
Am 7. November beginnt die 27. UN-Klimakonferenz im ägyptischen Scharm asch-Schaich. Zu dieser Gelegenheit reist eine Delegation von fünf tibetischen Umwelt-Expertinnen und Aktivistinnen an, um auf die Bedeutung Tibets für die Folgen des Klimawandels hinzuweisen, neue Forschungsergebnisse zu präsentieren und Kritik an der Klimapolitik der Kommunistischen Partei Chinas zu äußern.
Das tibetische Hochplateau wird aufgrund seiner Eismassen häufig auch als Dritter Pol der Erde bezeichnet. Hier entspringen etwa die Flüsse Amudarja, Indus, Ganges, Irrawaddy, Mekong, Jangtse und der Gelbe Fluss. Sie versorgen u.a. Afghanistan, Tadschikistan, Indien, Pakistan, Vietnam und China mit Trinkwasser, Wasser für Landwirtschaft und Energie. Für rund zwei Milliarden Menschen stellen die Wasserressourcen des Himalajas ein vitales Gut dar.
Die Volksrepublik China betrachtet die über 45.000 tibetischen Gletscher ebenso als nationales Eigentum, wie das Wasser das aus ihnen abfließt. Für Tibet und die umliegenden Länder ist der Zugang zu Wasser eine lebensnotwendige Ressource, die aus gleich mehreren Gründen bedroht ist. Die Bewertung der vorhandenen Gletscher, Schnee- und Firnmassen setzt voraus, dass Wissenschaftler sie selbst in Augenschein nehmen können und aktuelle präzise Daten zur Verfügung stehen. Peking ist jedoch bekannt dafür, dass es solche Zahlen den politisch-wirtschaftlichen Bedürfnissen des eigenen Landes anpasst – im Hinblick auf verlässliche regionale Daten ist die internationale Klimawissenschaft also häufig blind. Wenn wir nicht wissen, wie viel Wasser für Landwirtschaft, Industrie und Speicherung abgezweigt wird, kann kein faires Abkommen mit den Nachbarstaaten getroffen werden.
Womit wir bei einigen der regionalen Hauptprobleme angelangt wären. Der Bau von Megastaudämmen zur Gewinnung von Hydrostrom ändert das Abflussverhalten (was Landwirtschaft nicht mehr planbar macht), lässt Flüsse vertrocknen, kann Erdbeben verursachen und setzt dem Ökosystem massiv zu. Die zunehmende Extraktion von Rohstoffen geht häufig mit der Degradation von Böden und der Kontamination von Flüssen einher. Schwermetalle und andere giftige Stoffe werden als Schwebfracht in Flüssen in die umliegenden Länder transportiert, wo sie Fische vergiften, ins Grundwasser eindringen und Trinkwasser ungenießbar machen. Hinzu kommt das Problem der Rußbildung durch die ungefilterte Verfeuerung von Holz und Kohle, was das Abschmelzen der Gletscher zusätzlich beschleunigt: dunkle Partikel bedecken das Eis und erhöhen dadurch die Absorption langwelliger Strahlen, also Wärme.
Der Dritte Pol ist eine der Weltregionen, in denen die bodennahen Lufttemperaturen am schnellsten steigen. Hier werden die Konsequenzen des Klimawandels in den kommenden Jahrzehnten am dramatischsten sein. Auf eine Zeit steigender Abflüsse, die zur Bildung von Gletscherstauseen – was die Wahrscheinlichkeit von Mega-Überschwemmungen erhöht – führt, wird eine Periode folgen, in der immer weniger sauberes Wasser für täglichen Gebrauch, Landwirtschaft und Tiere zur Verfügung stehen wird. Je weiter Menschen von den Quellen der Flüsse entfernt wohnen, desto schlimmer werden die Bedingungen für sie. Häufig versiegen Flüsse lange bevor sie ihre früheren Deltas – zumeist sehr fruchtbare und dicht besiedelte Regionen – erreichen. Intra- und internationale Wanderungsbewegungen und Ressourcenkonflikte werden nicht lange auf sich warten lassen.
Um die Folgen einer nicht nachhaltigen, intransparenten und nationalistischen Wasserpolitik Chinas greifbar zu machen, sei kurz der Fall des Balchaschsees geschildert: Dieser sichelförmige See im Süden Kasachstans bezieht sein Wasser aus den Gletschern des chinesischen Tian Shan Gebirges. Da sich das Gewässer und dessen wichtigster Zufluss, der Ili, in einer Wüsten- und Steppenregion befindet, stellt es für Millionen von Menschen die wichtigste Ressource dar. Die Millionenstadt Almaty und zahllose Dörfer sind auf den Ili und den Balchaschsee für Trinkwasser, Landwirtschaft, Fischerei, Tourismus und Energieproduktion angewiesen. Die Volksrepublik China vollzieht aktuell eine beschleunigte Entwicklung der autonomen Region Ostturkestans, in der sich die Quellen des Ili befinden. Durch den Bau von Staudämmen, Kraftwerken und Kanälen wird immer mehr Wasser abgeschöpft. Durch Landwirtschaft, Bergbau und Industrie gelangen Schwermetalle, Düngemittel und andere Substanzen in das Wasser und werden ins Nachbarland transportiert, wo sie die Böden (und folglich auch Nahrungsmittel) belasten. An genauen Daten fehlt es ebenso, wie an verbindlichen internationalen Wasserabkommen. Als übermächtiger regionaler Hegemon und faktischer Eigentümer der Wasserquellen sieht sich China ausschließlich seinem eigenen Wohl verpflichtet. Die Konsequenzen hiervon könnten katastrophal sein. Sollte der Wasserverbrauch Chinas im gleichen Tempo steigen, würde der Stand des Balchaschsees schnell einen Punkt erreichen, an dem das gesamte Gewässer versalzt. Millionen von Menschen würden sich in einem Ökosystem wiederfinden, das schlicht lebensfeindlich ist. Die historisch größte menschengemachte Umweltkatastrophe, die durch die sowjetische Landwirtschaft verursachte Verlandung des Aralsees, würde sich wiederholen. Der Landesteil würde sich ebenso wenig regenerieren lassen, wie die Aral-Region. Er wäre eine toxische Ödnis.
Die UN-Klimakonferenz ist der geeignete Ort, um auf die potentiell katastrophale chinesische Umweltpolitik hinzuweisen. Die Regierung in Peking muss dazu verpflichtet werden, internationalen Wissenschaftlern ungehindert Zugang zu gewähren. Es braucht aktuelle, seriös erhobene und umfangreiche Daten und Kontrollmechanismen. Die Entwicklungspolitik in Tibet und Ostturkestan gehört auf den Prüfstand. Landwirtschaft, Energiegewinnung, Bergbau und Wasserspeicherung müssen im Hinblick auf die Bedürfnisse der örtlichen Bevölkerung und der Anrainerstaaten – und stets in Abstimmung mit diesen – angepasst werden.
Weitere Informationen zur tibetischen COP-27-Delegation und ihrer Arbeit unter: https://tibetclimatecrisis.org/
Kontakt: Marek Felten aktion@tibet-initiative.de
Last modified: 8. November 2022