Sechs Fragen – fünf Parteien – vier Antworten: Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament haben wir die Europa-Fraktionen fünf deutscher Parteien um Auskunft zu ihrer künftigen Tibet-Politik gebeten. Das Ergebnis: Viele sehen zwar Handlungsbedarf, konkrete Rezepte sind jedoch Mangelware. Eine Partei hatte offenbar gar keine Antworten parat.
Quer durch die Parteien fielen die Auskünfte in Umfang und Detail sehr unterschiedlich aus. Während die Fraktionen von CDU / CSU, FDP und DIE LINKE unsere Fragen recht ausführlich beantworteten, fielen die Antworten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eher einsilbig aus. Während sich die Bündnisgrünen aber immerhin äußerten, ignorierte die SPD unsere Anfrage bisher vollständig.
Dabei waren unsere Fragen nicht schwer: Wir wollten wissen, wie sich die Parteien künftig in Europa für eine Verbesserung der menschenrechtlichen Lage in Tibet einsetzen wollen und welche politischen Lösungen sie dabei verfolgen. Wir haben die Antworten der Fraktionen auf unsere sechs Fragen nach Themenbereichen zusammengefasst und stellen jeweils eine kurze Einordnung voran. Wer also noch eine Entscheidungshilfe für die Europawahlen am 26.05.2019 braucht, wird hier vielleicht fündig.
Die Standpunkte der Parteien im Überblick
1. Zur Menschenrechtslage in Tibet
Als erstes wollten wir wissen: „Wie bewertet Ihre Fraktion die Menschenrechtslage in Tibet?“ Erfreulicherweise erkennen alle Parteien, die uns geantwortet haben, die verheerende Menschenrechtssituation in Tibet mehr oder weniger an. Die CDU / CSU benennt dabei sogar konkrete Handlungsfelder, die FDP sieht das Thema Menschenrechte allgemein weit oben auf ihrer Agenda.
DIE LINKE benennt die Menschrechtsverstöße ebenfalls klar, sieht jedoch auch Fortschritte in Tibet, etwa beim Zugang zu Bildung und zu medizinischer Versorgung. Ob das für alle Tibeter wirklich so gilt, ist fraglich. Es gab in der Vergangenheit immer wieder Hinweise darauf, dass Tibeter bei der Gesundheitsversorgung gegenüber Menschen chinesischer Abstammung benachteiligt werden.
Die Linke: „Situation in Tibet muss sich ändern“
DIE LINKE schätzt die Situation in Tibet als ambivalent ein. Zwar sieht sie in den letzten Jahrzehnten Fortschritte in Bezug auf soziale Menschenrechte, etwa was den Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung angeht. Gleichzeitig gesteht sie Rückschritte bei politischen Menschenrechten ein, etwa bei Religions-, Rede- und Versammlungsfreiheit sowie beim „Umgang mit ethnischen Minderheiten“. „Besonders erschreckend sind hier die Berichte aus Xinjiang. Aber auch die Situation in Tibet (…) muss sich dringend ändern.“
Bündnis 90 / Die Grünen: „Menschrechtslage in Tibet hat sich verschlechtert“
Die Grünen halten sich kurz und weisen darauf hin, dass sich die Situation in Tibet „in den letzten zehn Jahren systematisch verschlechtert“ hat. Das sei allerdings auch in anderen Teilen Chinas der Fall.
CDU / CSU: „Tibet der Repression durch die Volksrepublik China ausgesetzt
Die Fraktion der CDU / CSU geht stärker ins Detail und spricht die „vorherrschenden Massenüberwachungsprogramme in Tibet“ an. „Hunderte von Tibetern“ säßen aus politischen Gründen im Gefängnis. Kritisiert werden zudem die zunehmende Einschränkung der Religionsfreiheit und das Top-Down-Modell der Wirtschaftsentwicklung, das die Lebensgrundlagen der tibetischen Bevölkerung „auf inakzeptable Weise“ unberücksichtigt lasse.
FDP: „Unterdrückung der Tibeter und Menschenrechtsverletzungen müssen aufhören“
Die FDP bekennt sich ganz allgemein „zur Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte“. Man lehne „jegliche Versuche ab, deren Anwendbarkeit zu relativieren“. Konkret sieht die Fraktion auch die Menschenrechte der in Tibet lebenden Menschen bedroht. „Die Unterdrückung der Tibeter und Menschenrechtsverletzungen müssen sofort aufhören.“
2. Zur Lösungsfindung der Tibet-Frage
Als nächstes haben wir die Parteien um Lösungsvorschläge gebeten. Wir wollten wissen: „Was will Ihre Fraktion zur Lösung der Tibet-Frage beitragen?“ Dabei haben wir insbesondere nach konkreten Ideen in den Bereichen Menschenrechte und Umweltschutz gefragt. Außerdem haben wir gefragt, wie die Fraktionen sich in Straßburg dafür einsetzen wollen, dass Diplomaten, Journalisten und NGOs freien Zugang nach Tibet erlangen.
Am konkretesten wird in dieser Frage wiederum die CDU/CSU-Fraktion, die neben Resolutionen auch direkte Gespräche mit chinesischen Regierungsvertretern für einen guten Weg hält. DIE LINKE äußert sich ausführlicher zum Thema Umweltschutz, vernachlässigt aber die Frage nach den Menschenrechten. Und die Grünen wissen nicht, was mit „Lösung der Tibet-Frage“ gemeint sein soll.
Keine der Fraktionen geht im Detail auf die seit Jahren zunehmende Sinisierung Tibets ein. DIE LINKE lobt gar das Umweltbewusstsein Chinas. Für eine andere Sichtweise empfehlen wir zur Lektüre unsere Talking Points zum Raubbau in Tibet.
DIE LINKE: „Engagement im Europäischen Parlament fortsetzen“
DIE LINKE ist interessiert an einer Fortsetzung des Dialogs über Tibet im Europäischen Parlament, ohne allerdings die „territoriale Integrität der Volksrepublik China“ infrage zu stellen. Angestrebt werde eine „für alle Seiten zufriedenstellende Lösung der Frage nach Selbstbestimmung und kultureller Autonomie“. Gelobt wird das wachsende Umweltbewusstsein in China parallel zur industriellen Entwicklung. Die eigentliche Frage nach einer Lösung im Hinblick auf die Menschenrechtslage wird nicht behandelt.
Im Hinblick auf eigene Einflussnahme sieht die Fraktion ihre Möglichkeiten begrenzt: „Wir sind nicht Teil der Bundesregierung und stehen in keinem offiziellen Kontakt zur Regierung der VR China.“ Jedoch fordere man gegenüber der Bundesregierung und EU-Außenministerin Federica Mogherini („Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik“) ein entsprechendes Engagement ein.
Bündnis 90 / Die Grünen: „Sind keine Anhänger einer tibetischen Unabhängigkeit“
“Wir wissen nicht, was Sie mit „Lösung der Tibet-Frage“ meinen“, schreiben uns die Bündnisgrünen auf unsere Fragen. Die Fraktion setze sich ein für „die Verwirklichung tibetischer Autonomie im Rahmen der chinesischen Verfassung“ und gesteht: „Wir sind keine Anhänger einer tibetischen Unabhängigkeit.“
Die weiteren Antworten sind wiederum kurz gehalten: Wenn die Führung in Peking den Dialog mit dem Dalai Lama suche, begrüße man dies. Die Lage in Tibet sei regelmäßig Bestandteil der eigenen Arbeit zur Entwicklung in China. Und man setze sich bereits heute für einen freien Zugang von Journalisten nach Tibet ein.
CDU / CSU: „In Gesprächen mit chinesischen Regierungsvertretern einsetzen“
CDU / CSU wollen sich im Europäischen Parlament vor allem durch Resolutionen und in Gesprächen mit chinesischen Regierungsvertretern dafür einsetzen, „dass die chinesische Regierung die Menschenrechte in Tibet achtet, die tibetische Bevölkerung bei der Planung und Umsetzung von Projekten einbindet und alles für den Schutz der Umwelt in Tibet unternimmt“.
Auch der Abbau von Beschränkungen der Reisefreiheit und der Berichterstattung in Tibet wird durch Gespräche mit chinesischen Regierungsvertretern angestrebt. Die Fraktion benennt darüber hinaus konkreten Handlungsbedarf bei Umweltthemen wie dem Bau von Staudämmen, der Bergbauindustrie und der Waldrodung.
FDP: „China ermutigen, mit Tibetern in einen Dialog einzutreten“
Die FDP fasst ihre Lösungsansätze dagegen etwas weiter. Man ermutige die chinesische Regierung, „mit den Tibetern in einen erneuten Dialog einzutreten und ihren Wunsch nach größtmöglicher Autonomie sowie die Rechte der Tibeter auf Religionsfreiheit, Schutz ihrer Kultur und Sprache zu respektieren“.
Im Europäischen Parlament wolle man Entscheidungsträger und Öffentlichkeit auf Themen wie die konkreten Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen – und diese auch „in Resolutionen des Europäischen Parlaments“ bringen. Von zentraler Bedeutung sei der freie Zugang von Diplomaten, Journalisten und NGOs nach Tibet: „Wir werden im Europäischen Parlament dafür werben, dass die Forderung danach in den Gesprächen mit der chinesischen Regierung solange wiederholt wird, bis der freie Zugang gewährt wird.“
3. Zur Haltung gegenüber China und der tibetischen Exilregierung
Zuletzt wollten wir wissen, wie sich die Fraktionen zu China positionieren, wenn es um die internationalen wirtschaftlichen Bestrebungen geht, etwa beim sogenannten Seidenstraßen-Projekt. Gleichzeitig haben wir gefragt, welche Rolle die tibetische Exilregierung nach Ansicht der Fraktionen bei der Verbesserung der Menschenrechtslage in Tibet kann.
Gehofft hatten wir in allen Fraktionen auf eine klare Priorisierung der Menschenrechte über wirtschaftliche Interessen, solche Abwägungen kommen aber eher am Rande zur Sprache. Vielmehr begrüßen alle Fraktionen das wirtschaftliche Engagement Chinas, warnen aber zugleich vor einer zu starken hegemonialen Stellung Pekings. Die Rolle der tibetischen Exil-Regierung wird unterschiedlich eingeschätzt: Während sich Grüne und LINKE zurückhaltend äußern, würden CDU / CSU und FDP ein stärkeres Engagement begrüßen.
DIE LINKE: „Tibet ist für uns Teil der VR China“
DIE LINKE lobt Chinas „beachtliche wirtschaftliche Entwicklung“ der letzten Jahrzehnte und hält die steigenden außenwirtschaftlichen Aktivitäten für „selbstverständlich“. Neben Chancen – etwa den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur entlang der neuen Seidenstraße – ergäben sich dadurch aber auch Risiken, etwa durch Überschuldung und Abhängigkeiten. Nach Einschätzung der Fraktion eröffnet eine stärkere Zusammenarbeit mit China vielen Ländern die Möglichkeit, „aus bisherigen einseitigen Abhängigkeiten von der USA oder der EU aussteigen zu können“.
Die tibetische Exilregierung könne in Menschenrechtsfragen „ein interessanter Gesprächspartner“ sein, aber die offiziellen Kontakte in China nicht ersetzen. „Tibet ist für uns ein Teil der VR China.“
Bündnis 90 / Die Grünen: „Haben keine Beziehung zur Exilregierung“
Die Grünen stellen sich gegen ein „Großmachtstreben einzelner Länder nach wirtschaftlicher, politischer oder militärischer Hegemonie“ – das gelte auch für China. Man halte an der Ein-China-Politik fest, erwarte aber umgekehrt von China eine „Ein-Europa-Politik“, bei der einzelne europäische Länder nicht gegeneinander ausgespielt würden. Konkret bestehen die Grünen bei Chinas Seidenstraßen-Projekt auf „Multilateralismus, auf die Einhaltung internationaler Standards und Verpflichtungen, auf die Vermeidung von Schuldenfallen (…) sowie auf Nachhaltigkeit und faire Wettbewerbsbedingungen“.
Zur Einstellung gegenüber der tibetischen Exilregierung heißt es lapidar: „Wir haben keine Beziehungen zur „tibetischen Exilregierung“.
CDU / CSU: „Tibetische Exilregierung ist wichtiger Gesprächspartner bei Rechten der Tibeter“
CDU / CSU stehen dem Beitrag Chinas zum internationalen Wirtschaftsleben grundsätzlich positiv gegenüber. Voraussetzung sei jedoch, auf Augenhöhe und auf der Basis der Agenda 2030“ geschieht, in der 2015 Nachhaltigkeitsziele für die internationale Zusammenarbeit formuliert wurden. China müsse die Zusicherungen des EU-China-Gipfels 2019 zügig umsetzen, Infrastrukturprojekte wie die „Neue Seidenstraße“ müssten „unter Einhaltung internationaler Sozial-, Umwelt-, Menschenrechts- und Ausschreibungsstandards“ ausgehandelt werden.
Die Fraktion zeigt sich offen gegenüber dem Einbezug der Exilregierung: „Die tibetische Exilregierung ist ein wichtiger Gesprächspartner, wenn es um die Rechte der Tibeter und um die Verbesserung der Menschenrechtslage in Tibet geht.“ Man ermutige chinesische Regierungsvertreter in Gesprächen, das direkte Gespräch mit der tibetischen Exilregierung zu suchen.
FDP: „Unterstützen die Bestrebungen der Tibeter nach größtmöglicher Autonomie“
Die FDP sieht China als neue globale Wirtschaftsmacht und will die Zusammenarbeit mit China grundsätzlich stärken. „Dort, wo jedoch chinesisches Handeln im deutlichen Widerspruch zu freiheitlichen Werten und Menschenrechten steht (…), wollen wir unsere liberalen Grundprinzipien und Interessen selbstbewusst verteidigen.“
Mehr als um die Verstöße gegen Menschenrechte sorgt sich die Fraktion aber um die Verstöße gegen Handelsregeln. Im Bereich Entwicklungszusammenarbeit versucht die Fraktion zumindest den Spagat zwischen wirtschaftlichen Vorteilen und der Einhaltung der Menschenrechte: Man erhoffe sich von der Europäischen Union eine Alternative, „die die gleichen wirtschaftlichen Vorteile bietet, und gleichzeitig auch nachhaltige Entwicklung und Einhaltung der Menschenrechte fördert und fordert“.
Die FDP wünscht sich eine Vertiefung des Dialogs der chinesischen Regierung mit der tibetischen Exilregierung. Dabei unterstütze man die Bestrebungen der Tibeter „nach größtmöglicher Autonomie, Religionsfreiheit und den Wunsch, ihre Sprache zu schützen und ihre Kultur frei auszuleben“.
Last modified: 15. Mai 2019