Interview mit dem tibetischen Filmemacher und ehemaligen politischen Gefangenen Dhondup Wangchen

(c) Filming for Tibet
Dhondup Wangchen wurde am 17. Oktober 1974 im Osten der Provinz Amdo, unweit von Xining, in einer Bauernfamilie geboren. Als Siebzehnjähriger zog er nach Lhasa, wo er die Niederschlagung von Demonstrationen miterlebte. Das politisierte ihn, und er beteiligte sich fortan selbst an kleineren Protesten. 1993 ging er nach Dharamsala, um den Dalai Lama zu sehen, anschließend kehrte er nach Tibet zurück. Im Vorfeld der Olympischen Spiele von Beijing 2008 fasste er den Entschluss, gemeinsam mit seinem Freund Golog Jigme einen Dokumentarfilm über die Stimmung in Tibet zu drehen, der später unter dem Titel „Leaving Fear Behind“ bekannt wurde. Dazu interviewten sie über hundert Männer und Frauen, vor allem im Osten Tibets. Es gelang ihnen – ungeachtet der allgegenwärtigen Überwachung – das Projekt bis zum Ende der Dreharbeiten geheim zu halten. Als die Behörden schließlich davon erfuhren, hatten sie das Filmmaterial bereits ins Ausland geschafft. 2007 wurde Dhondup Wangchen verhaftet. Erst ein Jahr später wurde er zu sechs Jahren Gefängnis wegen „Staatsgefährdung“ verurteilt. Am 5.Juni 2014 wurde er nach vollständiger Verbüßung seiner Haftstrafe freigelassen, jedoch weiterhin überwacht. Im Dezember 2017 gelang ihm die Flucht ins Ausland. Heute lebt er mit seiner Frau und den vier Kindern in den USA. Auch seine Eltern haben sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht und leben heute in Australien. Klemens Ludwig sprach mit Dhondup Wangchen über die Entstehung des Films, seine Hoffnungen und den ungebrochenen Widerstand der Tibeter. Sein Sohn Tenzin Norbu hat das Gespräch übersetzt.
Dein Film „Leaving Fear Behind“ hat im Vorfeld der Olympischen Spiele in Beijing Furore gemacht und vielen Menschen die Augen geöffnet. Gleichzeitig war aber klar, wie hart dich die chinesische Regierung dafür bestrafen würde. Wieso hast du dieses Risiko in Kauf genommen?
Es war einfach die schwierige Lage, in der wir leben, die mich dazu bewogen hat, diesen Film zu machen. Alle unsere Rechte sind beschnitten, die Religionsfreiheit, die Bewegungsfreiheit. Wir sind Gefangene in unserem eigenen Land. Gleichzeitig behauptet die Kommunistische
Partei, sie habe viel Fortschritt nach Tibet gebracht, Straßen gebaut, Arbeitsmöglichkeiten geschaffen und damit unser Leben verbessert. Das sind alles Lügen, denn diese Projekte kommen vor allem den Chinesen zugute. Gegen diese Lügen wollte ich ein Zeichen setzen. Dabei war ich mir der Gefahr sehr bewusst. Ich wusste, was auf mich zukommt, und bereitete mich auf das Gefängnis vor. Wegen kleinerer Protestaktionen war ich zuvor bereits kurze Zeit im Gefängnis gewesen.
Wie hat deine Familie auf deine Pläne reagiert?
Wie man im Zusammenhang mit den Selbstverbrennungen sieht, verhängt China häufig Sippenhaft gegen Angehörige von Aktivisten. Meine Familie hat die Pläne natürlich unterstützt, aber uns allen war die Gefahr bewusst. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass meine Frau und die vier Kinder vorher nach Indien gingen. Während des Drehs haben sie bereits in Dharamsala gelebt.
Hat dich auch dein Glaube motiviert, ein solches Risiko auf dich zu nehmen, ein solches Opfer für den tibetischen Freiheitskampf zu bringen?
All unsere Protestformen haben keinen direkten religiösen Bezug. Bei unserem Kampf geht es aber nicht nur um unsere Freiheit, es geht auch um die Wahrheit, und insofern hat er mit Ethik und Religion zu tun. In deinem Film sind alle Frauen und Männer, die interviewt werden, deutlich zu erkennen. Sie könnten von der Polizei leicht identifiziert werden.
War ihnen das bewusst?
Selbstverständlich. Ich habe alle meine Interviewpartner über meine Absichten informiert. Ich habe ihnen auch angeboten, sie nicht zu zeigen, während sie sprechen. Die meisten aber wollten unbedingt gezeigt werden, um deutlich zu machen, dass sie für ihre Sache eintreten. Sie haben die Möglichkeit, der Welt die Wahrheit über Tibet und unsere Verbindung zu Seiner Heiligkeit mitzuteilen, gern ergriffen und waren bereit, dafür
alle Konsequenzen auf sich zu nehmen.
Im März 2008 wurdest du in Lhasa verhaftet, aber offenbar nicht wegen des Films?
Nein, das Rohmaterial des Films hatte ich bereits in sichere Hände gegeben, und die chinesischen Behörden wussten noch nichts davon. Es hatte ja kurz zuvor, von Lhasa ausgehend, den großen Aufstand gegeben. Danach verhafteten die Behörden viele Menschen allein aufgrund des Verdachts, sie hätten sich an den Protesten beteiligt. So erging es auch mir, denn ich war ihnen bereits bekannt. Erst im August erfuhren sie von dem Film und brachten ihn mit mir in Verbindung, und erst über ein Jahr später folgte der Prozess, bei dem ich zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde.
Kannst du etwas über die Haftbedingungen sagen? Wie hast du das überstanden?
Generell werden politische Gefangene noch schlimmer behandelt als gewöhnliche Kriminelle. Ich musste während der ganzen Zeit pro Tag 16 bis 17 Stunden Zwangsarbeit leisten. Die Kriminellen bekommen, wenn sie Zwangsarbeit leisten, etwas von der Haftzeit erlassen. Bei den Politischen ist das nicht der Fall. Die Versorgung und die sanitären Anlagen waren ganz schlecht, aber mir hat in gewisser Weise mein Stolz geholfen zu überleben. Ich wusste, dass ich nicht im Gefängnis war, weil ich etwas Böses oder Selbstsüchtiges getan hatte. Ich war dort, weil ich meinem Volk gedient hatte. Auch mein buddhistischer Glaube an den Kreislauf der Wiedergeburten hat mir Kraft gegeben und geholfen, die Zeit zu überstehen. Schließlich war auch meine Haftzeit von sechs Jahren überschaubar. Andere politische Gefangene werden zu zwanzig Jahren oder lebenslänglich verurteilt.
Es gab von Beginn an eine große internationale Kampagne für deine Freilassung. Hast du davon etwas mitbekommen?
Direkt nicht, wir waren ja isoliert, aber indirekt sehr wohl. Die Wärter waren relativ vorsichtig mit mir, normalerweise werden politische Gefangene härter behandelt. Manchmal haben sie mich sogar gefragt, woher denn die Welt von meinen Aktivitäten wisse? Dadurch wusste ich, dass ich nicht vergessen war, sondern dass man sich für mich einsetzte und der Film bekannt wurde.
Also war die internationale Unterstützung für dich sehr hilfreich?
Ja, unbedingt, sie hatte für mich einen sehr positiven Effekt, denn sie hat mich vor den gröbsten Misshandlungen bewahrt. Ich möchte allen danken, die dazu beigetragen haben.
Das ist aber offenbar nicht immer der Fall. Für den Lehrer und Umweltaktivisten Tenzin Delek Rinpoche, der aus fadenscheinigen Gründen erst zum Tode und dann zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, gab es auch eine große internationale Kampagne. China zeigte sich davon unbeeindruckt, und er starb nach 13 Jahren im Gefängnis, nachdem er schwer misshandelt worden war.
Das gibt es natürlich auch, zu den Hintergründen kann ich nichts sagen. Ich kann nur sagen, dass mir die internationale Unterstützung sehr geholfen hat.
Eine ganz andere Frage, was hat sich in Tibet verändert während der Zeit, als du im Gefängnis warst?
Alles ist noch schlimmer geworden. Es gibt noch mehr Kontrollen überall, noch mehr Sicherheitsposten auf allen Straßen, noch mehr Kameras, wir Tibeter werden vollständig überwacht. Es ist zudem sehr viel schwerer, eine Pilgerfahrt nach Lhasa zu machen. Früher war das nicht so schwierig, heute benötigt man eine Erlaubnis dafür. Dazu kommen die Millionen von Chinesen, die in Tibet angesiedelt werden und uns zur Minderheit machen, sowie schwere Menschenrechtsverletzungen.
Gibt es angesichts dieser Umstände überhaupt noch Hoffnung für die Tibeter?
Natürlich. Wenn die chinesische Regierung ihre Sicherheitsmaßnahmen und Repressionen so sehr verschärft, dann bedeutet das doch, dass sie unsicher ist, dass sie Angst hat. Die Chinesen haben zwar unser Land und unsere Ressourcen unter ihre Kontrolle gebracht, aber nicht unseren Geist und unsere Herzen. Und auch nicht im geringsten unseren Glauben an Seine Heiligkeit. Solange dieser noch lebendig ist, gibt es Hoffnung.
Welche Rolle können die Unterstützer-Organisationen spielen, um diese Hoffnung am Leben zu halten?
Sie spielen eine sehr bedeutende Rolle. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, der Welt zu vermitteln, wie die Situation in Tibet wirklich ist, denn sie hat nichts mit der Propaganda der Chinesen zu tun. Außerdem können sie die ethischen Fragen des Konflikts öffentlich machen: Vielen Menschen ist sicher gar nicht bewusst, was es bedeutet, wenn sie Geschäfte mit China machen oder chinesische Waren kaufen, nämlich 16, 17 Stunden Zwangsarbeit von Gefangenen, sieben Tage die Woche, um so billig produzieren zu können.
Können die Tibeter auch auf sonstige internationale Unterstützung hoffen?
Im Moment ist das schwierig, allerdings müssen wir auch dafür das Bewusstsein schärfen, dass viele der kleinen Staaten in Asien ebenfalls von China bedroht sind, Nepal zum Beispiel. Mit seinem Geld und seinen Investitionen beherrscht China das Land mehr und mehr.
Hast du Kontakt zu Chinesen?
In Tibet hatte ich keinen Kontakt zu Chinesen, jetzt in den USA gibt es aber bereits einige Kontakte, natürlich nicht zu chinesischen Staatsbürgern, aber zu Oppositionellen und Freiheitskämpfern. Erst kürzlich hatte ich ein Interview mit der chinesischen Abteilung von Radio Voice of America. Das hat mich sehr gefreut.
Herzlichen Dank für deine Ausführungen und alles erdenklich Gute für die Zukunft.
// Klemens Ludwig
Das Interview ist in Brennpunkt Tibet, Ausgabe 2/2018 erschienen.
Auch erschienen auf DIE WELT, 17.07.2018
Last modified: 17. Juli 2018