Heute jährt sich zum 30. Mal die blutige Niederschlagung der demokratischen Proteste in Peking. Wir sprachen mit dem taz-Journalisten und China-Experten Felix Lee über das Vermächtnis des Tian’anmen und die Aussichten einer neuen Demokratie-Bewegung in China heute.

TID: Vor genau 30 Jahren wurde der demokratische Volksaufstand auf dem Tian’anmen („Platz des Himmlischen Friedens“) niedergeschlagen. Bestand damals eine echte Chance, dass der Aufstand gelingen könnte?
Felix Lee: Nicht in dem Sinne, dass die Protestierenden selbst die Macht hätten ergreifen können. Aber es bestand durchaus die Chance auf grundlegende Reformen innerhalb der chinesischen Führung. Der damalige Generalsekretär Zhao Ziyang war nicht der einzige innerhalb der Kommunistischen Partei (KP), der mehr politische Öffnung wollte. Es gab also auch einen führungsinternen Machtkampf – und in dem haben die progressiven Kräfte den Kürzeren gezogen.
Das Ergebnis ist bekannt: In der Nacht auf den 4. Juni 1989 rollten Panzer auf, vermutlich mehrere Tausend Demonstranten wurden getötet. Wie hat dieses Ereignis die Politik der chinesischen Führung verändert?
Felix Lee: Zunächst hat es zu einer Verhärtung geführt. Mit harter Hand ging man gegen diejenigen vor, die die Proteste angeführt hatten. Relativ schnell folgte jedoch eine wirtschaftliche Öffnung, die die KP-Führung geschickt zu nutzen wusste – nach dem Motto: „Ihr erhaltet vielleicht nicht alle demokratischen Freiheiten, dafür aber wirtschaftliche Freiheiten und materiellen Wohlstand.“
Dieses Erfolgsmodell hat China zur inzwischen zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt gemacht – und die meisten Chinesen haben davon profitiert.
Wie werden die Ereignissen vom Tian’anmen in China heute reflektiert? In den Geschichtsbüchern sind sie vermutlich nicht zu finden, oder?
Felix Lee: In den Geschichtsbüchern nicht. Aber das Problem ist gar nicht, dass nicht darüber geschrieben wird. Das Problem ist, wie darüber geschrieben wird. Es hat sich als wirkungsvoller erwiesen, Diskussionen in eine bestimmte Richtung zu lenken, anstatt sie zu zensieren. Durch solche gelenkten Informationen haben heute viele Chinesen heute einen verklärten Blick und ein falsches Verständnis von den Demokratieprotesten von 1989.
„Ein Regime, das die Bevölkerung mit harter Hand in Schach hält, sitzt auf wackligen Stühlen.“
Felix Lee
Welche Chancen räumen Sie einer Demokratie-Bewegung in China heute ein?
Felix Lee: Die KP sitzt heute so fest im Sattel wie noch nie. Und ich gehe davon aus, dass sie auch in fünf Jahren noch fest im Sattel sitzen wird. Projekte wie die „Seidenstraße“ oder der Ausbau der Hochtechnologie sorgen dafür, dass Entwicklung und Wohlstand weiter wachsen und die Bevölkerung zufrieden bleibt.
Dass es in zehn Jahren allerdings immer noch so aussieht – dafür würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen. Ein Regime, das die Bevölkerung mit harter Hand in Schach hält, sitzt immer auf wackligen Stühlen.
Besteht Hoffnung, dass diese Stühle ins Kippen geraten?
Felix Lee: Durchaus. Dem rapiden wirtschaftlichen Aufstieg Chinas folgen ja weitere positive Entwicklungen: etwa der Ausbau des Sozialstaats, in gewisser Weise auch eine Zunahme des Rechtsstaatsbewusstseins.
Das gilt bislang natürlich nur, so lange die Macht der KP nicht angezweifelt wird. Aber so ein System ist stark an Personen gebunden. Wie schnell es bei der Machtübergabe an einen Nachfolger destabilisiert werden kann, hat man 2012 gesehen, als es bei der Bestimmung des neuen KP-Generalsekretärs zu Verwerfungen innerhalb der Führung kam. Es ist daher nicht auszuschließen, dass es etwa nach der Zeit von Xi Jinping zu Veränderungen kommt.
Wie könnten solche Veränderungen aussehen?
Felix Lee: Ich glaube nicht so sehr an eine Revolte von unten. Das würde ich in einem so großen, komplizierten und wirtschaftlichen verwickelten Land wie China auch mit Sorge sehen. Meine Hoffnung ist, dass politische Veränderungen von der Führung selbst angestoßen werden. Ein Beispiel aus dem asiatischen Raum: Taiwan war bis in die frühen Neunziger Jahre ein autoritärer Staat, bis die Führung selbst einen Demokratisierungsprozess eingeleitet hat. Heute ist Taiwan eine Musterdemokratie. Einen vergleichbaren Weg wünsche ich mir auch für China – und ich halte ihn auch für möglich.
Last modified: 4. Juni 2019