Lage vor Ort: Was wir wissen
Am Morgen des 7. Januar 2025 erschütterte ein verheerendes Erdbeben den tibetischen Kreis Shigatse, das Beben erreichte eine Stärke von 7,1 auf der Richterskala. Das Epizentrum lag in Dingri, in der Nähe des Mount Everest, aber die Auswirkungen waren auch in den umliegenden Gebieten wie Ngamring, Lhatse, Dingkye und der Stadt Shigatse zu spüren. Chinesischen Staatsmedien zufolge starben mindestens 126 Menschen, mehr als 180 Menschen wurden verletzt und rund 1.000 Häuser zerstört (Stand: 8.1.2025, 15:00 deutsche Zeit). Die Region ist durch ihre geografische Lage besonders anfällig für Erdbeben, da sie auf der Kollisionslinie der indischen und eurasischen tektonischen Platten liegt. Radio Free Asia berichtet, dass Tibeter*innen aus ganz Tibet die Betroffenen in Dingri unterstützen: Videos, die Radio Free Asia vorliegen, zeigen Menschen, die Spendenaktionen für Schuhe, Decken, Lebensmittel, Wasser und andere grundlegende Dinge wie Toilettenpapier organisieren und diese in Lastwagen verladen, um sie zu verteilen.
Kein Zugang
Die Region steht vor einer schweren humanitären Krise, die die ohnehin vulnerable tibetische Gemeinschaft besonders hart trifft. Aufgrund strikter Restriktionen in der Tibetischen Autonomen Region (TAR) stellt humanitäre Hilfe für Tibet eine besondere Herausforderung dar. Seit den Aufständen während der Olympischen Spiele 2008 hat die chinesische Regierung die Bewegungsfreiheit von Tibeter*innen stark eingeschränkt und das Land abgeschirmt. Journalist*innen und unabhängige Beobachter*innen haben kaum Zugang zur Region. Informationen aus Shigatse sowie aus dem besonders betroffenen Gebiet Dingri stammen fast ausschließlich aus chinesischen Staatsmedien. Uns erreichen aber auch vereinzelt private Bilder, Videos und Nachrichten von mutigen Privatpersonen, die Inhalte über soziale Netzwerke teilen. Die angespannte Menschenrechtslage in Tibet erschwert die Kommunikation zwischen Betroffenen und ihren im Exil lebenden Verwandten zusätzlich. Viele Menschen bangen um ihre Familien und haben keine Möglichkeit, sich direkt auszutauschen. Es ist von zentraler Bedeutung, dass die internationale Gemeinschaft die Lage im besetzen Tibet aufmerksam beobachtet und mit notwendigen Hilfsmaßnahmen wo möglich unterstützt. Es muss sichergestellt werden, dass Hilfe tatsächlich bei den betroffenen Menschen ankommt.
Sorge vor Missbrauch der Situation
Angesichts der politischen Lage in Tibet haben wir große Sorge, dass die chinesische Regierung die Katastrophe für politische Zwecke nutzen könnte, ähnlich wie nach dem verheerenden Erdbeben in Jyeundo (Yushu) in Osttibet im April 2010. Damals wurde berichtet, dass Hilfsmaßnahmen dazu dienten, die chinesische Präsenz in Tibet zu stärken, einschließlich Zwangsumsiedlungen und Enteignungen. Die Bedürfnisse und die Würde der Opfer sowie ihrer Angehörigen müssen im Zuge der staatlichen Hilfsmaßnahmen respektiert werden.
Hilfe unter Achtung von Menschenrechten
Wir fordern von der chinesischen Regierung:
- Schutz der Meinungsfreiheit: Personen, die Informationen, Bilder oder Videos aus Tibet verbreiten, dürfen nicht verfolgt oder bestraft werden.
- Transparenz und Unabhängigkeit: Der gesamte Prozess von Rettungsmaßnahmen und Wiederaufbau muss transparent und nachvollziehbar erfolgen.
- Respekt vor Menschenrechten: Hilfsmaßnahmen und der Wiederaufbau dürfen nicht für politische Zwecke wie Zwangsumsiedlungen oder Enteignungen missbraucht werden.
Tibeter*innen müssen mit systematischer Diskriminierung und dem Fehlen grundlegender Menschenrechte kämpfen. Der Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und politischen Rechten bleibt massiv eingeschränkt. Nicht vorhandenes politisches Mitspracherecht führt auch zu vermeidbaren Gefahren bei Naturkatastrophen wie Erdbeben: So plant die chinesische Regierung Megastaudämme u.a. am Fluss Yarlung Tsangpo, der in der Nähe des nun betroffenen Gebiets Dingri verläuft. Im Falle eines Erdbebens könnten Dammbrüche verheerende ökologische und soziale Folgen haben, die sowohl Tibet als auch die flussabwärts gelegenen Länder beträfen.
Die Weltgemeinschaft ist aufgerufen, in dieser schweren Stunde Solidarität mit der tibetischen Gemeinschaft zu zeigen und sicherzustellen, dass die Opfer dieser Katastrophe nicht nur Hilfe, sondern auch Gerechtigkeit erfahren. Dafür ist es von entscheidender Bedeutung, dass Tibet sowohl humanitäre Unterstützung erhält als auch langfristig Freiheit und Selbstbestimmung erlangt.
Wir werden weiterhin alles in unserer Macht Stehende tun, um die grundlegenden Rechte und die Würde des tibetischen Volkes zu verteidigen.
Last modified: 8. Januar 2025