
Liu Dejun setzte sich für Menschenrechte in China ein, bevor er fliehen musste. Er wurde in China von der Polizei gefoltert – und auch in Deutschland fühlt er sich von der Kommunistischen Partei bedroht.
VON DAVID MISSAL
Brennpunkt Tibet: Vor etwa acht Jahren bist Du aus China nach Deutschland gekommen. Was ist der größte Unterschied zwischen den beiden Ländern?
Liu Dejun: Der größte Unterschied ist die Freiheit. In China gibt es keine Freiheit. Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeiten sind an der Tagesordnung, Presse- und Meinungsfreiheit sind massiv eingeschränkt, im Internet oder gegenüber Medien darf man sich nicht über Menschenrechtsverletzungen äußern. In Deutschland darf man alles sagen.
Wie kamst Du dazu, Dich in China mit Menschenrechten zu beschäftigen?
Ich wusste schon sehr früh Bescheid über die Menschenrechtsverbrechen der Kommunistischen Partei (KPCh). Meine Familie gehörte unter Mao zum sogenannten „Klassenfeind“: Meine Verwandten väterlicherseits waren Großgrundbesitzer, die Familie meiner Mutter galt als reiche Bauern. Sie wurden verfolgt. Der Vater meiner Mutter ist vor Hunger gestorben, als er für die Partei Zugtrassen baute. Mein Einsatz für Menschenrechte in China begann um die Jahrtausendwende. Ich habe unter anderem in Guangdong in einer Fabrik gearbeitet. Der Inhaber war ein Taiwanese und sehr brutal. Sie kümmerten sich nicht um Menschen- und Arbeitsrechte. Die Arbeiter mussten viele Überstunden machen. Die Leute schliefen vor Müdigkeit ein und verloren Finger oder Teile ihrer Füße in den Maschinen. Ich habe die Arbeiter über ihre Rechte informiert – nach einigen Monaten wurde ich deshalb gekündigt. Danach habe ich Petenten geholfen, die sich über das Verhalten von lokalen Regierungen oder Behörden beschwert hatten. Ich habe ihre Fälle veröffentlicht und Kontakt zu Medien und Anwälten hergestellt.
Wegen Deiner Aktivitäten wurdest Du auch mehrfach festgenommen. Wann war das das erste Mal?
2005 wurde ich das erste Mal verhaftet. Damals ging es um eine ungerechtfertigte Grundstücksenteignung in einem Dorf. Die Menschen haben demonstriert, und manche Vertreter sind auch nach Peking gegangen, um dort eine Petition einzureichen. Ich habe alles dokumentiert und wurde dann von der Staatssicherheit kontaktiert. Normalerweise passierten Festnahmen, wenn ich an Demonstrationen teilgenommen hatte. Ich habe Fotos gemacht und Videos gedreht und die Leute aufgerufen, an den Demos teilzunehmen. Dann haben sie mich oft verhaftet. Manchmal wurde ich nur für ein paar Stunden festgenommen, manchmal mehrere Wochen. Oft haben sie uns auf den Kopf geschlagen. Ich glaube, sie wollten unser Gehirn kaputt machen und uns einschüchtern.
Was war Deine schlimmste Erfahrung mit der Staatssicherheit?
Das war nach der Jasmin-Revolution im Nahen Osten – im Jahr 2011. Wir wollten auch in China eine solche Revolution starten. Im Internet hatten wir dazu aufgerufen. Aber die Partei hatte davon Wind bekommen und mehr als 300 Aktivisten verhaftet – auch mich. Die Partei hatte Angst. Sie haben mich im Westbahnhof von Peking festgenommen und in die Gebirge in der Nähe von Peking verschleppt. Andere Aktivisten und ich wurden separat in verschiedene Räume gebracht. Es gab keine Fenster, alles war mit Schaumstoff abgedeckt. Essen erhielten wir kaum, nur Mittag- und Abendessen, jeweils ein oder zwei kleine chinesische Mehlklöße ohne Füllung oder Beilage. Wir wussten nicht, wann Tag und wann Nacht war, vergaßen die Zeit. Uns wurde die Kleidung ausgezogen – und das mitten im Winter. Es gab keine Betten, wir durften nur sechs Stunden schlafen. Manchmal wurde ich mitten in der Nacht getreten und bin aufgewacht. Dann wurde ich verhört.
Die chinesische Staatssicherheit hat mich im Gefängnis gefoltert, um ein Geständnis zu erzwingen. Ich wurde mit einem Elektroschocker bearbeitet. Bis heute habe ich oft Tinnitus.
Wie liefen die Verhöre ab?
Sie haben mich gefoltert, um ein Geständnis zu erzwingen: Die Staatssicherheit hat mich mit einem Elektroschocker bearbeitet. An Gesicht, Hals, Nacken und Schultern. Meine Haut verbrannte und ist schwarz geworden. Ich habe immer Kung-Fu gemacht und reagierte nicht so stark. Deshalb haben sie meine Ohren von innen geschockt. Es fühlte sich an, als ob tausend Millionen heiße Nadeln mein Gehirn durchstachen. Als ich laut schrie, haben sie aufgehört. Nach 50 Tagen Elektroshocks hatte ich viele Narben auf meinem Körper. Bis heute habe ich oft Ohrenschmerzen und Tinnitus. Später wurde ich in ein Untersuchungsgefängnis in Peking verlegt. Auf dem Weg dorthin steckte man meinen Kopf in eine blickdichte schwarze Tüte, und ich bekam kaum Luft. In dem Pekinger Gefängnis verbrachte ich 12 Tage und wurde danach in ein sogenanntes Untersuchungsgefängnis in Wuhan in meiner Heimatprovinz Hubei gebracht. Auf Druck von internationalen Organisationen wurde ich einige Wochen später freigelassen. Mein Vater musste aber unterschreiben, dass er ins Gefängnis gehen würde, falls ich weiter Aktivismus betreiben würde. Die Polizei brachte mich in mein Elternhaus und verbot mir, das Dorf zu verlassen.
Hast Du Dich daran gehalten?
Nein. Ich bin mit dem Auto eines Freundes nach Peking gefahren und nicht mit dem Zug. Damit die Staatssicherheit nichts davon mitbekommt. Ich war für ein paar Monate in Peking: Dort habe ich wieder einer Petentin geholfen. Sie wurde von Verbrechern, die von einer Lokalregierung beauftragt worden waren, entführt und vergewaltigt. Sie haben Nacktfotos von ihr gemacht und gedroht, ihre Fotos zu veröffentlichen, wenn sie weiter für ihre Rechte kämpft. Ich habe ihr geholfen, einen Menschenrechtsanwalt zu finden.
Zwei Jahre später bist Du nach Europa geflüchtet. Wie kam es dazu?
Bereits vor der Jasmin-Revolution hatte mir Amnesty International in Hongkong ein Stipendium für Menschenrechtsaktivisten in Gefahr empfohlen. Nachdem ich der Petentin in Peking geholfen hatte, war ich wieder auf dem Radar der Staatssicherheit und gezwungen, Peking zu verlassen. Ich bin daraufhin in verschiedene Regionen Chinas gereist, aber überall wurde ich von der Polizei vertrieben. Sie wollten nicht, dass ich in ihrem Zuständigkeitsgebiet bin. Daraufhin habe ich mich an die Menschenrechtsorganisation Frontline Defenders in Dublin gewandt, die mir schlussendlich ein Stipendium in Irland ermöglichte. Über Hongkong bin ich dann nach Europa geflogen.
Wie kamst Du dann nach Deutschland?
Während ich in Dublin war, kam in China Xi Jinping an die Macht. Viele Aktivisten wurden in den Folgemonaten verhaftet. Eigentlich wollte ich nach dem dreimonatigen Stipendium nach China zurückkehren. Plötzlich konnte ich dann aber meine Freunde in China nicht mehr erreichen. Sie waren alle festgenommen worden. Dann stand für mich fest: Ich kann nicht mehr sicher nach China zurückkehren. Reporter ohne Grenzen hat mich dann für ein Stipendium des deutschen PEN-Zentrums empfohlen. Über dieses Stipendium für verfolgte Schriftsteller und Blogger kam ich erst nach Nürnberg und dann nach Erlangen.

Was machst Du nun in Erlangen?
Ich habe angefangen, an der Universität Politikwissenschaften und Jura zu studieren. Außerdem habe ich einen gemeinnützigen Verein gegründet, der sich für Menschenrechte in China einsetzt. Wir haben unter anderem eine Petition gestartet, um auf die Problematik der Konfuzius-Institute aufmerksam zu machen. Diese haben wir an alle Universitäten und den Bundestag geschickt. Immerhin hat die Uni Trier kürzlich ihre Zusammenarbeit mit dem Konfuzius-Institut auf Eis gelegt.
Stichwort Konfuzius-Institute: Spürst Du den Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas auch an anderen Stellen in Deutschland?
Viele Dinge finden im Verborgenen statt. Die Partei hat sich vom Stalinismus und Leninismus die Einheitsfront-Strategie abgeschaut und versucht so, auf der ganzen Welt ihren Einfluss auszubreiten. Als ich damals in Nürnberg angekommen war, gab es im Presseclub Nürnberg eine Begrüßungsveranstaltung für mich. Organisiert hatte die Diskussion Leiterin des Menschenrechtsbüros in Nürnberg. Nach der Veranstaltung wurde ihr Fahrrad demoliert. In dem Zusammenhang kann man nur davon ausgehen, dass das von der Partei veranlasst war. Ein paar Monate später habe ich an weiteren Veranstaltungen zur Menschenrechtslage in China teilgenommen. In dieser Zeit ist jemand in meine Wohnung eingedrungen und hat eine Jacke auf meinem Sofa hinterlassen. Auch meine Fahrradreifen wurde mehrfach aufgestochen, einmal sogar eine Schraube gelöst. Ein anderes Beispiel ist mein WhatsApp-Account: Seit wir im vergangenen Juli im Studentenwohnheim eine Vereinssitzung hatten, loggt sich mein WhatsApp regelmäßig von einem anderen Computer ein. Ich glaube, auch das hat mit der KPCh zu tun. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, da es jedes Mal zeitlich mit meinem Aktivismus zusammenhing. Vor diesem Interview etwa hat mich das chinesische Generalkonsulat in Frankfurt zweimal angerufen.
Fühlst du Dich denn trotzdem sicher in Deutschland?
Ja, Deutschland ist ein Rechtsstaat. Wenn jemand ermordet wird, dann wird das aufgeklärt. Angst um mich habe ich keine, aber ich mache mir manchmal Sorgen um meine Familie in China. Meine Mutter wurde 2017 von einem Motorrad angefahren und ist gestorben. Manchmal träume ich nachts von meiner Mutter. Ich denke, dass ihr das wegen meiner Aktivitäten passiert ist. Ich fühle mich schuldig und bin traurig. Ich frage mich oft, was ich hätte tun können, um meine Mutter besser zu schützen.
Bist Du Dir denn sicher, dass Deine Mutter wegen Deines Aktivismus angefahren wurde?
Das ist zumindest sehr wahrscheinlich. Ein Freund hatte mich vor dem Tod meiner Mutter angerufen und mir gesagt, dass ich meine Eltern besser nach Deutschland holen solle. Ich denke, er hatte vielleicht Informationen. Nach dem Unfall sagte er mir: Wahrscheinlich wollte die Partei dich nur einschüchtern – sie wollten deine Mutter nur verletzen. Der Anschlag ist wohl schiefgegangen. Viele Verwandte von Dissidenten mussten solche Dinge erleben. Schon vor dem Tod meiner Mutter hatte ich meine Schwester gebeten, sich um Pässe für meine Eltern zu kümmern, sodass sie nach Deutschland kommen könnten. Meine Schwester hatte meine Eltern bereits angerufen, um am kommenden Tag zusammen mit ihnen zur Polizei zu gehen und die Pässe zu beantragen. Frühmorgens war dann der Unfall meiner Mutter. Das war sehr wahrscheinlich kein Zufall.
Für echte Veränderung braucht es den Druck von außen. Die ganze Welt muss aktiv werden, um die Partei zu stoppen. Wenn demokratische Länder wegschauen, wird China zunehmend seine eigene Bevölkerung und schwächere Staaten in seiner Umgebung ausbeuten und unterdrücken.
Das ist schrecklich und gleichzeitig in China Alltag. Findest Du, dass deutsche Politiker angemessen auf die Verbrechen der Kommunistischen Partei reagieren?
Ich denke, deutsche Politiker sollten viel eindeutiger die Menschenrechtsverletzungen in China kritisieren, insbesondere in Hongkong, Xinjiang und Tibet. Die dafür verantwortlichen chinesischen Beamten müssen sanktioniert werden. Und für den Abschluss des Investitionsschutzabkommens zwischen China und der EU muss eine verbesserte Menschenrechtslage in China Voraussetzung sein. Die Realität in Deutschland ist leider, dass die meisten Politiker wegschauen.
Denkst Du, dass sich die Lage in China eines Tages verbessern wird?
Die Menschen innerhalb Chinas können nichts tun: Sie haben keine Rechte, sie sind abhängig von der Güte der Partei. Viele Menschenrechtsaktivisten sind unter Hausarrest oder im Gefängnis, sie können kaum etwas machen. Für echte Veränderung braucht es auch den Druck von außen. Die ganze Welt muss aktiv werden, um die Partei zu stoppen. Wenn demokratische Länder wegschauen, wird China zunehmend seine eigene Bevölkerung und schwächere Staaten in seiner Umgebung ausbeuten und unterdrücken.
Gibt es irgendetwas, das Dir Grund für Optimismus gibt?
Ich bin trotzdem optimistisch. Denn in der ganzen Menschheitsgeschichte hat solch schlechte Herrschaft nicht lange überlebt. Wenn nur ein kleiner Teil der Menschen profitiert und es gegen die eigene Bevölkerung geht, kann sich ein Regime nicht halten. Ich habe in China vielen sozial schwächeren Gruppen geholfen. Die meisten Menschen sind mit der Herrschaft der KPCh nicht zufrieden.
Liu Dejun ist chinesischer Menschenrechtsaktivist und Blogger. Er setzte sich vor seiner Flucht aus China für die Rechte von Wanderarbeitern und Petenten ein: 2007 gründete er in Südchina den Hilfsverband für Arbeitsrecht. In China saß er mehrfach im Gefängnis und wurde von der chinesischen Polizei gefoltert. 2013 kam er nach Deutschland, inzwischen studiert er in Erlangen und setzt sich von Deutschland aus für Menschenrechte in China ein.
Last modified: 16. August 2022