Für Chinas Regierung hat Wassersicherheit oberste Priorität. Deshalb baut sie riesige Staudämme, deren Bau Tibeter*innen aus ihrer Heimat vertreibt. Und auch Tiere –darunter viele gefährdete Arten – sind bedroht.
VON NEERAJ SINGH MANHAS
China, wo mehr als 20 Prozent der Weltbevölkerung leben, verfügt über die größten Süßwasserreserven außerhalb der Polarregionen, was aber nur 7 Prozent der globalen Ressourcen sind. Die großen Flüsse, die auf dem Hochland von Tibet entspringen, wie der Indus (Sengye Khabab), der Brahmaputra (Yarlung Tsangpo), der Salween (Gyalmo Ngulchu), der Mekong (Zachu), der Yangtse (Drichu) oder der Huang He/Gelber Fluss (Machu), werden an ihren Oberläufen von gewaltigen Staudämmen aufgestaut.
Im Bemühen, die städtische Bevölkerung zu versorgen und die landwirtschaftlichen Gebiete zu schützen, die etwa 1,4 Milliarden Menschen ernähren, hat China die Sicherung von Tibets Wasserressourcen zur Priorität erklärt. Zudem ist das in China verfügbare Wasser ungleich verteilt. Um den massiven Druck zu mindern, der vom Norden Chinas auf die Wasserressourcen ausgeübt wird, initiierte die politische Führung 2003 ein gigantisches Projekt zur Umleitung von Wasser von Süden nach Norden. Dazu gehört ein geradezu wahnsinniger Bau von Staudämmen, um auch Chinas unbändigem Hunger nach Elektrizität nachzukommen und die Abhängigkeit von Kohle zu verringern.
Der Bau und der Betrieb dieser Staudämme geben jedoch Anlass zu ökologischer und politischer Sorge. Aus ökologischer Sicht wirken sich die Dämme auf die lokalen Ökosysteme und die biologische Vielfalt aus, da sie zu erheblichen Veränderungen der Strömung und des Sediment-Transportes der Flüsse führen. Politisch gesehen verschafft die Kontrolle über diese Wasserressourcen China erheblichen Einfluss auf die flussabwärts gelegenen Länder in Südasien und Südostasien. Außerdem bildet die Wasserkraft das Kernstück der chinesischen Pläne für erneuerbare Energien, die seit 2020 ehrgeizig ausgebaut werden sollen. Um sein Image im Kampf gegen den Klimawandel zu stärken und die massive Verschmutzung zu bekämpfen, von der seine Bürger betroffen sind, hat China eine Initiative zum umfangreicheren Bau von Staudämmen gestartet.
Das UN-Übereinkommen zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen (Wasserkonvention) legt fest, dass die Tatsache, dass ein Land flussaufwärts liegt, wie im Falle Chinas, ihm nicht das Privileg einräumt, die Wassermenge des Flusses unbegrenzt zu nutzen. Trotz dieser internationalen Richtlinien spiegelt die Dynamik der Wasserrechte zwischen den Nationen in der Regel die traditionellen Machtverhältnisse wider, die oft als „Hegemonie“ bezeichnet werden und dazu führen, dass das mächtigere und größere Land die Kontrolle über die gemeinsamen Wasserressourcen durchsetzt. Laut des indischen Geostrategen Prof. Brahma Chellaney „hat die Kontrolle über den Reichtum an blauem Gold auf dem tibetischen Plateau China einen enormen Einfluss verschafft und es zu einer potenziellen Wassermacht gemacht“.
Ausmaß der Staudammprojekte in Tibet
In den letzten Jahren hat die chinesische Regierung den Bau großer Staudämme weiter vorangetrieben. Die Beweggründe für diese Projekte sind vielfältig: Sie zielen darauf ab, hydroelektrische Energie zu erzeugen, Überschwemmungen zu kontrollieren und Wasser für Bewässerung und Verbrauch bereitzustellen. Im Jahr 1949 gab es in China 22 große Staudämme, im Jahr 2000 waren es bereits 22.000. Laut Loh Su Hsing, einer Mitarbeiterin im Ministerium für Arbeitskräfte in Singapur, hat China jeden größeren Fluss auf dem tibetischen Plateau aufgestaut. Dabei führt sein enormer Bedarf an Energie und Wasserressourcen verstärkt zum Bau von Megastaudämmen von mindestens 150 Metern Höhe.
In einem Bericht chinesischer Ministerien von Anfang 2019 wird darauf hingewiesen, dass mehrere Staudämme für Wasserkraftwerke geplant sind, darunter der 6000-Megawatt Staudamm Longpan in der Tigersprung-Schlucht am Drichu. Dieser Damm liegt in unmittelbarer Nähe eines UNESCO-Schutzgebietes. Der Longpan-Damm ist einer von acht Dämmen, die entlang des Drichu geplant sind, und Teil eines Systems von mindestens 27 Wasserkraftwerken.
Die Bautätigkeiten für diese Projekte haben die Landschaft erheblich verändert und beeinträchtigen einen der bisher am wenigsten gestörten Lebensräume der Welt. Chinas Bau von 11 Megastaudämmen am Mekong hat flussabwärts wiederkehrende Dürreperioden ausgelöst und das Mekong-Becken zu einem Brennpunkt der Sicherheits- und Umweltbedenken gemacht. Darüber hinaus gibt es Pläne für einen kolossalen Staudamm am Yarlung Tsangpo (Brahmaputra), der doppelt so groß sein könnte wie der Drei-Schluchten-Damm. Dies hat in flussabwärts gelegenen Ländern wie Indien und Bangladesch ökologische und strategische Bedenken ausgelöst.
In Osttibet wurden kürzlich über tausend Bürger und Mönche festgenommen, die gegen ein Staudammprojekt am Drichu protestierten. Trotz dieses Widerstandes gibt es in der Region derzeit mindestens 13 Wasserkraftwerke, von denen sechs riesige Dämme mit einer Kapazität von über einer Million Kilowatt (KW) haben.
Darüber hinaus haben die jüngsten großen Erdrutsche, die durch den Bau großer Staudämme in ökologisch sensiblen Gebieten verursacht wurden, den Flusslauf des Drichu unterbrochen. Dennoch baut China seine Wasserkraftinfrastruktur mit zahlreichen Megastaudämmen aggressiv aus und hat so in den letzten zwei Jahrzehnten mehr Wasserkraftkapazität installiert als der Rest der Welt zusammen. Zwei Drittel der Staudämme befinden sich auf dem tibetischen Plateau.
Diese Projekte können die Landschaft und die Wirtschaft der Region verändern. Große Dämme bedeuten nicht nur Fortschritt, sondern auch eine Reihe von ökologischen und sozialen Umbrüchen. Die Vertreibung der lokalen Bevölkerung, die Veränderung der Landschaften und die potenzielle Bedrohung der Artenvielfalt, die in diesen Flussökosystemen seit Jahrtausenden gedeiht, sind tiefgreifende Bedenken, die das Dröhnen der Turbinen begleiten.
Ökologische Auswirkungen
Während Staudämme oft gefeiert werden, weil sie saubere Energie erzeugen, können die Auswirkungen auf die Umwelt schwerwiegend sein, insbesondere in ökologisch sensiblen Gebieten wie dem tibetischen Hochland. In seinem 12. Fünfjahresplan (2011-2015) hat China Wasserkraftprojekten Priorität eingeräumt. Abgesehen von der Energieerzeugung sind viele dieser Flüsse auch durch die Verschmutzung mit Chemikalien und anderen Schadstoffen gefährdet. Der Bau von Staudämmen führt oft zu erheblichen Veränderungen in lokalen Ökosystemen. Aquatische Lebensräume sind besonders gefährdet, da der natürliche Wasserabfluss der Flüsse gestört wird. Der Yarlung Tsangpo beispielsweise beherbergt eine Vielzahl von Wildtieren, darunter mehrere gefährdete Arten.
Staudämme können die Wanderwege von Wasserlebewesen blockieren, was zum Rückgang der Populationen und in einigen Fällen zum Aussterben führt. Dämme halten Sedimente zurück, die für die Nährstoffversorgung in Flüssen entscheidend sind. Diese Sedimente sind nicht nur für das Leben im Wasser wichtig, sondern auch für die landwirtschaftlichen Flächen flussabwärts. Darüber hinaus kann die Ablagerung von Sedimenten in Stauseen zu einem erhöhten Salzgehalt des Wassers führen, was weitere Auswirkungen auf lokale und flussabwärts gelegene Ökosysteme hat. Das tibetische Hochplateau spielt eine entscheidende Rolle im regionalen Klimasystem. Veränderungen durch groß angelegte Staudammprojekte können das lokale Klima verändern.
Nach Angaben des UN Global Seismic Hazard Assessment Program (zur Bewertung der seismischen Gefährdung) ist die Sicherheit von Staudämmen ein sensibles und streng gehütetes Thema. Eine Studie des kanadischen Think-Tanks Probe International aus dem Jahr 2012 ergab, dass über 99,7 Prozent der großen Staudämme im Westen Chinas, insbesondere in Tibet, in Gebieten mit mäßigem bis sehr hohem Erdbebenrisiko liegen. Die riesigen Stauseen, die durch diese Dämme entstehen, können auch zu höheren Methanemissionen beitragen. Die durch Staudämme verursachten Störungen führen häufig zum Verlust der Lebensgrundlagen, zur Vertreibung und damit zum Verfall der Kultur der lokalen Bevölkerung, die oft mit den Flüssen verbunden ist. Die Analystin und Journalistin Meng Si aus Beijing argumentiert, dass sie nur die Wasserkraftindustrie, bestimmte Beamte und einen begrenzten Kreis von Experten begünstigen, und das auf Kosten der ökologischen Integrität, der lokalen Lebensgrundlagen und des erhöhten Risikos geologischer Katastrophen.
Diplomatische Dialoge
Angesichts der weitreichenden Auswirkungen der tibetischen Staudammprojekte sind diplomatische Dialoge von entscheidender Bedeutung, um die Sorgen aller beteiligten Nationen zu berücksichtigen. Die am stärksten betroffenen Nationen, darunter Indien, Bangladesch und Nepal, haben verschiedene Plattformen für den Dialog entwickelt. Diese Diskussionen finden häufig unter der Schirmherrschaft größerer regionaler Kooperationsorganisationen statt wie der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) und der Mekong River Commission. Sie sollen die Zusammenarbeit in Fragen des Wassermanagements und der nachhaltigen Entwicklung erleichtern.
Zukünftig bleibt der Dialog über die Staudämme in Tibet zentrales Beispiel für die globale Herausforderung, die menschliche Entwicklung mit der Verantwortung für die Umwelt in Einklang zu bringen
China hat bilaterale Gespräche mit flussabwärts gelegenen Ländern aufgenommen, insbesondere mit Indien, das erhebliche Bedenken hinsichtlich der möglichen Auswirkungen auf seine Wassersicherheit geäußert hat. Diese Gespräche sind oft heikel angesichts der strategischen Bedeutung der Wasserressourcen und geopolitischer Spannungen, die die Zusammenarbeit überschatten. Einer der wichtigsten Punkte in diesen Gesprächen ist die Notwendigkeit von Transparenz und Datenaustausch. Die flussabwärts gelegenen Länder wünschen sich häufig detailliertere und zeitnahe Informationen über den Betrieb von Staudämmen und die Wasserabgabe, um sich besser auf die Auswirkungen auf ihr Gebiet vorbereiten und diese bewältigen zu können. Vereinbarungen über den Austausch von Daten können dazu beitragen, Vertrauen zu schaffen und eine effektivere Bewirtschaftung der Wasserressourcen zu ermöglichen. Diskutiert wird auch, den Bau und Betrieb von Staudämmen mit den internationalen Zielen der nachhaltigen Entwicklung in Einklang zu bringen. Dazu gehören Überlegungen zur Erhaltung der Umwelt, zur gerechten Verteilung der Ressourcen und zur Sicherstellung, dass die Entwicklung der eigenen Infrastruktur keine Nation oder Gemeinschaft unverhältnismäßig stark benachteiligt.
Schlussfolgerung
Der Bau von Großstaudämmen in Tibet ist ein Thema, das mit komplexen Herausforderungen und Chancen verbunden ist. Diese Projekte versprechen erhebliche Vorteile in Bezug auf Wasserkraft und Hochwassermanagement, bergen aber auch erhebliche Risiken für Ökosysteme, lokale Gemeinschaften und internationale Beziehungen. Die ökologischen Auswirkungen sind tiefgreifend und beeinträchtigen die biologische Vielfalt und natürliche Dynamik einiger der wichtigsten Flüsse Asiens. In sozioökonomischer Hinsicht reichen die Auswirkungen weit über die unmittelbaren Gebiete hinaus und beeinflussen das Leben und die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen flussabwärts.
Zukünftig bleibt der Dialog über die Staudämme in Tibet zentrales Beispiel für die globale Herausforderung, die menschliche Entwicklung mit der Verantwortung für die Umwelt in Einklang zu bringen. Er erinnert uns an die empfindlichen Wechselbeziehungen innerhalb unserer natürlichen Welt und an die Notwendigkeit einer sachkundigen und mitfühlenden Herangehensweise beim Umgang mit den Ressourcen der Erde. Für politische Entscheidungsträger, Umweltschützer und Bürger ist die Geschichte der Staudämme Tibets ein Aufruf zum Handeln – eine Erinnerung daran, dass unsere gemeinsamen Gewässer gemäß einer Vision verwaltet werden müssen, die Grenzen und Generationen überschreitet.
Neeraj Singh Manhas ist Sonderberater für Südasien bei der Parley
Policy Initiative, Republik Korea. Zuvor war er Forschungsdirektor des
Indo-Pazifik-Konsortiums im Raisina House, Neu Delhi. Er ist Autor und Herausgeber von sechs Büchern und hat Forschungsinteressen in den Bereichen chinesisch-indische Grenzfragen, grenzüberschreitende Flüsse, Wassersicherheit, Verteidigung und indo-pazifische Studien.
Last modified: 19. August 2024