„Der Klimawandel geht in Tibet alarmierend schnell vonstatten – und zwar genau jetzt“, sagt Gabriel Laffite. Der australische Wissenschaftler forscht seit vielen Jahren zu den Klimaveränderungen auf dem Tibetischen Plateau. Für unser Magazin „Brennpunkt Tibet“ hat er den aktuellen Stand der Klimaforschung zu Tibet zusammengefasst.
Dem sich beschleunigenden Klimawandel sind einige Länder stärker ausgesetzt, andere weniger. Zu den am stärksten bedrohten Ländern gehören die kleinen, in den Ozeanen verstreut liegenden Inselstaaten, verwundbar vom Meeresanstieg, von stärkeren Winden und ohne die Aussicht, irgendwohin fliehen zu können. Genauso exponiert, aufgrund der Höhe, ist das Tibet-Plateau, eine unermesslich große Insel am Himmel, auf halbem Wege hinauf in die Troposphäre und so hoch, dass der Jetstream geteilt und um das Plateau herumgelenkt wird, statt darüber hinwegzuströmen.
Das Plateau von der Größe Westeuropas in dünner Luft, intensivem Sonnenlicht, anfällig für plötzliche Stürme und Schneestürme sogar im Sommer, ist akut gefährdet, selbst wenn es aus politischen Gründen nicht so leicht zugänglich und fotogen ist wie die Inseln. Alle uns zugänglichen wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen uns, dass der Klimawandel in ganz Tibet alarmierend schnell vonstattengeht, nicht irgendwann in der Zukunft, sondern gerade jetzt.
Die Gletscher, die die großen Flüsse Asiens, von Pakistan bis nach Vietnam und China, speisen und regulieren, sind nicht mehr im Gleichgewicht und verlieren viel mehr Wasser, als sie durch Schneefall dazugewinnen. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts wird wenig von ihnen übrigbleiben, wie viele wissenschaftliche Prognosen zeigen, die auf aktuellen Daten basieren.
Wenn der Klimawandel sich weiterhin so beschleunigt, über einem Hochland, das fast nichts zu den Emissionen beigetragen hat, die die Erderwärmung vorantreiben, wird der erste Fluss aus Tibet, der versiegen wird, der Indus sein, der in einem kritischen Maß von der Gletscherschmelze abhängig ist. Die gesamte Zivilisation Pakistans hängt von diesem einen Fluss ab so wie Ägypten vom Nil. Der Brahmaputra in Bangladesch, der Mekong in Laos, Kambodscha und Vietnam, der Gelbe Fluss und der Jangtse in China entstehen alle aus den Gletschern von Tibet und mäandern über Tausende von Kilometern durch die alpinen Grasfluren von Tibet, wobei sie die Weiden wässern, auf denen Millionen von Nomaden ihr Vieh halten.
Jeder weiß, dass Tibet kalt ist, aber im Frühjahr heizt es sich schnell auf, und zwar stark genug, um den Monsunregen tief ins Landesinnere zu ziehen. Obwohl hoch gelegen und eisig kalt, ist Lhasa, die Hauptstadt, nicht weiter vom Äquator entfernt als Kairo, Buenos Aires, New Orleans oder Kuwait. Tibet ist schon von Natur aus ein Land der Extreme, und der Klimawandel macht es nur noch extremer. Ein deutscher Pilger in Tibet in den 1940er Jahren, Lama Anagarika Govinda, notierte, dass, wenn man Tibet auf einer geraden Linie durchquert, man gleichzeitig auf der einen Seite seines Körpers Sonnenbrand und auf der anderen Seite Erfrierungen bekommen könne.
Die Bewohnbarkeit des Tibet-Plateaus ist bedroht, sowohl durch die Klimaerwärmung als auch durch die politische Antwort aus dem fernen Beijing, das die Nomaden für die Degradation (Verschlechterung der Bodenqualität) und Desertifikation (Wüstenbildung) des Landes verantwortlich macht. Angesichts des gleichzeitigen Drucks, klimatisch wie politisch, werden die Landschaften, die von den Nomaden mit ihrer Erfahrung in der Weidewirtschaft erhalten werden, von Menschen entvölkert, die fortgeschafft werden, um untätig in fernen Wohnungen an den Stadträndern zu leben.
Das, was für China wichtiger ist als alles andere sonst, ist Wasser, und Tibet wird seit langem als „Chinas Wasserturm Nummer eins“ bezeichnet. Das ist Tibets Geschenk, ein durch die Schwerkraft gespeister Abfluss von Wasser von einem natürlichen, vier bis fünf Kilometer hohen Turm, das hinunterstürzt, um das Tiefland von Nordchina zu versorgen. Der Schutz dieses Wasserturmes hat höchste Priorität, und die Herden von Yaks, Schafen und Ziegen und ihre nomadischen Viehzüchter, die kundig gewährleisten, dass kein Weideland überweidet wird, werden jetzt als Bedrohung angesehen, durch Ausgrenzung kontrolliert, ihr Land in rein ökologische – und damit unzugängliche – Zonen eingestuft.
Den Opfern die Schuld zuzuweisen, ist ein tragischer Fehler, vor allem in einer Zeit, in der jetzt die Regenfälle in ganz Tibet zunehmen, die Wasserspiegel in den Seen steigen und China auf mehrere Jahrzehnte hinaus Gewinne aus dem zusätzlichen Wasserabfluss von den schmelzenden Gletschern erzielen wird. Chinesische Wissenschaftler berichten, dass Tibet in den kommenden Jahrzehnten dafür geeignet sein wird, chinesische Bäume und Nutzpflanzen anzubauen, und eine intensive Landwirtschaft sowie die intensive Ansiedlung von Bauern aus dem Tiefland leichter möglich sein wird.
2018 war ein Rekordflutjahr in Tibet, und die Wälder von Osttibet, die einst diese Fluten hätten aufnehmen und verlangsamen können, sind schon vor Jahrzehnten abgeholzt und nach China geschickt worden. Nun sind die steilen Hänge des zerklüfteten Geländes von Osttibet – oder Kham – den Extremen des Wetters ausgesetzt, Hänge, die so steil sind, dass man an einem einzigen Flussufer innerhalb von wenigen Kilometern von den Subtropen bis in die Arktis hinaufklettern kann. In diesen steil abfallenden Tälern sind medizinische Pflanzen, die in der traditionellen Tibetischen Medizin verwendet werden, um Krankheiten bei Menschen und Tieren zu heilen, in Hülle und Fülle vorhanden, ein in Tausenden von Jahren angesammeltes Arzneibuch traditioneller Ethnobotanik. Nun blasen die Monsunwinde jedes Jahr heftiger die Täler hinauf, die offiziell in Naturschutzzonen eingestuft sind und so nicht länger für irgendwelche Zwecke von Menschen genutzt werden dürfen. Einige sind sogar UNESCO-Welterbe. Doch unterhalb davon sind die Flüsse – der obere Yangtse, der Mekong und der Salween – in Wirtschaftszonen eingestuft, mit immer mehr Staudämmen und Stromnetzen, deren Bau quer durch wilde Bergflüsse geplant ist. Chinas Antwort auf den Klimawandel ist es, seinen Gewinn zu maximieren, und zwar von dem – durch den Klimawandel – erhöhten Wasserabfluss, von mehr Wasserkraft und mehr Windkraft, mit Plänen für Windparks und Stromnetze, die genügend Elektrizität erzeugen, um sie sogar bis nach Europa zu bringen.
Da China um 1980 herum die Revolution aufgab und sich dem Kapitalismus zuwandte, wurde eine neue Normalität etabliert, die niemand je in Frage gestellt hat. Das weite Grasland gehört, technisch gesehen, dem Staat, da der private Besitz von Land verboten war und immer noch nicht erlaubt ist. Die endlosen alpinen Weideflächen waren eine gemeinsame Ressource ohne Eigentümer. Auf offizieller Seite ging man davon aus, dass die tibetischen Nomaden ihr Land – das allen und niemandem gehörte und das sie und ihre Vorfahren über Jahrtausende hinweg bewahrt hatten –, plünderten, überweideten und ruinierten. Es dauerte Jahrzehnte, bis chinesische Wissenschaftler anfingen, diese Annahme in Frage zu stellen, dass Nomaden ihr eigenes Nest beschmutzen würden.
Chinas Antwort auf die übliche Nutzung dieser tibetischen Landschaften durch den Menschen ist es, die Landmanager zu stigmatisieren und alle Umweltprobleme ihrer angeblich gierigen, dummen, ignoranten Überweidung und Überbenutzung der Graslandressourcen zuzuschreiben. In einer Diktatur ist es nicht möglich zu sagen, dass die herrschende Regierungspartei sich irren könnte und Fehler jetzt machen oder jemals in der Vergangenheit gemacht haben könnte. Deshalb wird die Schuld an dem offensichtlichen Verlust von Weideland den Nomaden angelastet mit der Annahme, sie seien rücksichtslose Urkapitalisten, darauf aus, ihre Produktion auf dem gemeinschaftlichen Land zu maximieren, das jedem und damit niemandem gehört, indem sie einen unerträglichen Weidedruck auf die Weiden erzeugen. Das ist eine Annahme, die ursprünglich von chinesischen Wissenschaftlern und ihren deutschen Kollegen geäußert wurde, die selten mit Nomaden gesprochen haben und stattdessen alles nur aus der Ferne beobachtet und daraus schnell ihre Schlüsse gezogen haben.
Bis dahin war die Darstellung der tibetischen Nomaden als rückständig, primitiv und unzivilisiert fest in offiziellen Köpfen verankert, während das Zuweisen der Schuld einem Staat, der Nomaden auf unwirtlichen kleinen Parzellen Land einzäunte, als „historischer Nihilismus“, ein schweres Vergehen, kriminalisiert wurde. Heute erzählen tibetische Nomaden jedem, der es hören will, dass die Überweidung und folglich die Bodenerosion darauf zurückzuführen waren, dass die offiziell zugewiesenen Winterweideflächen zu klein waren, um davon leben zu können, und sie selbst durch die zwangsweise vorgeschriebenen Einzäunungen zu eingeengt waren, um die traditionelle Mobilität, das Herzstück der nomadischen Nachhaltigkeit, zu ermöglichen.
Aus offizieller Sicht wurde eine Schuld auch den wühlenden Säugetieren des Graslandes, vor allem den Pikas, zugeschrieben, die den Boden durchlüften und eine Schlüsselrolle in der Nahrung der Raubtiere spielen, die aber auch für die kahlen Böden und den Verlust des Grases verantwortlich gemacht wurden. Mit viel Unterstützung von der deutschen Entwicklungshilfe (GTZ/GIZ) wurden diese Nagetiere in Massen vernichtet, chemisch vergiftet, wobei das Gift von Tibetern verteilt wurde, die nach offizieller Anordnung die arbeitsintensive Vernichtung verrichteten. Wieder blieben die Stimmen der Tibeter ungehört.
Das Ergebnis ist eine doppelte Tragödie, der Ausschluss der Nomaden von Weideland in einer Zeit des sich beschleunigenden Klimawandels, in der Tibet wärmer – vor allem in Winternächten -, nasser und windiger wird, der Permafrost auftaut und Feuchtgebiete im Frühjahr austrocknen. Wasser, im Boden gefroren, schmilzt weg und versickert tiefer in den Boden, als die Wurzeln der Grasbüschel und Nutzpflanzen reichen können. Das Paradoxon von nasserem Klima, aber austrocknenden Feuchtgebieten ist eine von vielen komplexen Erscheinungen des Klimawandels, zusammen mit Wetterextremen, heftigeren Schneestürmen, überlaufenden Seen und zerstörerischem Hagel, der Gerstenfelder in Sekunden vernichtet.
Die sechseinhalb Millionen Tibeter haben genug zu bewältigen, sie haben genug damit zu tun, ihren Lebensunterhalt zu sichern und sich an den Klimawandel anzupassen, aber nun müssen sie auch noch mit einem Staat klarkommen, der sie für die Degradation des Landes verantwortlich macht, der sie einzäunt und von ihrem Heimatland ausgrenzt und das alles im Namen von wissenschaftlicher Objektivität.
Gabriel Lafitte dokumentiert seit gut 40 Jahren zusammen mit Tibetern die Bedrohungen für die Umwelt und die Entwicklung Tibets. Seit über 20 Jahren verbringt er jedes Jahr mehrere Monate in Dharamsala, wo er Mitarbeiter der tibetischen Exilregierung zu Umweltgerechtigkeit,
Forschungsfertigkeiten und Analyse schult.
Übersetzung: Iris Lehman
Der Text erschien in gekürzter Form in der aktuellen Ausgabe unseres Magazins ‚Brennpunkt Tibet‘.
Last modified: 9. März 2020