in uns zu kultivieren. „Sogar in China sind der Glaube und das Verständnis für den Buddha-Dharma gewachsen“, so der Dalai Lama. Damit hat der Buddhismus als religiöses Erbe Tibets der heutigen Welt einiges zu bieten. Selbst Menschen, die sich nicht als religiös betrachten, könnten im tibetischen Buddhismus Methoden finden, um einige ihrer Probleme zu lösen. Der Dalai Lama spricht von der „emotionalen Krise“, unter der viele Menschen heute leiden. Die Mittel der Geistesschulung könnten auch ohne ein Bekenntnis zum Dharma angewendet werden.

Mitgefühl ist der Kern jeder Spiritualität
Der tibetische Buddhismus braucht Menschen, die ihn studieren, praktizieren und weitergeben, so der Dalai Lama: „Da der Buddhismus ein wichtiger Teil unserer Kultur ist, sollten wir daran arbeiten, ihn lebendig zu erhalten. Wir können dies tun, indem wir die Ethik beachten und ein warmes Herz kultivieren.“ „Weil wir Tibeter Freundlichkeit, Warmherzigkeit und Mitgefühl schätzen, können wir diese Qualitäten auch anderen Menschen gegenüber zeigen. Wir haben wegen der harten Restriktionen, die uns die chinesischen Kommunisten auferlegt haben, große Entbehrungen erfahren. Trotzdem haben unser Glaube und unsere Hingabe an die Lehren des Buddha nicht nachgelassen.“
Für den Dalai Lama ist die Kultivierung eines freundlichen, warmen Herzens die Essenz jeder Spiritualität. Im tibetischen Buddhismus wird diese Praxis als altruistisches Streben nach dem Erwachen geübt: Dies beinhaltet die mitfühlende Absicht, allen fühlenden Wesen Glück zu bringen und dazu eigene Potenziale zu nutzen und zu entwickeln. Wer diese Geisteshaltung in sich trägt und täglich übt, so der Dalai Lama, könne nicht nur die Ziele der anderen, sondern auch seine eigenen erfüllen.
Negative Gedanken wie Ärger und Stolz würden von allein schwinden, der ersehnte innere Frieden kehrte ein. Ergänzt wird das Mitgefühl von der Erkenntnis, dass alle inneren und äußeren Phänomene und Ereignisse nur in Abhängigkeit von vielfältigen Ursachen, Umständen und begrifflichen Zuschreibungen existieren. Aufgrund ihrer Bedingtheit sind sie leer von einer unabhängigen Eigenexistenz.
Es seien diese beiden Säulen der buddhistischen Geistesschulung, die er in seinem Leben von jungen Jahren an täglich kultiviere, so Seine Heiligkeit. Am Ende leitete er eine kurze Zeremonie zur Kultivierung des mitfühlenden Strebens nach dem Erwachen an. Er mahnte uns: Wir haben dieses kostbare menschliche Leben gefunden, und um es sinnvoll zu gestalten, sollten wir Güte und ein gutes Herz entwickeln. Viele der Anwesenden hätten Vertrauen in ihn, so der Dalai Lama. Aber der Grund sei nicht in seiner Person zu suchen, sondern in dieser kostbaren Geisteshaltung, die er in sich selbst täglich kultiviere. Die Zeremonie endete mit der Rezitation des „Gebets der Worte der Wahrheit“, das Seine Heiligkeit 1960 verfasst hat und in dem der tiefe, ungebrochene Wunsch der Tibeter zum Ausdruck kommt, dass sie mit dem Segen ihrer Schutzgottheit Avalokiteshvara, dem Buddha des Mitgefühls, bald wieder in Freiheit vereint im Schneeland leben werden.
Last modified: 12. Mai 2025