In einem heute veröffentlichten Bericht zeigt die Tibet Advocacy Coalition1 neue Belege verheerender chinesischer Zwangsmaßnahmen in Tibet. Der 46-seitige Bericht erscheint unter dem Titel “Assaulting Identity: China´s new coercive strategies in Tibet“.
Pressemitteilung, Berlin, 24. März 2021
Basierend auf offiziellen Dokumenten der chinesischen Regierung (gesammelt bis Februar 2021) ruft der Bericht Regierungen weltweit dazu auf, ihre Anstrengungen gegen die massive Unterdrückung der Tibeter*innen zu intensivieren. Die Maßnahmen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) drohen Tibets einzigartige kulturelle und religiöse Identität auszulöschen.
Im August 2020 beschloss ein hochrangiges Gremium in Peking unter der Leitung von Xi Jinping, die chinesischen Zwangsmaßnahmen in Tibet auszuweiten und zu intensivieren. Das Ziel der Maßnahmen ist, „Abstammungslinien zu unterbrechen, Wurzeln zu zerstören, Beziehungen zu zerschlagen und Herkunft auszulöschen“.2 Der stellvertretende Parteisekretär der Autonomen Region Tibet (TAR) Ding Yexian würdigte diesen Ansatz als eine Strategie hin zur „Formung der [tibetischen] Seele“.3
Der als Hardliner bekannte TAR-Parteisekretär Wu Yingjie4 unterstrich Ende 2020 die Notwendigkeit, „das rote Gen“ von klein auf „einzuflößen“. Bei einem Treffen in Lhasa im November 2020 forderte er, „die ideologische und politische Erziehungsarbeit für die junge Generation zu verstärken, damit sie die Partei, das Mutterland und den Sozialismus liebt“. Außerdem müsse Mandarin als Nationalsprache von Kindheit an etabliert werden.
„Xi Jinping betreibt eine perfide Kampagne, die bereits im Kindesalter beginnt und darauf abzielt, die einzigartige und uralte Identität der Tibeter im Laufe einer Generation zu eliminieren“, sagte Gloria Montgomery von der Tibet Advocacy Coalition. „Diese neuen Maßnahmen verstecken sich hinter offizieller Regierungs-Terminologie wie ‚Modernisierung‘, ‚wirtschaftliche Entwicklung‘, ‚Armutsbekämpfung‘, ‚Ausbildung von Arbeitskräften‘ oder ‚bilingualer Erziehung‘. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dahinter die Absicht steht, eine beispiellose Kontrolle über das tägliche Leben der Tibeter auszuüben – von der Wiege bis zur Bahre.“
Tashi Shitsetsang, Präsidentin des Vereins Tibeter Jugend in Europa:
„Viel zu lange war Tibet Chinas Testlabor für Unterdrückung. Die dystopischen Methoden, welche in Tibet erprobt wurden, werden nun in Ostturkestan ins Unermessliche ausgeweitet. Millionen Uigur*innen sind dort einer Masseninternierung unterworfen. Diese Eskalation wird nun auch in Tibet immer offensichtlicher. Umfassende soziale Kontrollmaßnahmen sind ein eindeutiger Angriff auf die tibetische Identität – mit einem klaren Ziel: diese Identität auszulöschen.“
Der vielleicht unheimlichste Aspekt von Chinas neuer Strategie, die darauf abzielt, „die Gedanken zu kontrollieren“, ist die Ausrichtung auf tibetische Kinder. Immer häufiger werden Kinder bereits im Alter von zwei oder drei Jahren von ihren Eltern und Familien getrennt und in einem Programm staatlich geführter Vorschulen in ganz Tibet ideologischer Erziehung unterworfen. Teil dieses Programms ist in einigen Fällen auch „militärisch“-politische Erziehung, das Tragen von Militäruniformen und die Teilnahme an Marschübungen mit Soldaten. Darüber hinaus sind die staatlich geführten Vorschulen „bilingual“ – in der Praxis bedeutet dies, dass dem Lehren und Sprechen der chinesischen Sprache Vorrang vor der tibetischen gewährt wird. Das Resultat: Tibetischen Kindern wird das Recht auf Lernen und Verstehen ihrer eigenen Muttersprache vorenthalten – einem Kernelement der tibetischen kulturellen Identität. Hinzu kommt, dass eine wachsende Zahl junger tibetischer Kinder von ihren Familien in Internate geschickt wird. Diese verlangen oftmals ein Bekenntnis, die „ethnische Einheit“ 5 zu wahren und patriotische Bürger*innen zu sein. Diese Maßnahmen erinnern an die der einstigen Kolonialmächte, die indigene Kinder in Australien, Kanada und den USA gewaltsam verschleppten, um sie in die “Siedler”-Gesellschaft zu assimilieren. Viele tibetische Eltern, die den Arbeitstransferprozess erleiden müssen, haben kaum eine andere Wahl, als ihre Kinder in diese Schulen zu schicken.
Pema Doma, Kampagnenmanagerin bei Students for a Free Tibet:
„Tibetischen Kindern – schon im Alter von zwei oder drei Jahren – das Recht zu verweigern, ihre eigene Sprache zu lernen und sie von ihren Eltern und Familien zu trennen, ist das jüngste grausame Beispiel für Chinas Bestreben, die tibetische Identität systematisch auszulöschen. Wir haben schon einmal Internatsschulen gesehen – und die Welt weiß, dass das nicht gut ausgegangen ist. Familien trennen, der jungen Generation ihre eigene Identität und ihr kulturelles Erbe nehmen, Jugendlichen ihrer Muttersprache berauben: Das sind eindeutig die Merkmale eines kulturellen Genozids. Die Regierungen der Welt müssen handeln, indem sie sofort koordinierte Maßnahmen ergreifen, um diesen Angriff auf die tibetische Identität, die tibetische Kultur und die tibetische Existenz zu stoppen.“
Nach dem Verlassen des Bildungssystems setzen weitere staatliche Mechanismen ein, um Chinas Auslöschung der tibetischen Identität zu intensivieren und zu festigen. Sobald die Tibeter*innen in den Arbeitsmarkt eintreten, werden sie Teil eines Programms der ideologischen Indoktrination und der ländlichen Umgestaltung. Dieses hat China entwickelt, um die tibetische Identität zu untergraben, die Tibeter*innen in die Volksrepublik China zu integrieren und die Kontrolle der Kommunistischen Partei Chinas zu stärken. Das Programm zum Transfer von Arbeitskräften ist ein zentraler Bestandteil hiervon. Zwischen 2015 und 2020 wurden laut offiziellen Statistiken mehr als 2,8 Millionen tibetische Hirten und Nomaden im Rahmen dieses Programmes umgesiedelt.
Tenzyn Zöchbauer, Geschäftsführerin der Tibet Initiative Deutschland:
„Die chinesischen Behörden verpacken ihre repressiven Maßnahmen in Tibet als ‚Armutsbekämpfung‘ und führen diese der internationalen Gemeinschaft zur Billigung vor. Diese Maßnahmen sind Teil von Pekings Bemühungen, tibetische Nomaden und Hirten von ihrem Land zu vertreiben und kulturelle Traditionen zu zerstören. Die KPCh will die ländliche Wirtschaft massiv umgestalten, ohne international Aufsehen zu erregen. Die internationale Gemeinschaft darf sich nicht länger von den Worten der KPCh blenden lassen. Die Regierungen der Welt müssen sich den Fakten stellen und ein Ende der Unterdrückung fordern, bevor es zu spät ist.“
Bis Anfang 2019 waren in der TAR 147 Unternehmen in der “Berufsbildungsbranche” tätig, in der Provinz Qinghai waren es bis Ende 2018 332 Unternehmen. Dies ergeben öffentlich verfügbare Dokumente, welche die Tibet Advocacy Coalition für ihren Bericht analysierte. Politische Umerziehung ist ein obligatorischer Bestandteil dieser Programme. In einem Zentrum nimmt diese Umerziehung sogar bis zu 70 Prozent der Zeit in Anspruch, die restliche Zeit werden die Tibeter*innen in „Fähigkeiten auf niedrigem Niveau“ ausgebildet. Diese Kurse werden hauptsächlich in chinesischer Sprache unterrichtet, wodurch die tibetische Sprache weiter verdrängt wird. Die Maßnahmen in Tibet zielen auch auf aktuelle und ehemalige tibetische Inhaftierte ab. Die Gefangenen sollen nicht weiter „eine Belastung“ für die Partei darstellen – und „Stabilität“ soll „gewährleistet“ werden.
Mandie McKeown, Geschäftsführerin des International Tibet Networks:
„Da sich 70 Prozent der ‚Ausbildung‘ auf politische Umerziehung konzentriert, ist eines offensichtlich: Diese Programme sind Teil eines üblen Versuchs, den Tibeter*innen ‚das rote Gen‘ einzuflößen und sie zu Peking-treuen Bürgern zu formen. Wir fordern die chinesischen Behörden auf, die politische Indoktrination der Tibeter*innen auf allen Ebenen sofort einzustellen.”
1 Die Tibet Advocacy Coalition wurde 2013 vom International Tibet Network, dem Tibet Justice Center und Students for a Free Tibet gegründet. Ziel ist es, koordinierte Strategien und Monitoring-Tools zu entwickeln sowie Berichte zu verfassen, um auf die Situation in Tibet im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hinzuweisen. Die Koalition setzt sich aus dem International Tibet Network, dem Tibet Justice Center, Students for a Free Tibet, dem Verein Tibeter Jugend in Europa und der Tibet Initiative Deutschland zusammen. Die Tibet Advocacy Coalition arbeitet eng mit dem „Asylum and Human Rights Program“ der Universität Boston zusammen, welches die Koalition unterstützt und berät.
2 Diese Begriffe wurde in verschiedenen offiziellen Dokumenten verwendet, um die Ziele in Xinjiang zusammenzufassen und gilt gleichermaßen für die Strategien der KPCh in Tibet. Zitiert von Adrian Zenz in „Break Their Roots: Evidence for China’s Parent-Child Separation Campaign in Xinjiang“, im Journal of Political Risk, Vol. 7, No. 7, July 2019, http://www.jpolrisk.com/break-their-roots-evidence-for-chinas-parent-child-separation-campaign-in-xinjiang/#_ftn145. Zenz zitierte unter anderem einen Artikel auf der Website der Regierung von Kashgar in Xinjiang vom 2. März 2018, dieser ist archiviert unter: https://web.archive.org/web/20180813115300/http://www.kashi.gov.cn/Government/PublicInfoShow.aspx?ID=2851. Siehe auch Human Rights Watch, „Eradicating Ideological viruses“, 9. September 2018, https://www.hrw.org/report/2018/09/09/eradicating-ideological-viruses/chinas-campaign-repression-against-xinjiangs#_ftn232
3 24. März 2019, http://epaper.chinatibetnews.com/xzrb/html/2019-03/24/content_881798.htm
4 https://chinese-leaders.org/wu-yingjie/
5 Radio Free Asia, „China’s New ‘Ethnic Unity Law’ is Seen as Effort to Sinicize Tibetan Culture“, 1. Mai 2020: https://www.rfa.org/english/news/tibet/law-05012020182336.html
Last modified: 29. März 2022