Die chinesische Regierung hatte versprochen, extreme Armut im Land zu beenden. Doch in Tibet setzt das Regime dabei auf Gewalt und Vertreibung. Hunderttausende müssen Zwangsarbeit verrichten.
Es kommt nicht häufig vor, dass die chinesische Diktatur positive Schlagzeilen schreibt. Doch jüngst haben sich Kommentatoren weltweit im Lob geradezu überschlagen. „Armut in China: Peking feiert spektakuläre Zahlen“ , titelte die FAZ. „Wirtschaftswunder aus China: 700 Millionen Menschen aus der Armut geführt“ , berichtet der russische Sender RT, CNN spricht von einem „Meilenstein“ . „Das einst bitterarme Land hat Einzigartiges erreicht“, so die NZZ. Der Leiter des UN-Entwicklungsprogramms Achim Steiner nannte die Armutsbekämpfung „in Umfang und Schnelligkeit beispielslos“ und das Deutsche Institut für Wirtschaft sieht in ihr ein Vorbild für die ganze Welt.
Diese Erfolgsmeldungen verdecken, dass der chinesische „Kampf gegen die Armut“ mit Gewalt, Vertreibung und Zwangsarbeit einhergeht. Dies zeigt sich nicht nur in Ost-Turkestan (der chinesischen Provinz Xinjiang), wo die Regierung mehr als eine Millionen Menschen in Arbeitslagern gefangen hält. Ehemalige Insassen berichten von Folter, Vergewaltigungen und totaler Überwachung. Die chinesische Führung hat die Existenz dieser Lager lange geleugnet, inzwischen spricht sie beschönigend von „Berufsbildungszentren“ .
Militärischer Drill und Indoktrination
Neue Recherchen belegen, dass die Kommunistische Partei das System der Zwangsarbeit nun auch in Tibet ausgeweitet hat – und das in atemberaubendem Tempo: Trotz Corona-Pandemie haben die Behörden allein in den ersten Monaten des Jahres 2020 mehr als eine halbe Million Tibeter*innen in neu geschaffenen Zentren zusammengerottet, um sie zu Billigarbeitskräften „auszubilden“, das sind rund 15 Prozent der Bevölkerung. Die Menschen müssen in Armeekleidung zum Dienst antreten, die Kommunistische Partei setzt auf militärischen Drill, um jeden Widerstand zu brechen. Zwar sind die meisten Tibeter*innen in diesen Zentren nicht dauerhaft interniert – doch sie werden ideologisch genauso indoktriniert wie die Lagerinsassen in Xinjiang. Sie sollen nicht Tibetisch, sondern Chinesisch sprechen, statt der Lehren Buddhas die Reden Xi Jinpings studieren. Aus ihrem Rassismus machen die staatlichen Behörden dabei keinen Hehl: In offiziellen Verlautbarungen werden Tibeter*innen als faul, unproduktiv und rückständig bezeichnet.
Totalitärer Herrschaftsanspruch
Der deutsche Forscher Adrian Zenz hat all dies anhand von Regierungspapieren, Satellitenbildern und staatlichen Medienberichten minutiös nachgewiesen. Die Nachrichtenagentur Reuters hat seine Erkenntnisse gegenrecherchiert und bestätigt. Zenz spricht vom „schwersten Angriff auf die tibetische Lebensweise seit der Kulturrevolution“. Es sei wahrscheinlich, dass die neue Politik zum langfristigen Verlust des sprachlichen, kulturellen und spirituellen Erbes in Tibet führe.
Die Zwangsmaßnahmen richten sich vor allem gegen die ländliche Bevölkerung Tibets. Staatspräsident Xi Jingping hatte vor fünf Jahren versprochen, bis Ende 2020 extreme Armut in China vollständig zu beseitigen. Doch wer als arm gilt, bemisst sich allein nach dem Jahreseinkommen. Viele tibetische Bauern und Nomaden haben zwar kein fixes Einkommen, aber sie versorgen sich seit Jahrhunderten selbst.
Die traditionelle Lebensweise der Tibeter*innen war für die Kommunistische Partei seit jeher ein Ärgernis, denn sie durchkreuzte ihren totalitären Herrschaftsanspruch. Die Nomaden im weitläufigen Hochland lassen sich schwerer kontrollieren als Lohnarbeiter in den Städten. Und selbst nach siebzig Jahren Besatzung verehren die Menschen in Tibet den Dalai Lama ungebrochen.
Bis im Jahr 2018 lebten nach offiziellen Statistiken noch rund 70 Prozent der Menschen in Tibet auf dem Land. Nun werden sie unter Druck gesetzt, ihre Äcker und Herden an staatliche Genossenschaften abzutreten. Nach ihrer „Ausbildung“ werden viele Tibeter*innen ihren Familien entrissen und in andere Landesteile verschickt, wo sie im Straßen- und Bergbau, in Fabriken, Wäschereien, Restaurants oder Kantinen schuften müssen. Unternehmen können bei der kommunistischen Führung die gewünschte Menge an Arbeitern regelrecht bestellen.
Seit siebzig Jahren lebt Tibet unter chinesischer Besatzung. Die renommierte Nichtregierungsorganisation Freedom House zählt Tibet zu den drei unfreisten Territorien der Welt – gemeinsam mit den Bürgerkriegsländern Syrien und Südsudan.13 Trotzdem spielt Tibet im öffentlichen Diskurs fast keine Rolle. Kein Wunder: Die chinesische Regierung hat aus dem besetzten Land ein Gefängnis gemacht, aus dem kaum noch eine Information herausdringt. Weder ausländische Journalisten, noch Diplomatinnen oder UN-Beobachter dürfen einreisen. Tibet wäre ein dringender Fall für den UN-Menschenrechtsrat – säße dort nicht seit neustem China.
Die deutsche Politik darf die Menschen in Tibet nicht im Stich zu lassen. Der Menschenrechtsdialog mit China ist gescheitert, die Hintertür-Diplomatie hat die Menschenrechtslage in Tibet nicht verbessert. Im Gegenteil: Die Führung in Peking hat ihr Unterdrückungs- und Überwachungssystem weiter ausgebaut. Ihre Minderheitenpolitik hat eine neue Aggressivität erreicht. Wir fordern die deutsche Politik dazu auf, klar Stellung zu beziehen und die Menschenrechtsverbrechen in Tibet auf höchster diplomatischer Ebene zu verurteilen. Zwangsarbeit, Folter und Überwachung müssen auch in Verhandlungen über Verträge wie dem Investitionsabkommen zwischen der EU und China zur Sprache kommen. Der chinesischen Führung muss deutlich gemacht werden, dass sie ohne einen nachhaltigen Kurswechsel mit wirtschaftlichen und diplomatischen Konsequenzen zu rechnen hat. Ferner sollte sollt man deutsche Unternehmen dazu verpflichten, ihre Lieferketten zu überprüfen, so dass sichergestellt ist, dass deutsche Produkte nicht von tibetischen Zwangsarbeiter*innen hergestellt werden.
Last modified: 26. Januar 2021