
Im Juli 2024 gab die Jigme Gyaltsen Ethnic Vocational High School in Ragya ihre Schließung bekannt. Eine der besten tibetischsprachigen Bildungseinrichtung in Tibet musste aufgrund politischen Drucks schließen. Ginger Duan arbeitete als IT-Ingenieurin an der Schule und berichtet über ihren Blick auf die Schließung.
VON GINGER DUAN
Jigme Gyaltsen, ein Mönch aus Golog, gründete 1994 die Ragya-Schule und war bis zum Ende ihr Schulleiter. Es war die erste private Wohlfahrtsschule in der Provinz Qinghai und eine bahnbrechende Bildungsreform in den tibetischen Gebieten zu jener Zeit. Die Schule in der Stadt Ragya am Gelben Fluss in der Präfektur Golog wurde als „Harvard des tibetischen Volkes“ bezeichnet.
Ihre erzwungene Schließung ist von großer Bedeutung für die gesamte tibetische Region. Die traditionelle tibetische Gesellschaft stützte sich in erster Linie auf die klösterliche Bildung. Für Männer wie Frauen war oft der einzige Weg, eine Ausbildung zu erhalten, Mönch oder Nonne in einem Kloster zu werden. Klöster verfügten über ein umfassendes Bildungssystem, das mit modernen Grund- und weiterführenden Schulen vergleichbar war, mit verschiedenen Abschlüssen und Zertifikaten. Zusätzlich fungierten in Tibet die Klöster auch als Wohlfahrtsorganisationen, Banken, Krankenhäuser und akademische Einrichtungen. Jigme Gyaltsen erhielt seine Ausbildung in dem vom Panchen Lama gegründeten Advanced Buddhist Institute in Peking, bevor er beschloss, in seine Heimatstadt zurückzukehren. Zu dieser Zeit war Amdo unterentwickelt, und es fehlte an Bildungsressourcen. Mönche waren mit modernen Kenntnissen wie Jura, Mandarin oder Informatik nicht vertraut und hatten keinen Ort, um sie zu lernen.
Gleichzeitig hatten tibetische Kinder aus Nomadenfamilien aufgrund ihres traditionellen Hirtenlebens nur begrenzten Zugang zu Bildung. Um die moderne Bildung in Tibet zu fördern, kombinierte der Schulleiter das traditionelle klösterliche Bildungssystem mit einem modernen Schulsystem – ein einzigartiges integriertes Modell – das sowohl Mönche als auch Laienschüler jeden Alters aufnahm. Da Hirtenfamilien in tibetischen Gebieten nicht dem gleichen akademischen oder beruflichen Druck ausgesetzt waren wie in Festlandchina, war es üblich, dass junge Teenager neben älteren Schafhirten im selben Klassenzimmer lernten. In der Ragya-Schule gab es keine Einschränkungen in Bezug auf Alter, Religionszugehörigkeit oder Konfession. Selbst Schüler, die bei der Aufnahme völlig ungebildet waren, wurden gleichbehandelt und je nach ihrem Stand der tibetischen Alphabetisierung den Klassen zugeordnet.
„Die Schule bot auch außerschulische Aktivitäten an: dreisprachige Debatten auf Tibetisch-Chinesisch-Englisch, komödiantische Sketche, historische Quizspiele und Naturwissenschaften“
Als Wohlfahrtsschule hielt sich die Ragya-Schule an den Grundsatz „Bildung für alle ohne Diskriminierung“. Jedes Jahr nahm die Schule etwa 200 Schüler auf; Vorrang hatten Waisenkinder, Schulabbrecher, ältere Jugendliche und junge Mönche aus armen ländlichen und nomadischen Familien. Auch Schüler von anderen ethnischen Gruppen sowie Tulkus aus verschiedenen Regionen wurden aufgenommen. In der Schule lebten mehr als 1.000 Schüler im Alter von 6 bis 42 Jahren, von denen etwa ein Drittel Mönche waren. Sie kamen aus Bauern- und Hirtenregionen in Qinghai, der TAR, Sichuan, Gansu, der Inneren Mongolei und darüber hinaus. Nach ihrer Aufnahme erhielten die Schüler kostenlos Unterricht, Verpflegung und Unterkunft.
Der Lehrplan der Schule basierte auf den traditionellen tibetischen „Zehn Wissenschaften“ und bezog moderne wissenschaftliche Erkenntnisse mit ein. Die Schule umfasste eine Sekundarstufe 1 und eine Sekundarstufe 2. In der Sekundarstufe 1 wurden Grundkurse wie Tibetisch, Mandarin und Mathematik angeboten, während sich die Sekundarstufe 2 zu einer berufsbildenden Schule mit sieben auf die tibetische Kultur zugeschnittenen Studienrichtungen entwickelte: tibetische Medizin, fortgeschrittene tibetische Studien, Computeranwendungen, Tourismus, Englisch, Kunst und Handwerk (Thangka-Malerei), Filmproduktion und Bergführertum. Die meisten dieser Programme wurden als schulbasierte Lehrpläne mit vorhandenen Lehrbüchern entwickelt.
Schwieriger Start
Die Gründung der Schule war sehr schwierig, da es in vielerlei Hinsicht an Ressourcen mangelte. Der Schulleiter war weder ein Rinpoche noch ein angesehener, berühmter Mönch und besaß nur 3.000 Yuan. Er musste viel reisen, suchte jegliche Mittel und Menschen, die sein Vorhaben fördern würden. Schließlich gewann er die Unterstützung von Rinpoches verschiedener Klöster und des damaligen Gouverneurs der Präfektur Golog, dann konnte er ein Grundstück erwerben und die Genehmigung der Regierung zur Eröffnung der Schule erhalten. Die ersten Schüler und Lehrer lebten im Kloster Ragya. Mithilfe von Dorfbewohnern und Mönchen bauten sie die ersten Schulgebäude und ebneten den Boden für einen Sportplatz. Schulleiter Jigme Gyaltsen war Pädagoge und Unternehmer. Die Schule wurde anfangs durch die von ihm gegründete Molkerei „Snowland Treasures“ finanziert.
Die Molkerei-Technik hatten Jigme Gyaltsen und seine Mitstreiter von zwei Europäern erlernt, und die Milchprodukte wurden zunächst nach Übersee exportiert. Die Molkerei sorgte für Einkommen der Hirten sowie für Gewinne, mit denen die Schule den Schülern kostenlos Unterricht und Unterkunft bieten und die Gehälter der Mitarbeiter zahlen konnte. Später gab es jedoch Probleme beim Export der Molkereiprodukte, sodass sie nicht mehr im Ausland verkauft werden konnten und der Inlandsmarkt einzige Option blieb. Mit der Zeit nahm die Effizienz der Fabrik ab, der Schulleiter musste andere Finanzierungsquellen suchen.
Angesichts des Einflusses der Ragya-Schule und des guten Rufes des Schulleiters war die Mittelbeschaffung zu dieser Zeit nicht schwierig. Verschiedene soziale Einrichtungen und lokale Regierungen waren bestrebt, der Schule Mittel zur Verfügung zu stellen. Auch von Organisationen aus China und dem Ausland kam Unterstützung, und die Regierung gewährte armen Schülern Zuschüsse zu den Lebenshaltungskosten.
Ganzheitliche Erziehung
Die Ragya-Schule war eine reine Jungenschule. Der Schulleiter gab der Schule den Namen „Gang Jong Sherig Norbu Lobling Institution“, was so viel bedeutet wie „Snowland Institute of Wisdom“. Der Campus lag in den „Grasslands“, einem Steppengebiet auf einer Höhe von fast 4.000 Metern am Oberlauf des Gelben Flusses, wo Kaninchen, Murmeltiere und Herden grasender Yaks und Schafe frei herumliefen. Oft saßen die Schüler verstreut in Gruppen zusammen und rezitierten die wichtigsten Punkte des täglichen Unterrichts. Außerdem führten sie, egal, ob Laien oder Mönche, täglich Einzel- oder Gruppendiskussionen. Daneben bot die Schule verschiedene außerschulische Aktivitäten an. Dazu gehörten dreisprachige Debatten auf Tibetisch-Chinesisch-Englisch, komödiantische Sketche, historische Quizspiele und Naturwissenschaften. Fast alle diese Aktivitäten wurden von den Schülern selbst organisiert, wobei die älteren Schüler ihre Erfahrungen an die jüngeren weitergaben.

Viele Lehrer der Schule waren Intellektuelle mit mehrsprachiger Kompetenz und unterschiedlichem akademischen Hintergrund. Im Philosophieunterricht unterrichteten sie alles vom tibetischen Philosophen Pandita bis hin zu Hegel und Nietzsche. Im Astronomieunterricht diskutierten sie über Sternenbeobachtung und berechneten das Losar- und das Shoton-Fest nach dem tibetischen Kalender. Im Englischunterricht rezitierte ein in Indien geborener Lehrer fließend englische Gedichte und brachte den Schülern bei, sich in Alltagsenglisch zu unterhalten.
Im Computerunterricht lernten die Schüler, tibetische Eingabemethoden zu installieren und beschädigte Dateien mit verstümmelten Zeichen in tibetischen Text umzuwandeln. Sie übten das Erstellen von Diashows und das Entwerfen von Zeitschriftenlayouts, als ob sie sich ständig darauf vorbereiten würden, ihre Fähigkeiten in der realen Welt anzuwenden. Auch lernten sie, wie sie Drohnen und ähnliche technische Hilfsmittel einsetzen könnten, um sie vielleicht zum Viehhüten zu benutzen. Meiner Meinung nach verkörperte die Schule die Grundsätze einer ganzheitlichen Bildung mit dem Ziel, die Schüler zu vielseitigen Intellektuellen auszubilden, die ihre Muttersprache und Kultur beherrschen.
Jeder Absolvent fertigte ein oder zwei Abschlussprojekte an, darunter Gemeindechroniken, Familiengenealogien, Klostergeschichten und kreative Arbeiten wie Gemälde, Gedichtsammlungen, wissenschaftliche Abhandlungen, Musikvideos, Dokumentar- oder Kurzfilme. Diese Projekte haben zu einer namhaften Sammlung unabhängiger Veröffentlichungen und Filme geführt.
Mädchenschule
In den tibetischen Gebieten hatten Frauen traditionell nur sehr begrenzten Zugang zu Bildung. Um dies zu ändern, beantragte der Schulleiter 1997 bei den örtlichen Bildungsbehörden die Einrichtung einer Mädchenschule. Nachdem er über verschiedene Kanäle Gelder beschafft hatte, gründete er 2005 am Fuße des heiligen Ragya-Berges die Grassland Girls‘ School.
„Logische Debatten verbessern nicht nur das logische Denken und die Kommunikationsfähigkeit, sondern auch die Entwicklung der Intelligenz, die Stärkung des Gedächtnisses und dient zur Vertiefung des kritischen Denkens bei Jugendlichen“.
Dies war die erste Mädchenschule in Tibet, und ihre Schülerinnen waren Kinder von Nomadenfamilien aus der ganzen Region. Der Schulleiter war der Ansicht, dass eine Mädchenschule den Schülerinnen ermöglichen würde, eigene Aktivitäten zu organisieren und sie dabei nicht von den Jungen gestört würden. Wie die Jungen- bot auch die Mädchenschule viele Aktivitäten an, darunter tägliche Einzeldebatten auf der Grundlage des Lehrplans. Der Schulleiter war der Ansicht, dass „logische Debatten nicht nur das logische Denken und die Kommunikationsfähigkeit verbessern, sondern auch zur Entwicklung der Intelligenz, zur Stärkung des Gedächtnisses und zur Vertiefung des kritischen Denkens bei Jugendlichen beitragen“. Geschickt integrierte er traditionelle klösterliche Logikdebatten in den modernen Unterricht und nutzte ihre Methoden, um modernes Wissen zu erforschen.
Legendäres Dasein
Ich fragte einmal eine han-chinesische Lehrerin, die seit vielen Jahren an der Ragya-Schule unterrichtete, wie sich diese Schule von den Schulen im Landesinneren unterschied, an denen sie zuvor gearbeitet hatte. Sie antwortete, die Schüler hätten einen enormen Wissensdurst und eine viel engere Lehrer-Schüler-Beziehung. Sie benutzte den Ausdruck „Respekt vor den Lehrern und Wertschätzung der Regeln“ – etwas, das ich in Büchern über die Vergangenheit gelesen, aber in der realen Welt noch nicht erlebt hatte.

Jedes Jahr zur Abschlussfeier schlugen die Schüler ihre Zelte auf den Wiesen auf, veranstalteten Filmvorführungen, machten Picknicks, spielten Spiele und feierten. Nach dem Schulabschluss nahmen einige Schüler ein Studium auf, andere kehrten in ihre Klöster zurück, um ihre spirituelle Praxis fortzusetzen. Viele Lehrer waren ehemalige Schüler. Inspiriert von der Bildungsphilosophie der Schule, kehrten sie zurück, um zu unterrichten, obwohl sie nur ein bescheidenes Gehalt erhielten und die harten Hochlandbedingungen ertragen mussten.
„In ihren 30 Jahren hat die Ragya-Schule viele Schüler hervorgebracht, die nicht nur in modernen Fächern gut ausgebildet sind, sondern auch die tibetische Sprache beherrschen und tiefe kulturelle Wurzeln haben“
Einige Absolventen kehrten in ihre Heimatstädte zurück, um dort Schulen zu finanzieren und so die Saat der tibetischen Bildung auf dem tibetischen Plateau zu verbreiten. In ihren 30 Jahren hat die Ragya-Schule viele Schüler hervorgebracht, die nicht nur in modernen Fächern gut ausgebildet sind, sondern auch die tibetische Sprache beherrschen und tiefe kulturelle Wurzeln haben. Diese Schüler sind Intellektuelle, Pädagogen, Künstler, Schriftsteller, Beamte und Unternehmer geworden und haben in ihren Fachgebieten auf dem gesamten tibetischen Plateau bedeutende Beiträge geleistet.
Anpassungsfähiger Widerstand
Die Lehrer der Schule waren mit der Überlebensstrategie der Nichtkonfrontation gut vertraut. In Regionen, die seit langem einer mehrfachen Zensur und strenger Regulierung unterworfen waren, insbesondere in Bereichen, die ethnische Angelegenheiten und religiöse Aktivitäten betrafen, schienen alle an der Schule die Realität des Lebens unter einer strengen Herrschaft akzeptiert zu haben. Folglich hegten sie keine Feindseligkeit gegenüber politischer Propaganda; stattdessen waren sie sogar bereit, sie im Austausch für ein gewisses Maß an Freiheit in verdeckten, unbemerkten Lebensbereichen zu akzeptieren.
So hingen zum Beispiel während meiner Zeit an der Schule an der Vorderseite jedes Klassenzimmers die chinesische Nationalflagge und die Porträts der Führer der Zentralregierung, von Mao Zedong bis Xi Jinping. Niemand diskutierte tatsächlich über diese Führer, aber die Präsenz ihrer Bilder diente als Schutzschicht für die Schule. Viele Dinge in der Schule folgten dieser Logik: Vermeide unnötigen Widerstand und füge dich so weit wie möglich, wenn es machbar ist. Die meisten Lehrer, mit denen ich zu tun hatte, sprachen gut Chinesisch. Einige waren nicht dagegen zu sagen, sie seien Chinesen.

Sie glaubten sogar, sie könnten gleichzeitig Chinesen, Tibeter, Mitglieder der Kommunistischen Partei und Buddhisten sein. Manchmal, wenn ich mit diesen Lehrern über die Krise im tibetischsprachigen Unterricht sprach, argumentierten sie überzeugt: „Wir sind Teil der 56 ethnischen Gruppen. Wir sind Chinesen. Die tibetische Sprache, die wir sprechen, ist auch chinesisch. Da China ein multiethnisches Land ist, warum sollte es uns nicht erlaubt sein, unsere Muttersprache zu benutzen?“
Spätere Schwierigkeiten
In den späteren Jahren sah sich die Schule mit großen Herausforderungen konfrontiert. Die Überweisung von Spenden auf die Schulkonten wurde aufgrund zunehmend restriktiverer staatlicher Vorschriften und Richtlinien immer schwieriger. Gelder aus dem Ausland wurden nicht mehr zugelassen, und selbst auf inländische Gelder konnte nicht zugegriffen werden. Allmählich geriet die Schule in finanzielle Schwierigkeiten. Vor ihrer Schließung wurde berichtet, dass sie drei Jahre lang keine regelmäßigen Gehälter gezahlt hatte. Die Gehälter der Lehrer waren nie hoch, aber bei den finanziellen Problemen hörte die Schule ganz auf, den Mönchslehrern Gehälter zu zahlen. Da Mönche keine Familien haben, brauchte die Schule nur für ihre Verpflegung und Unterkunft zu sorgen. Für Laienlehrer jedoch, die Familien zu versorgen hatten, war es viel schwieriger. Viele hatten keine andere Wahl, als die Schule zu verlassen. Hinzu kamen Einschränkungen durch das Bildungsbüro. Es verbot der Schule, Schüler von außerhalb der Provinz Qinghai aufzunehmen, trotz ihrer langen Tradition, Schüler aus ganz Tibet zuzulassen.
„Einige waren nicht dagegen zu sagen, sie seien Chinesen. Sie glaubten sogar, sie könnten gleichzeitig Chinesen, Tibeter, Mitglieder der Kommunistischen Partei und Buddhisten sein.“
Die Behörden behaupteten, dass dies gegen die Vorschriften verstoße, und stellten die offizielle Registrierung der Schüler von außerhalb Qinghais ein. Dennoch kamen einige Schüler, nun nicht mehr registriert, weiterhin zur Schule. Es war einfach ihr Wunsch, traditionelles Wissen zu erlernen und ihre ethnische Kultur zu bewahren.
Die drohende Schließung
Der Druck, die Schule zu schließen, war immer vorhanden. „Die Regierung will nicht mehr, dass private Schulen die tibetische Sprache und Kultur unterrichten. Alle Schulen müssen staatlich werden“, hörte ich oft die Lehrer der Ragya- Schule sagen. Im Zuge des Politikwechsels der Regierung wurden ab 2018 in den Privatschulen alle Fächer auf Mandarin umgestellt. In der TAR begannen die lokalen Regierungen ab dieser Zeit, die ethnische Bildung zu unterdrücken, schlossen nach und nach Privatschulen, in denen auf Tibetisch unterrichtet wurde, und zwangen die Schüler, staatliche Schulen zu besuchen. Im Jahr 2020 führte die chinesische Regierung den Mandarin-Unterricht in der Inneren Mongolei ein und löste damit fast alle mongolischsprachigen Schulen auf. Etwa zur gleichen Zeit schlossen auch Schulen, die Koreanisch und Uigurisch unterrichteten, eine nach der anderen.
Einige Tibeter versuchten, privat Tibetisch zu unterrichten, z. B. in Klöstern oder abgelegenen Grundschulen. Viele Eltern schickten ihre Kinder in den Winter- und Sommerferien zu diesen von den Gemeinden organisierten Kursen. Doch bald führte die „Schulkonsolidierungskampagne“ der Regierung zur Zwangsschließung vieler Dorfschulen. 2021 begann die Regierung, Schülern die Teilnahme an informellen Tibetisch-Kursen während der Schulferien ganz zu verbieten, und ab Sommer 2021 schlossen die lokalen Behörden in Qinghai eine Reihe von Privatschulen. Viele Kinder mussten fortan weite Strecken zur Schule zurücklegen, sodass der Vorstoß der Regierung für Internatsschulen unausweichlich schien.
„Um die eigene Kultur zu bewahren, hielt die Ragya-Schule 30 Jahre lang an der tibetischen Sprache fest und stützte sich auf unabhängig entwickelte Lehrpläne“
Drei Jahrzehnte lang hielt die Ragya-Schule an der tibetischen Sprache als Unterrichtsmedium fest und stützte sich auf unabhängig entwickelte Lehrpläne, um die eigene Kultur zu bewahren. In der Vergangenheit unterrichteten auch öffentliche Schulen in Tibet andere Fächer als tibetische Sprache auf Tibetisch. Heute gibt es in staatlichen Schulen in Tibet einen standardisierten Lehrplan, der ausschließlich in Mandarin unterrichtet wird. Tibetisch wird wie Englisch nur noch als Zweitsprache unterrichtet.
In der Ragya-Schule war die Muttersprache fast aller Lehrer und Schüler nicht Mandarin, und alle betonten ihr Engagement für die Bewahrung der traditionellen ethnischen Kultur. Aber was genau ist traditionelle ethnische Kultur? Einige meinten, es seien der Buddhismus, die tibetische Literatur, die tibetische Sprache, die Folklore und die Geschichte. Meiner Meinung nach ging die kulturelle Gewichtung an der Ragya Schule über die bloße Kenntnis der tibetischen Geschichte und Kultur hinaus. Es ging vielmehr darum, die Qualitäten eines traditionellen tibetischen Intellektuellen zu verkörpern: logisches und flexibles Denken, kulturelles Selbstvertrauen, das in der tibetischen Subjektivität verwurzelt ist, und eine weitreichende Perspektive.
Die Gerüchte über die Schließung der Schule kursierten bereits Monate vor der Schließung. Die Lehrer begannen darüber zu diskutieren, hielten es aber vor den Schülern geheim. Bei der geringsten Andeutung von Problemen verbrannten sie Weihrauch, konsultierten Orakel und sprachen Gebete in der Hoffnung, dass der bittere Kelch an der Schule vorübergehen würde.
Die letzte Unterrichtsstunde

Die Absolventen erfuhren von der Schließung der Schule während ihrer Abschlussfeier. Sie hörten den ermutigenden Worten ihrer Lehrer für ihre Zukunft zu, beugten ihre Köpfe und wischten sich die Tränen ab. Für die Erst- und Zweitklässler wird es an der Ragya-Schule keine Abschlussfeier mehr geben. Ihnen wurde am Ende gesagt: „Heute macht auch ihr euren Abschluss.“ Bei früheren Abschlussfeiern verließen die Schüler die Schule mit Khatas in der Hand und banden sie als Geste der Dankbarkeit und des Segens für ihre Alma Mater an das Schultor. Diesmal jedoch weinten die Schüler unkontrolliert und benutzten ihre Mönchskleidung, um sich die Tränen abzuwischen. Worte konnten die Gefühle in ihren Herzen nicht ausdrücken. Sie banden die Khatas an das Schultor und drückten damit ihren höchsten Respekt und ihren tiefsten Widerwillen aus, sich zu trennen.
„Die Seele unseres tibetischen Volkes ist weg.“
In einem Video sah ich einen Mönchslehrer auf der Bühne stehen. Unten knieten die Schüler mit ihren grünen Schärpen vor ihm, neigten sich und schluchzten. Auf WeChat standen unter dem Video der weinenden Schüler alle Kommentare auf Chinesisch, gefüllt mit Bedauern, Flehen, Trauer und langen Reihen von weinenden Emojis. Es gab nicht einen einzigen Kommentar auf Tibetisch. Auf Tibetisch konnte das einfach nicht gepostet werden. Jetzt hatten sie nicht einmal mehr das Recht, ihren Kummer in ihrer Muttersprache auszudrücken.
Die Bezirksbeamten begannen, Videos von weinenden Schülern zu sperren. Abgesehen von einigen vereinzelten auf WeChat wurden auf Plattformen wie Xiaohongshu und Weibo keine Inhalte mehr angezeigt, die mit der Ragya-Schule in Verbindung standen. Mönche, die öffentliche Artikel teilten, wurden auf die Polizeiwache vorgeladen und verhört. Einige wurden sogar gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, in der sie versprachen, keine Aussagen zu machen, die der „nationalen Politik“ widersprechen. In der Mitteilung des Schulleiters hieß es, dass sowohl die Schüler als auch die Lehrer nach der Schließung der Schule an eine öffentliche Berufsschule in der Hauptstadt der Präfektur Golog wechseln könnten. Allerdings waren nur sehr wenige Schüler dazu bereit. Sie wohnten zu weit entfernt und konnten andere staatliche Schulen vor Ort besuchen.
„Auf Plattformen wie Weibo wurden Videos der Abschlussfeier mit weinenden Schülern von chinesischen Beamten gelöscht.“
Die Leute in Ragya erzählten mir, dass sie nächtelang über die Schule sprachen. Ihre Kommentare: Ragya hat nichts außer dieser Schule. Die Seele unseres tibetischen Volkes ist weg. Ganz Ragya weint, ganz Golog weint, ganz Tibet weint. Vor zehn Jahren hätten wir Tibeter uns aufgelehnt, jetzt können wir nicht einmal laut weinen, weil wir Angst haben, dass andere uns hören.
Viele Menschen suchten den Schulleiter auf, brachen bei ihm in Tränen aus und konnten kein Wort mehr sagen. Viele andere riefen ihn an und weinten still, sobald die Verbindung hergestellt war. Ohne die Möglichkeit, ihre Wut in ihrer Muttersprache zu äußern, bleibt den Tibetern nichts anderes übrig als Tränen der Trauer.
Erstaunt hat uns die Gelassenheit des Schulleiters. Er postete auf seinen sozialen Medien: „Unbeständige Dinge sind niemals ewig. Die Welt verändert sich ständig und folgt dem unvermeidlichen Gesetz der Unbeständigkeit. Wir glauben die Wiedergeburt, und Bildung über die Lebenszeiten hinaus ist das, was wirklich zählt. Warum sollte man nicht für Bildung im nächsten Leben beten? Wenn der Tod unumkehrbar ist, was nützt dann das Weinen? Deshalb ist es besser, für einen perfekten Körper im nächsten Leben zu beten. Bitte übernehmt Verantwortung für eure Zukunft.”
„Vor zehn Jahren hätten wir Tibeter uns aufgelehnt, jetzt können wir nicht einmal laut weinen.“
Am 18. Juni 2024, nur einen Monat vor der Schließung der Ragya-Schule, besuchte Xi Jinping die Schule Golog Xining Ethnic School in Xining, Provinz Qinghai, und betonte die Notwendigkeit, ein „Gefühl der gemeinsamen Identität innerhalb der chinesischen Nation“ zu fördern. Es handelt sich um eine öffentliche Ganztagsschule mit Internat, die mit Hilfe von Shanghai errichtet wurde.
Ihre Schüler sind hauptsächlich Kinder von Nomadenfamilien aus der Präfektur Golog. Die Schule befindet sich in Xining, der Provinzhauptstadt von Qinghai, neun Stunden Fahrt von der Präfektur Golog entfernt. Die meisten Schüler sind weit weg von ihrem Zuhause und ihren Eltern und erhalten einen standardisierten Unterricht, der ausschließlich in Mandarin erteilt wird. Obwohl die meisten Schüler an dieser Schule Tibeter sind, wird im Lehrplan der Mittel- und Oberstufe kein einziger tibetischer Sprachkurs angeboten.
Jüngste Untersuchungen schätzen, dass etwa eine Million tibetische Kinder im Alter von 4 bis 18 Jahren gewaltsam von ihren Familien getrennt wurden, um in Internatsschulen zu leben und bestenfalls einmal pro Woche nach Hause zurückzukehren. Diese Schulen erzwingen die Assimilierung durch obligatorischen Mandarin-Unterricht.
Last modified: 29. April 2025