
Dhondup Wangchen drehte vor den Olympischen Winterspielen in Peking 2008 einen Dokumentarfilm über die Lage in Tibet. Sein regimekritischer Film hatte schwere Konsequenzen für ihn. Im Interview spricht Wangchen über seine Zeit in chinesischer Haft und seinen Blick auf die Spiele 2022.
VON TENZYN ZÖCHBAUER UND ANJA OECK
Brennpunkt Tibet: Im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2008 in Peking sind Sie durch Tibet gereist und haben Menschen zu ihrer Alltagssituation interviewt. Daraus entstand der beeindruckende Dokumentarfilm „Leaving Fear behind“. Was waren Ihre Beweggründe, diesen Film zu drehen?
Dhondup Wangchen: Im Jahr 2008 erhielt China die Möglichkeit, die Olympischen Sommerspiele auszurichten. Tibet war zu diesem Zeitpunkt schon fast 60 Jahre von China besetzt. Während dieser Zeit sind viele schlimme Dinge passiert: Viele Menschen wurden inhaftiert, und einige von ihnen haben die Gefängnisse nie wieder verlassen. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) versucht mit aller Kraft, der Welt zu zeigen, dass sich die Lage in Tibet verbessert hat. Jedoch ist das größte Problem, dass für das tibetische Volk immer noch keine grundlegenden Menschenrechte gelten. Für uns Tibeter in Tibet ist es unglaublich traurig zu wissen, dass ein Land wie China wiederholt Menschenrechte verletzen kann, ohne je Konsequenzen zu erfahren. Stattdessen wurde die Regierung mit der Vergabe der Olympischen Spiele geehrt. Dies hat viele von uns in Tibet schockiert. Olympische Spiele in einem Land auszutragen, in dem die grundlegenden Menschenrechte und die Freiheit seines Volkes missachtet werden, ist nicht richtig. Wie kann das IOC so etwas tun?
Die chinesische Regierung versucht, Seine Heiligkeit den 14. Dalai Lama für die Unruhen in Tibet verantwortlich zu machen. Deshalb hielten mein Team und ich es für wichtig, die Situation in Tibet von innen her zu beleuchten und der Welt die Arroganz und die Lügen der KPCh vor Augen zu führen.
Wie sah der Prozess der Filmproduktion aus? Wer hatte die Idee dazu, und wie hat Jigme Gyatso (auch bekannt als Golog Jigme) Sie dabei unterstützt?
Viele wissen, dass Golog Jigme und ich Teil des Films „Leaving Fear behind“ waren, aber es gibt noch mehr Menschen, die an der Produktion mitgewirkt haben. Ich habe einen Großteil der Verantwortung beim Projekt übernommen, z. B. die Verwaltung der Finanzen und die Organisation. Golog Jigme und ich lernten uns 2006 kennen, und von da an begannen wir mit den Vorbereitungen. Wir wollten die Tibeter über Seine Heiligkeit und die Olympischen Spiele 2008 befragen, ihnen vor allem die Möglichkeit geben, alles anzusprechen, was ihnen wichtig war – wir wollten das Interview nicht auf ein paar vorgefertigte Fragen beschränken.
Wir haben in der aktuellen Situation eine immer größere Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und zu verbreiten.
Wir wiesen alle Teilnehmer im Voraus darauf hin, dass die Teilnahme an diesem Projekt möglicherweise Konsequenzen für sie haben könnte, da es unser Ziel war, den Film Seiner Heiligkeit vorzuführen. Obwohl sie sich des hohen Risikos bewusst waren, versicherten uns viele der Teilnehmer, sie würden es in ihrem Leben nicht bereuen, wenn sie die Chance hätten, dass dieser Film dem Dalai Lama gezeigt werden würde. Wir ließen allen, die gefilmt wurden, die freie Wahl, ihr Gesicht zu zeigen oder zu verbergen.
Würden Sie nach all dem, was Ihnen zugestoßen ist, jemandem empfehlen, jetzt vor den Olympischen Winterspielen im Februar 2022 ein ähnliches Projekt zu starten?
Diese Arbeit ist sehr wichtig, aber es wird immer schwieriger, solche Projekte umzusetzen. Die Risiken insgesamt sind jetzt noch größer, und gleichzeitig haben wir in der aktuellen Situation eine immer größere Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und zu verbreiten.
Wann hat die chinesische Regierung von dem Projekt erfahren, noch während der Dreharbeiten oder erst nach der Veröffentlichung?
Insgesamt haben wir das Filmmaterial dreimal aus Tibet versandt: zweimal nach Peking und das dritte Mal direkt zu Dechen Pemba in England. Sie erfuhren erst davon, nachdem der Film fertig produziert war. Es war im August 2008 – die Behörden teilten mir mit, dass mein Film veröffentlicht worden war. Ich sah ihn mir im Gefängnis an.
Könnten Sie uns bitte etwas über Ihre Zeit im Arbeitslager und im Gefängnis erzählen, auch wenn dies alte Wunden aufreißt?
Nun, sie nennen es nicht Gefängnis, auf Tibetisch nennen wir es „da song khang“ (geheimer Aufenthaltsort). In den sechs Jahren, die ich inhaftiert war, war ich in drei verschiedenen Gefängnissen: Im ersten blieb ich zwei Jahre, danach wurde ich in ein größeres verlegt. Wir mussten alle einen Brief unterschreiben, in dem wir die Schuld für alle uns vorgeworfenen Verbrechen übernahmen, in dem wir sagten, dass wir uns geirrt hätten, dass wir uns gegen Seine Heiligkeit den 14. Dalai Lama wenden und dass wir in Zukunft an solchen Aktivitäten nicht mehr teilnehmen würden. Uns wurde gesagt, dass, wenn wir diesen Brief nicht unterzeichneten, wir hart bestraft würden. Jedem im Gefängnis wird Arbeit aufgetragen. Für uns Tibeter in den großen Gefängnissen gibt es dabei keine Möglichkeit, das Strafmaß zu verringern. Das kommt nur in sehr vereinzelten Fällen vor, wenn die Strafe mindestens fünf bis sechs Jahre beträgt. Wir wurden gezwungen, 15 bis 16 Stunden manuelle Arbeit zu verrichten. Jeder von uns bekam eine Aufgabe zugeteilt, und wenn wir sie nicht nach den Vorstellungen der Wächter erledigten, hatten wir mit Strafen zu rechnen. Unser Tag begann um 5 Uhr morgens und endete um Mitternacht. Wir konnten nicht gut schlafen. Die Arbeit, die wir in diesen Gefängnissen verrichteten, war zermürbend und verlangte unseren Körpern einiges ab. Es ist sehr schwer, diese Zeit im Gefängnis in ein paar Zeilen zusammenzufassen. Es gibt zu viele Geschichten, und sie sind zu lang.
Hatten Sie in dieser Zeit die Hoffnung, eines Tages wieder frei zu sein?
Ich hatte keinerlei Hoffnung, freigelassen zu werden. Mir fiel aber auf, dass ich etwas anders als die anderen Gefangenen behandelt wurde, weil sich draußen viele Menschen für meine Freilassung einsetzten und protestierten. In einem der Gefängnisse gab es einen Mann namens Gyatso, der inhaftiert war, weil er eine Verbindung zu einigen amerikanischen Büros hatte. Seine Jahre im Gefängnis summierten sich langsam, erst ein Jahr, dann das nächste und so weiter. Er war sehr lange im Gefängnis. Ich hatte das Gefühl, dass mir das gleiche Schicksal drohte. Aufgrund der internationalen Presse, die über meinen Fall berichtete, kamen Außenstehende ins Gefängnis, um mich zu interviewen, und sie brachten ihre Kameras mit. Nach diesen Besuchen sagten mir viele meiner Mitinsassen, dass mein Fall etwas Besonderes sei. Sie rieten mir, auf meine Gesundheit zu achten und an die Zukunft zu denken.
Was sollte passieren, wenn sich die ganze Welt – zumindest die politische und sportliche – aufgrund der Olympischen Spiele mit Themen rund um China beschäftigt?
Diese Spiele 2022 sind wichtiger denn je. Es geht nicht mehr nur um Tibet. Sehen Sie sich Hongkong, Xinjiang und Taiwan an. Seit den Olympischen Spielen 2008 haben sich mehr als 150 Tibeter selbst verbrannt. Die Besetzung dauert nun schon über 60 Jahre an, und es ist nicht besser, sondern nur schlimmer geworden. Wie viele sind bereits gestorben? Wie viele Menschen werden noch sterben? Die chinesische Regierung ist dabei, unser Volk auszulöschen.
Uns wurde mitgeteilt, dass Sie ein neues Filmprojekt rund um die Spiele 2022 planen. Worum geht es dabei?
Nach dem ersten Filmprojekt konnte ich in Tibet nicht mehr sicher weiterleben. Mir war klar, dass ich Tibet verlassen musste. Gleichzeitig war aber unsicher, ob mir die Flucht gelingen würde. Wäre mir dabei etwas passiert, hätte dies niemand erfahren. Daher habe ich damals schon begonnen, einen Film über mich und meinen Alltag in Tibet zu drehen. Ich habe dabei versucht, mit der Kamera festzuhalten, wie ich meiner grundlegenden Rechte beraubt wurde. Außerdem konnte ich damals vielen Menschen nicht erzählen, dass ich meine Flucht plante. Wenn mir also etwas passiert wäre, dann hätten wenigstens die Aufnahmen erklärt, warum ich mich dazu entschlossen hatte, mein Heimatland zu verlassen, und es wäre ebenso ein Beweis dafür gewesen, dass die chinesische Regierung mir Unrecht getan hatte. Mit den Aufnahmen versuchte ich gleichzeitig, nicht nur mein individuelles Leid, sondern das des ganzen tibetischen Volkes aufzuzeigen. Irgendwann kam der Moment, an dem ich aus Tibet fliehen konnte.
Die chinesische Regierung ist dabei, unser Volk auszulöschen.
Im Exil erfuhr ich, dass in Japan ein Film über mich gedreht worden war. Er war in Japan weit verbreitet, aber außerhalb kaum bekannt. 2017 reiste ich mit Lhamo Tso dorthin, um den Film zu sehen. Dies brachte mich auf die Idee, diesen Film mit meinem Filmmaterial zu kombinieren. Das gäbe mir die Möglichkeit, einen Film zu produzieren, bei dem nicht bloß meine Leidensgeschichte oder die einer Familie im Vordergrund stand, sondern in dem ich das Leid eines ganzen Volkes zeigen könnte. Tibetische politische Gefangene und Menschenrechtsaktivisten wissen, dass sie nicht nur für sich als Individuen kämpfen, sondern sich für eine ganze Gemeinschaft einsetzen. Das ist es, was wir der Welt zeigen müssen. Es geht nicht nur um die Qualen, die ein politischer Gefangener in den wenigen Jahren Gefängnis durchmacht, sondern vor allem auch um die harte Zeit, die nach seiner Entlassung auf ihn zukommt. Wegen COVID-19 konnte ich die Arbeit an diesem Filmprojekt nicht fortsetzen, aber ich habe mich nun mit einigen Filmemachern getroffen. Wir planen immer noch, diesen Film zu drehen.
Wie kann die Weltgemeinschaft Ihr Anliegen unterstützen?
Es sind nicht nur die Tibeter, die unter Chinas Herrschaft leiden, viele andere auch. Und als menschliche Wesen haben wir alle das Recht, in Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit zu leben. Diese Werte sollten unterstützt werden. Diejenigen, die unser Anliegen unterstützen, unterstützen damit Wahrheit und Gerechtigkeit. Man kann nämlich nicht glücklich sein, solange man weiß, dass andere Menschen leiden müssen. Als menschliche Wesen sollten wir immer versuchen, anderen zu helfen. Wenn wir uns nun Amerika und China ansehen, so sind beide Länder sehr mächtig. Chinas Bürger können nach Amerika reisen und sich innerhalb des Landes frei bewegen, umgekehrt ist dies aber nicht so. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind also nicht gleich, obwohl sie gleich sein sollten. Ich denke, dass auch die USA das Recht haben sollten auf Menschenrechtsverletzungen in China hinzuweisen und ihre Handelsbeziehungen dementsprechend anzupassen. Wenn man darüber informiert ist, dass in China Waren unter Zwangsarbeit produziert werden, muss man weiter forschen, woher diese kommen. Viele Waren werden in Gefängnissen von Gefangenen unter katastrophalen Bedingungen, Schlägen und Folter hergestellt. Wie ich bereits erwähnte, müssen Inhaftierte 15 bis 16 Stunden täglich ohne angemessene Arbeitsausrüstung arbeiten und werden obendrein noch äußerst schlecht ernährt. Das muss man sich mal bewusst machen. Wenn Menschenrechte verletzt werden, sollten andere Länder dies untersuchen und darauf hinweisen. Ich denke also, dass die Weltgemeinschaft unser Anliegen unterstützen kann, indem sie China für diese Dinge zur Verantwortung zieht.

Was würden Sie Politikern, Athleten und Zuschauern der Olympischen Spiele in China empfehlen?
Ich denke, das Beste wäre, nicht an den Spielen teilzunehmen. Wenn in China die Werte wie Frieden, Wahrheit und Gerechtigkeit gelebt würden, könnte man mit einem guten Gefühl an den Spielen teilnehmen. Aber mit dem Wissen, dass die chinesische Regierung für das Leid und die Unterdrückung unzähliger Menschen verantwortlich ist, ist dies nicht möglich. Es gibt dort so viele Menschen, die in Gefängnissen missbraucht und gefoltert werden und leiden. Wir sprechen über Weltfrieden, aber wahrer Frieden setzt Gerechtigkeit voraus – ohne die kann es keinen Frieden geben. Wenn ich also Sportler wäre, würde ich die Olympischen Spiele in Peking boykottieren, denn die Teilnahme könnte das Leben von Menschen in Gefahr bringen und deren Leid vergrößern. Es mag sein, dass die Athleten über die Menschenrechtslage nicht informiert sind, aber Politiker und Regierungen sollten sehr gut informiert sein. Jeder, der beabsichtigt, die Spiele in Peking zu besuchen, sollte sich vor der Teilnahme über die Lage informieren. Ich bin der Überzeugung, dass die Olympischen Spiele nur in Ländern ausgetragen werden sollten, in denen Gerechtigkeit und Frieden herrschen. Seit 2008 wissen wir, dass dies in China nicht der Fall ist. Generell denke ich, dass jeder, der eine Teilnahme in Erwägung zieht, lange und gründlich darüber nachdenken sollte, bevor er eine Entscheidung trifft.
Was wäre die beste oder schlechteste Folge für die Tibeter bei und nach den Spielen?
Wie ich bereits erwähnte, wäre das Beste für uns, wenn Politiker und Staatsoberhäupter darauf bestünden, Nachforschungen in China zu betreiben, und beschließen würden, nicht an den Spielen teilzunehmen – das wäre ein deutliches Zeichen an die KPCh. Bei den Athleten ist das anders, sie sind Sportler, und die Spiele sind für sie persönlich wichtig, das verstehe ich. Wie die Lage während der Spiele in Tibet sein wird, ist schwer zu sagen. Große Proteste wie 2008 werden aufgrund der strengen Regierungskontrollen so wohl nicht wieder stattfinden. Die Menschen werden durchgängig überwacht und ins Gefängnis gesteckt, noch bevor sie handeln können. Die Situation ist nicht mehr wie früher, inzwischen muss man sich bei jeder App mit seinem echten Ausweis, Foto und seiner Unterschrift registrieren. Im Jahr 2008 war das nicht so, damals konnten Tibeter noch einfacher nach Indien fliehen. Aber seit der Entscheidung für die Olympischen Spiele 2022 in China kommt man kaum noch aus Tibet hinaus. Die schlimmste Folge wäre, wenn die chinesische Regierung die Spiele im Jahr 2022 erfolgreich ausrichten könnte. Die KPCh lügt und ist so arrogant, dass sie die „Minderheiten“ in China überhaupt nicht zu Wort kommen lässt, sie völlig unterdrückt. Es wäre fatal, wenn die Olympiade diese Lügen der Regierung bestärkte und sie als Wahrheit erscheinen ließe. Es ist wie mit COVID-19 und dem unklaren Ursprung des Virus, der weltweit Millionen Menschenleben gekostet hat. Die fehlende Wahrhaftigkeit der chinesischen Regierung ist ein großer Grund zur Sorge. In Tibet wird es unmöglich sein, einen Aufstand zu organisieren, die Kontrollen sind dort einfach zu streng.
DHONDUP WANGCHEN, 1974 in der Provinz Amdo geboren, beteiligte sich in den 90er Jahren an Protesten in Lhasa. Im Vorfeld der Olympischen Spiele von Peking 2008 drehte er mit seinem Freund Golog Jigme den Dokumentarfilm „Leaving Fear Behind“ über die Stimmung in Tibet. Im März 2008 wurde Dhondup Wangchen verhaftet und ein Jahr später zu sechs Jahren Gefängnis wegen „Staatsgefährdung“ verurteilt. Nach vollständiger Verbüßung seiner Strafe kam er 2014 frei. Im Dezember 2017 gelang ihm die Flucht ins Ausland. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen vier Kindern in den USA.
Last modified: 16. August 2022