Auch die Tibet Initiative Deutschland hat in den vergangenen Tagen die Geschehnisse rund um das im Internet kursierende Video des Dalai Lama verfolgt. In dem Video ist zu sehen, wie der Dalai Lama mit einem Jungen interagiert, nachdem er von dem Kind gebeten wurde, ihn umarmen zu dürfen. Der wenige Sekunden lange Zusammenschnitt wird seit Sonntag, dem 9. April 2023, in den sozialen Medien geteilt. Entstanden ist das Videomaterial am 28. Februar 2023 bei einer Audienz des Dalai Lama im Tsuglakhang Tempel in Dharamsala/Indien. Eine ursprüngliche Fassung, die die Szene ausführlicher zeigt, ist über zwei Minuten lang und wurde bereits direkt nach der Veranstaltung auf YouTube geteilt.
Der kurze Zusammenschnitt hat weltweit für Kritik und Empörung über das Verhalten des Dalai Lama gegenüber dem Jungen gesorgt. Kritikpunkt ist, dass der Dalai Lama im Verlauf der Umarmung dem Jungen zunächst seine Wange, dann seinen Mund und schließlich sogar seine herausgestreckte Zunge in gebrochenen Englisch mit den Worten „suck my tongue“ zur Berührung anbietet. Im Verlauf der Begegnung spricht der Dalai Lama darüber, wie wichtig es ist, alle Menschen als Brüder und Schwestern zu sehen und Barrieren zwischen ihnen zu überwinden.
In zahlreichen Medienberichten wurde das Verhalten des Dalai Lama als sexualisiert interpretiert. Am 10. April 2023 reagierte das Büro des 14. Dalai Lama auf diese Kritik. In einer Stellungnahme entschuldigt sich der Dalai Lama für die Geschehnisse: „Seine Heiligkeit möchte sich bei dem Jungen und seiner Familie sowie bei seinen vielen Freunden in der ganzen Welt für die Verletzung entschuldigen, die seine Worte verursacht haben könnten. Seine Heiligkeit neckt oft Menschen, denen er begegnet, auf eine unschuldige und spielerische Weise, auch in der Öffentlichkeit und vor Kameras. Er bedauert den Vorfall.“
Wir von der Tibet Initiative Deutschland können nachvollziehen, dass das Video für Aufsehen gesorgt hat und Menschen beunruhigt. Genauso wie der Dalai Lama es in der Vergangenheit getan hat, verurteilen wir eindeutig sexualisierten Missbrauch jeglicher Art. In westlichen Ländern gibt es aufgrund von Missbrauchsfällen eine erhöhte und gerechtfertigte Sensibilität gegenüber den Rechten und dem Schutz von Kindern und Jugendlichen. Im Westen wird das Verhalten des Dalai Lama als grenzüberschreitend und unangemessen einem Kind gegenüber angesehen. Man muss erwarten, dass der Dalai Lama um diesen Kontext weiß. Insofern war es richtig, dass er sich für sein Verhalten entschuldigt hat.
Es ist wichtig, das ganze Video und den gesamten Kontext zu betrachten. Es handelte sich um eine öffentliche Veranstaltung mit Dutzenden Teilnehmer*innen und auch das Video war im Anschluss, also ab dem 28. Februar 2023, auf der Seite des Dalai Lama über mehrere Wochen öffentlich zugänglich. Die Mutter des Kindes saß mit auf dem Podium und augenscheinlich haben weder sie noch die vielen anderen anwesenden Personen die Situation als irritierend wahrgenommen. Zudem gibt es ein Video mit einem Statement des Jungen und der Mutter (Interview mit Voice of Tibet), in dem sie im Anschluss an die Begegnung ihre Dankbarkeit gegenüber dem Dalai Lama ausdrücken. Dass all dies in aller Öffentlichkeit geschah, spricht dafür, dass der Dalai Lama mit seiner Geste keine bösen Absichten verband.
Der Dalai Lama ist ein hoch respektierter spiritueller Lehrer, dessen friedliche Haltung und Wirken weltweit für Bewunderung sorgen. Er hat sein Leben der Verbreitung von Frieden, religiöser Harmonie und Mitgefühl gewidmet. Der Dalai Lama tut dies in einer direkten, offenen und unbeschwerten Art gegenüber allen Menschen, egal, welcher Herkunft, welches Status oder welchen Alters.
Christof Spitz, Vorstandsmitglied der Tibet Initiative und langjähriger deutscher Dolmetscher des Dalai Lama, sagt dazu: „Auf den Reisen mit dem Dalai Lama habe ich häufig erlebt, wie unkonventionell und offen er mit Menschen interagiert – ganz gleich, ob es sich um einfaches Hotelpersonal, Polizisten, hochrangige Politiker oder Religionsvertreter handelt. Es geht ihm darum, Barrieren zwischen Menschen abzubauen und die Gleichheit von uns allen jenseits aller Unterschiede zu zeigen. Dies mag als Grenzüberschreitung wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung kann durch unterschiedliche kulturelle Gepflogenheiten, Konnotationen und Vorurteile gefördert werden. Mir haben die Beteiligten nach diesen Zusammentreffen berichtet, dass sie aus der persönlichen Begegnung gestärkt hervorgingen und diese als Zeichen der Verbundenheit empfunden haben. Sie waren von der Offenheit und der Menschlichkeit des Dalai Lama oft tief gerührt.“
Der Dalai Lama war schon immer ein Verteidiger des Schutzes von Kindern und ihrer Rechte und hat sich nie irgendwelcher Verfehlungen gegenüber Kindern schuldig gemacht. Vor diesem Hintergrund gehen wir davon aus, dass es die Intention des Dalai Lama war, dem Kind einen besonderen und freudevollen Moment zu schenken – und auf Augenhöhe mit dem Jungen zu interagieren. „Wir sind gleiche Brüder und Schwestern“, sagte er im Anschluss an die Szene und sprach über den Weltfrieden und die Gleichheit aller Menschen.
Pema Druyuttshang, Delegierte des Vereins der Tibeter in Deutschland und Vorstandsmitglied der Tibet Initiative, sagt zu dem Vorfall: „Als Mutter von zwei kleinen Töchtern und als in Berlin lebende Tibeterin bin ich mir bewusst, dass in der heutigen stark sexualisierten Welt die Menschen ihre eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen auf das Video projizieren. Es ist jedoch wichtig, sich die interkulturellen Unterschiede zwischen der westlichen und der tibetischen Kultur und Lebensweise vor Augen zu führen. Für uns Tibeter*innen war das Video in keinster Weise ein Skandal, sondern eine Verbildlichung der reinsten Form von Liebe und Wärme, die Seine Heiligkeit dem Jungen gezeigt hat. Wir beneiden den Jungen für diese Erfahrung.“
Wir denken, dass der Vorfall sowie der öffentliche Umgang damit noch weiter aufgearbeitet werden müssen. Auch die Hintergründe der Veröffentlichung eines Video-Zusammenschnitts viele Wochen nach dem Vorfall müssen geklärt werden.
Für die Tibet Initiative Deutschland ist es weiterhin zentral, dass über diesen Vorfall die prekäre Menschenrechtslage in Tibet nicht vergessen wird. Wir setzen uns weiter für Menschen- und Kinderrechte in Tibet ein und machen uns für eine friedliche, politische Lösung des sino-tibetischen Konflikts stark, wie sie auch der Dalai Lama seit Jahrzehnten fordert. Wir werden weiter für ein freies und selbstbestimmtes Tibet kämpfen.
Last modified: 14. April 2023