Alicia Henning arbeitete über viele Jahre als Wissenschaftlerin in China. In “Fünf Fragen” spricht sie über Tabu-Themen und toxische Arbeitskultur – und den Vergleich zu deutschen Unis.
VON ANJA OECK
Brennpunkt Tibet: Frau Hennig, Sie waren rund fünf Jahre lang als Professorin für Wirtschaftsethik an verschiedenen Universitäten in China angestellt. Wie gestaltete sich Ihr Arbeitsalltag in Shenzhen und später in Nanjing, und welche Erfahrungen haben Sie von dort mitgenommen?
Alicia Henning: Mein Arbeitsalltag in Shenzhen war deutlich unterschieden von dem in Nanjing, aber das ist auch den jeweiligen Positionen geschuldet. In Shenzhen war ich noch regelmäßig auf dem Campus, da ich auch unterrichtet hatte. Ich hatte also mehr Kontakt mit meinen Kollegen, auch mit meinen chinesischen Kollegen. In Nanjing, da ich mich dort auf Grund der Überwachung für eine reine Forschungsstelle entschieden hatte, war ich eher selten auf dem Campus (der auch außerhalb liegt) und hatte weniger Kontakt mit meinen Kollegen. Was auch dazu führte, dass man mir wenig Respekt entgegenbrachte. Allerdings war meine „Abwesenheit“ auch darauf zurückzuführen, dass die Vertragsbedingungen sehr schlecht waren, ich den Vertrag nicht nachverhandeln konnte und auch vom Fachbereich keine Unterstützung bei Schwierigkeiten kam.
In Shenzhen war der Arbeitsalltag zuweilen stressig wegen der immer nur kurzfristig angekündigten Meetings. Von vielen wurden wir Ausländer aber später befreit, weil diese in aller Regel eh nur in Chinesisch abliefen. Die Stundenplanung war ok, der Arbeitsaufwand für den Unterricht war machbar und überschaubar. Den Umgang an der Universität habe ich allerdings dennoch als toxisch wahrgenommen auf Grund der Ad-hoc-Kultur, drakonischer Strafen bei Missachtung von Regeln (ohne Warnung oder klärendes Gespräch; betraf aber nicht mich persönlich, habe ich nur bei Kollegen erlebt).
Es gibt zahlreiche Erfahrungen, die ich mitgenommen habe. Chinesische Universitäten sind bei weitem nicht alle gleich. Ich habe welche erlebt, die mich mit Respekt behandelten und Hilfestellung gaben (HIT, Jiaotong University), und welche, die es nicht taten und sich unfair verhielten (Southeast University). Allerdings würde ich heute an keiner chinesischen Universität mehr auf der Basis einer lokalen Anstellung arbeiten wollen, denn der Publikationsdruck (und auch der Erfolgsdruck) dort ist massiv (was zu einer toxischen Atmosphäre führt), die roten Linien sind überall, und man muss sich immer mehr der Partei-Ideologie unterwerfen, auch als Ausländer, sonst ist man seine Position recht schnell los. Die Hackordnung innerhalb der Hierarchie einer chinesischen Universität ist enorm, und wenn man nicht genauso viel Zeit und Energie in Beziehungspflege investiert wie die Chinesen selbst, dann kommt man oftmals nicht besonders weit bzw. kann, wie ich selbst es erlebt habe, auch ausgegrenzt, missachtet und letzten Endes nicht ernst genommen werden.
Mit Wissenschaft verbindet man im Allgemeinen die freie Forschung und Lehre. Wie frei empfanden Sie Ihr bzw. allgemein das wissenschaftliche Arbeiten an den chinesischen Universitäten? Gab es für ausländische Lehrkräfte Tabus oder Zusatzklauseln?
Zur Lehre: In Shenzhen machte ich die Erfahrung, dass bereits jemand ab und zu in meinen Unterricht kam, um wohl zu überprüfen, was ich dort an Inhalten vermittelte. Sehr kritisches Material in Bezug auf China ließ ich bereits damals bei dem Aufbau meiner Kurse weg, z. B. griff ich bei meinem Kurs Chinese Contemporary Economy nicht auf kritische Ansichten zurück. Bei den anderen Kursen war chinakritisches Material noch nicht relevant, da ich nur auf Bachelor-Niveau unterrichtet habe, und diese Kurse sind immer sehr allgemein und nicht länderspezifisch gehalten.
Zur Forschung: Ich hatte das Glück, dass ich ohnehin während meiner Zeit in China zu einem eher „chinafreundlichen“ Thema gearbeitet hatte, nämlich dem Daoismus (ich wollte dieser Philosophie mehr Anerkennung in der Wirtschaftsethik verschaffen). Insofern habe ich diesbezüglich nie Einschränkungen erlebt. Jedoch musste ich für Konferenzen im Ausland damals am HIT ein Dokument unterschreiben, dass ich nicht über Taiwan und das One-China-Principle spreche, wenn ich im Ausland bin. Später, als ich nebenbei noch Dozentin an der Jiaotong University war (nur für deren Summer School), kursierte eine E-Mail, dass alles in Bezug auf Human Rights und andere kritische Begriffe aus dem Unterrichtsmaterial zu streichen sei.
Wie empfanden Sie das Lehren bei und den Umgang mit den chinesischen Studenten? Hatten Sie den Eindruck, sie verhielten sich Ihnen gegenüber anders als gegenüber Ihren chinesischen Kollegen?
Ich hatte wenig Kontakt zu chinesischen Studierenden, denn in Shenzhen habe ich ausländische Studierende aus den Ländern Afrikas sowie aus Kasachstan unterrichtet, die auf der Basis eines von der Stadt bezahlten Stipendiums an die Uni bzw. nach China kamen. Bei meiner Stelle in Nanjing habe ich auf Unterrichtsaktivitäten verzichtet auf Grund der in den Klassenräumen bereits installierten Kameras.
In Bezug auf Tibet und andere Gebiete mit sogenannten Minderheiten: Haben Sie an Ihren Aufenthaltsorten von der Politik und dem Umgang mit diesen Menschen etwas erfahren, z. B. in den Nachrichten, oder empfanden Sie Fragen zu Tibet in China eher als Tabuthemen?
Ich selbst habe dazu nichts erfahren. Es sind in meinen Augen Tabuthemen, über die man nicht einfach so mit jedem Chinesen sprechen kann. Die Situation um Tibet war mir teils selbst bekannt, weil ich in den autonomen Gebieten in Sichuan und Qinghai gereist bin und dort mit Mönchen selbst in Kontakt kam bzw. wusste, dass für Ausländer manche Regionen dort bereits gesperrt sind.
Wie sehen Sie Ihre Forschung und Ihr Leben in Deutschland nach den Erfahrungen in China?
Ich habe neben Deutschland ja auch noch in London/England gearbeitet. Dieser Länderwechsel hat mir immer vor Augen geführt, wie wertvoll eine offene Gesellschaft ist, in der junge Menschen lernen können, was sie wollen. In China unterliegen die Studierenden dem, was die Partei für richtig hält. Sie sollen primär Bildung konsumieren, aber sich nicht engagieren, das heißt keine Diskussionen, Fragerunden etc. Sie partizipieren also nicht aktiv am Unterricht. Das ist in Deutschland natürlich ganz anders, genauso wie in England. Und diese Art der Bildung ist wichtig, damit wir zukünftige Generationen von Menschen in diesem Land haben, die autonom, kritisch und reflektiert denken und handeln können.
Meiner Forschung hier in Deutschland sind keine Grenzen gesetzt. Hier kann ich auch zu chinakritischen Themen arbeiten (wie derzeit zur Verantwortung von deutschen Wirtschaftsakteuren in der Region Xinjiang). In China wäre dies undenkbar gewesen. Ich habe in China selbst schon via VPN (Anm.: Virtual Private Network) Informationen zu diesem Thema gesammelt, aber wenn man mich jemals dort vor Ort belangt hätte wegen der Nutzung eines VPNs oder auf die Idee gekommen wäre, meinen Computer zu konfiszieren, dann hätte ich, denke ich, große Probleme bekommen.
Alicia Hennig ist stellvertretende Professorin für Allgemeine BWL am Internationalen Hochschulinstitut (IHI) Zittau, zugehörig zur TU Dresden. Sie war vormals Associate Professor of Business Ethics an der Southeast University, Nanjing, und Assistant Professor am Harbin Institute of Technology (HIT), Shenzhen. Darüber hinaus kooperiert sie mit Gastvorträgen und Lehraufträgen mit der Nanjing University, Fudan University und Jiaotong University.
Last modified: 7. Dezember 2022