
John Hocevar ist Mitbegründer von „Students for a Free Tibet“ und ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des „International Tibet Network“. In „Fünf Fragen“ spricht er über seinen Einsatz für Tibet, insbesondere während der Olympischen Spiele 2008.
VON ANJA OECK
Brennpunkt Tibet: Wann und wie bist Du – als versierter Biologe und engagierter Umweltschützer – in Kontakt mit tibetischen Angelegenheiten gekommen? Und was hat Dich so interessiert, dass Du Dich letztendlich dafür eingesetzt hast?
John Hocevar: Mein Einstieg in tibetische Belange war ein glücklicher Zufall. Ich hatte gerade eine dreimonatige Pause zwischen zwei Jobs der Meeresbiologie und bekam das Angebot, ein neues Projekt auf den Weg zu bringen, das versuchen sollte, dass sich Studenten für Tibet engagieren. Bis dahin hatte ich noch nie einen Tibeter getroffen und wäre auch nicht in der Lage gewesen, Tibet auf einer Landkarte zu finden. Also las ich einige Bücher und wurde Sonam Wangdu vorgestellt, der das US-Tibet-Komitee leitete. Die Geschichten der Tibeter, die sich gegen die Invasion und Besetzung ihres Landes durch China wehrten, berührten mich zutiefst. Sonam zu treffen und seine persönliche Geschichte zu hören, war ein einschneidendes Erlebnis. Eines, das mir von Anfang an half zu verstehen, wie wichtig es ist, Tibeter mit potenziellen Unterstützern mit unterschiedlichem Hintergrund zu vernetzen.
Welche Rolle hast Du beim Protest während der Olympischen Spiele 2008 in Peking gespielt?
Ich war der Pressesprecher für die Aktivistenteams, die jeden Tag friedlich in Peking protestierten. Dabei konnte man nie sicher wissen, was jeweils zu erwarten war. Das bedeutete, dass wir auf eine große Bandbreite von Möglichkeiten vorbereitet sein mussten: Würde mir wegen meiner Öffentlichkeitsarbeit für die Tibeter der Zutritt verweigert werden? Würde ich überallhin verfolgt werden, bis zu dem Punkt, dass effektives Arbeiten schwierig würde? Würden sie mich sofort verhaften? Und wenn ja, wie würden sie mich behandeln?
Die chinesischen Behörden schienen unsicher zu sein, wie sie mit den Protesten umgehen sollten, und ihre Reaktion veränderte sich etwas im Laufe der Olympiade. Während ich dabei war, hatten Polizei und Sicherheitskräfte strikte Anweisungen, niemanden festzunehmen, es sei denn, jemand würde eine tibetische Fahne schwenken oder protestieren. Da ich vor Ort war, um die Medienarbeit zu koordinieren und mit Journalisten zu sprechen, entschieden sie sich schließlich, mich nicht zu den Demonstranten zu zählen.
Viele der Reporter waren sichtlich nervös, als sich uniformierte Polizisten und Beamte in Zivil um uns drängten. Als sie mich fragten, ob ich Angst hätte, verhaftet zu werden, war klar, dass sie sich auch um sich selbst sorgten.
Das führte zu einigen wahrlich unglaublichen Momenten. Mitten an einem sonnigen Tag veranstalteten die Aktivisten ein Die-In auf dem Platz des Himmlischen Friedens, umringt von einer großen Menge neugieriger Touristen und ärgerlichem Sicherheitspersonal aller Art. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir die volle Aufmerksamkeit der internationalen Presse in Peking, Dutzende von Journalisten waren vor Ort. Als die Aktivisten festgenommen und weggebracht wurden, stand ich auf dem Platz, der damals wie heute weltweit anerkannter Ort des gewaltlosen Widerstands gegen Unterdrückung ist, und gab drei Stunden lang ein Interview nach dem anderen. Viele der Reporter waren sichtlich nervös, als sich uniformierte Polizisten und Beamte in Zivil um uns drängten. Als sie mich fragten, ob ich Angst hätte, verhaftet zu werden, war klar, dass sie sich auch um sich selbst sorgten. Und da mitten hinein platzte eine chinesische Touristenfamilie und bat um ein Foto. Sie sprachen kein Englisch und hatten keine Ahnung, wer ich war. Aber wahrscheinlich hielten sie mich wegen all der Kameras und Mikrophone für irgendeine Berühmtheit.
Welche Ziele hattet ihr mit den Protesten ins Auge gefasst, und was habt ihr letztendlich erreicht?
All die in dem Sommer organisierten Aktionen sollten das internationale Rampenlicht nutzen, das durch die Olympischen Spiele auf Peking gerichtet war. Chinas Führungsriege versuchte verzweifelt, der Welt zu zeigen, dass China ein modernes, seriöses Land sei und geeignet für ausländische Investitionen. Sie wollten die Leute davon überzeugen, dass sich niemand um irgendwelche Probleme sorgen müsse – keine Menschenrechtsverletzungen, keine Armut, keine Umweltprobleme und definitiv keine unglücklichen Tibeter oder Uiguren, die die Besetzung ihrer Länder beenden wollten. Wir waren da, um diese Lügen zu entlarven und Chinas Führer daran zu erinnern, dass wir sie zur Kasse bitten würden, solange sie Tibet besetzt hielten. Dann könnten sie nicht das von ihnen erhoffte Image vermitteln, und das würde ihrem Ruf schaden und ihre Wirtschaft beeinträchtigen. Am Alarmierendsten wäre wohl, dass die Proteste das eigene chinesische Volk daran erinnern würden, dass seine Führer nicht allmächtig sind und Widerstand möglich ist.
Die Aktionen, die „Students for a Free Tibet“ während der Olympiade organisiert hatten, waren sehr erfolgreich darin, die Aufmerksamkeit auf Chinas Besetzung und den Widerstand der Tibeter zu lenken. Die Medienberichterstattung erreichte Millionen von Menschen auf der ganzen Welt und half, Tibeter und Unterstützer zu inspirieren. Chinas Führer wurden daran erinnert, dass die Besetzung Tibets ihren Preis hat und dass sie, so sehr sie sich auch bemühten, beschämende Proteste nicht verhindern könnten. Es war leicht vorstellbar, dass die nächste Generation von Führern daraus wichtige Lehren ziehen und sogar in Frage stellen könnte, ob die weitere Besetzung Tibets diesen Preis wert sei.

Was passierte Dir während und nach den Protesten? Wie wurdest Du behandelt?
Bei einem der Proteste in der Nähe des Tian‘anmen-Platzes wurde ich schließlich doch festgenommen. Nachdem ich über eine Woche jeden Tag Aktionen beobachtet und darüber gesprochen hatte, war es auch Zeit für jemand anderen, meine Rolle zu übernehmen – und Zeit für mich, zu meiner Arbeit in den USA zurückzukehren. Die Reaktion der Polizei kam prompt, sie schnappten sich die Fahnen und Banner und zerrten die Aktivisten ins nächste Geschäft. Das entpuppte sich als eine Art Ticketvermittler, wurde schnell geräumt und in eine provisorische Polizeistation umfunktioniert. Von allen sammelten sie die Namen und verhörten uns halbherzig, manchmal zu abgelenkt, um die Antworten auf ihre Fragen noch zu notieren.
Ganz offensichtlich war ihnen gesagt worden, möglichst niemanden offiziell festzunehmen, da dies noch peinlicher für das Regime wäre, das trotz täglicher Proteste immer noch versuchte, den Anschein zu erwecken, alles liefe glatt. Schließlich trieben sie uns in einen Polizeibus und rasten vom Tian‘anmen-Platz davon. Schnell wurde jedoch klar, dass sie sich nicht einig waren, wohin sie uns bringen sollten. Eine halbe Stunde waren wir unterwegs, um dann umzudrehen und dahin zurückzufahren, woher wir gerade gekommen waren. Einmal fuhren wir sogar durch die Tore zur Verbotenen Stadt, vielleicht mit der Absicht, uns dort zu einem Sicherheitsgebäude zu bringen. Ich hatte nicht wirklich viel Zeit gehabt, in Peking den Touristen zu spielen, deshalb amüsierte es mich geradezu, nun die Verbotene Stadt durch das Fenster eines Polizeibusses sehen zu können.
Nach einem ganzen Tag des richtungslosen Herumfahrens wurden wir schließlich zum Flughafen gebracht. Die Sicherheitskräfte, die uns dort empfingen, schienen gefährlicher als die, die wir bisher gesehen hatten. Diese Leute hatten keinen Funken Humor, und einer von uns bekam noch in Handschellen einen Schlag ins Gesicht. Sie nahmen uns unsere Portemonnaies aus den Taschen und überprüften unsere Kreditkarten, um uns zu zwingen, für den Flug zu bezahlen, auf dem sie uns abschieben wollten. Bis wir an Bord gebracht worden waren, musste das Flugzeug eine lange Zeit auf der Startbahn festgehalten werden, und die Passagiere ahnten, dass etwas nicht stimmte. Als die Leute herausbekamen, was los war, gratulierten und dankten uns einige von ihnen.
Die Sicherheitskräfte hatten keinen Funken Humor, und einer von uns bekam noch in Handschellen einen Schlag ins Gesicht.
Ich bin nicht allzu schlecht behandelt worden, soweit man das so sagen kann, allerdings bin ich auch ein Weißer mit US-amerikanischer Staatsbürgerschaft. Tibeter wurden nicht so ordentlich behandelt, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft. Einer Tibeterin wurde an ihrem Haar gezogen. Andere Aktivisten wurden aus der Stadt gefahren und im Glauben gelassen, sie sollten erschossen werden. Eine Menge hängt von den Persönlichkeiten der einzelnen Polizisten ab, mit denen du letztendlich zu tun hast, und das gilt für Proteste in Peking ebenso wie für solche in Washington DC.
Wieder zu Hause nach einer erneuten Runde Interviews und zwei Tagen ununterbrochenem Schlaf, rief ich die Kreditkartengesellschaft an, um die Abbuchungen anzufechten, mit denen sie meine Karte gegen meinen Willen belastet hatten. „Hören Sie“, sagte ich, „ich habe eine Geschichte für Sie! Aber vielleicht sollten Sie erst Ihren Manager dazu holen …“ Sie haben mir die Kosten schnell zurückerstattet, was eine weitere Niederlage für die chinesische Regierung bedeutete.
Wenn Du Dir vorstellst, dass Peking im Februar 2022 die Winterolympiade austrägt, was hast Du da für Gefühle, und was würdest Du da gerne geschehen sehen?
Seit 2008 ist so viel passiert, aber für die Tibeter sind die Situation, die Bedingungen und Möglichkeiten jetzt vor den Olympischen Spielen 2022 immer noch ähnlich geblieben. Chinas Besetzung von Tibet hält an, und die chinesische Führung hofft immer noch, die Welt davon überzeugen zu können, dass alles in Ordnung ist. Die vielleicht wichtigsten Entwicklungen seit 2008 sind die Widerstandsbewegungen in Hongkong und die brutale Ausbeutung und Unterdrückung der Uiguren in Ostturkestan. Beides weist darauf hin, wie wichtig es ist, den Fokus des Widerstands zu erweitern und Bündnisse mit anderen zu schließen, die ebenfalls von Chinas Regime betroffen sind.
Die große Öffentlichkeitswirkung der Aktionen während der Olympiade 2008 hat die Messlatte hoch angesetzt. Es wird schwierig sein, nochmals dieses Maß an Aufmerksamkeit zu erreichen, aber wir können es uns nicht leisten, den Anschein zu erwecken, dass die Proteste nachgelassen haben. Ich glaube, die beste Chance für die Tibeter, noch mehr aus der Gelegenheit von 2022 zu machen, besteht darin, mit Hongkongern, Uiguren, Taiwanern und chinesischen Demokratieaktivisten solidarisch zusammenzuarbeiten.
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es ein Fehler wäre, anzunehmen, dass Chinas Reaktion auf Proteste in 2022 genauso sein würde, wie wir es in 2008 erlebt haben. Die Aktionen haben viele Menschen in Verlegenheit gebracht, und es ist sehr gut möglich, dass einige Personen und Behörden zu dem Schluss gekommen sind, dass beim nächsten Mal eine stärkere Antwort erforderlich ist. Was auch immer geschieht, wir müssen auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.
John Hocevar ist Mitbegründer und erster Geschäftsführer von Students for a Free Tibet und war Ko-Vorsitzender des International Tibet Support Network (inzwischen umbenannt in International Tibet Network). Seit 2004 ist John der Kampagnendirektor für die Ozeane bei Greenpeace/ USA, wo er sich weiterhin auf die Überschneidung von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit konzentriert. Derzeit arbeitet John daran, die Verschmutzung durch Plastik zu beenden, ein Netz von Meeresschutzgebieten einzurichten, die industrielle Fischerei zu reformieren und den Tiefseebergbau zu stoppen, bevor damit überhaupt begonnen wird.
Last modified: 16. August 2022